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konkreten moralischen Problemkonstellationen wirklich eine Orientierungshilfe beisteuern könnte. Dies ist aber auch nicht sein Zweck in Deweys Theoriekonstruktion.
Seine Funktion besteht stattdessen vor allem auch darin, durch die Betonung des
Umstands, dass sich das Selbst immer in Interaktion mit seiner sozialen Umwelt bildet244, eine Verbindung zwischen individuellen und gemeinschaftlichen Interessen
und Zielsetzungen herzustellen.
5. Die Frage des Relativismus
Wie gezeigt folgt aus dem prozeduralen Charakter von Deweys pragmatistischer
Moralphilosophie, dass sie lediglich ein rationales Verfahren angeben kann, vorhandene Werte am effektivsten zur Geltung zu bringen. Demgegenüber ist sie nicht imstande, selbst Werte zu begründen oder Kriterien dafür anzugeben, welche Werte
Vorrang vor anderen genießen sollten. Man hat der pragmatistischen Wertphilosophie deshalb vorgeworfen, inhaltsleer zu sein und einem schrankenlosen Werterelativismus das Wort zu reden245. Aus der Ablehnung eines Wertabsolutismus und dem
Verzicht auf ethische Letztbegründungen allerdings den Schluss zu ziehen, die
pragmatistische Ethik sei letztlich subjektivistisch und mache Werte zu einer reinen
Glaubenssache246, ist jedoch verfehlt.
a) Die Objektivität moralischer Werte
Dem Pragmatismus ging es gerade nicht darum, Wertentscheidungen zu einer subjektiven Privatangelegenheit zu erklären, die sich objektiver Nachprüfbarkeit entzieht. Sein Anliegen bestand im Gegenteil gerade darin, auch Wertfragen wieder einer wissenschaftlichen Behandlung zugänglich zu machen. Anders jedoch als etwa
Kant, sah er das Kriterium für Wissenschaftlichkeit nicht darin, dass vernunftnotwendige Prinzipien begründet und daraus dann deduktiv konkrete Handlungsanleitungen abgeleitet werden. Ein derartiges Verlangen nach Letztbegründung ist für
Dewey lediglich Ausdruck jener „Suche nach Gewissheit“, die aus pragmatistischer
Sicht ohnehin zur Erfolglosigkeit verurteilt ist und daher aufgegeben werden sollte.
Aufgabe einer pragmatistischen Ethik kann es deshalb nicht sein, in rationalistischer
Manie quasi aus dem Nichts heraus ein Wertesystem zu erschaffen. Ein solches Unterfangen wäre ebenso sinnlos wie Descartes’ Versuch, durch radikalen Zweifel zu
einem Fundament absolut sicheren Wissens zu gelangen.
244 "Selfhood is not something which exists apart from association and intercourse.“, Dewey
LW 7.298 (TML).
245 Vgl. z.B. Löffelholz (1961) S. 52 f.; Rea-Frauchiger (2006) S. 29; Reich (1967) S. 40 ff.;
Tamanaha (2006) S. 63 f.
246 So aber Rea-Frauchinger (2006), S. 29; Reich (1967) S. 41.
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Der radikale cartesianische Zweifel ist für den Pragmatisten auch in der Ethik fehl
am Platz. Was Peirce dazu für die Erkenntnistheorie postulierte, nämlich dass wir
bei der Erforschung einer konkreten Frage gar nicht anders können als von unserem
bisher angesammelten Erfahrungswissen auszugehen, ohne dass wir diesbezüglich
über einhundertprozentige Gewissheit seiner Richtigkeit verfügen247, diese Umkehrung der Beweislast zu Lasten des Skeptikers gilt für Dewey ebenso in der Ethik.
Moralische Entscheidungen werden nie in einem ethischen Vakuum sondern immer
schon vor dem Hintergrund eines bereits bestehenden Systems von Werten, Prinzipien und Regeln getroffen. Diese verkörpern einen Bestand moralischen Erfahrungswissens und müssen nur bei Bestehen eines konkreten Zweifels einer kritischen Überprüfung unterzogen werden. Da die Aufgabe der Ethik für Dewey darin
besteht, konkrete moralische Fragestellungen vor dem Hintergrund eines bestehenden Systems von Werten und Prinzipien zu beurteilen, ist eine Rechtfertigung der
Existenz dieses Systems im Ganzen genauso wenig erforderlich, wie die Physik genötigt ist, für die Erklärung natürlicher Phänomene die Existenz einer äußeren Realität zu beweisen248. Letztbegründungen sind für den Pragmatismus folglich in der
Ethik ebenso entbehrlich wie in der Naturwissenschaft.
Der Vorwurf des Relativismus verfehlt letztlich den Anspruch der pragmatistischen Ethik. Sie will gar kein ethisches System begründen, sondern geht zunächst
von der Vielfalt an Werten und moralischen Überzeugungen aus, die sie in der sozialen Wirklichkeit vorfindet. Sie erhebt lediglich den Anspruch, einen Weg zu weisen, wie diese Überzeugungen im konkreten Einzelfall am Besten zur Geltung gebracht werden können, was nicht ausschließt, dass dabei auch einzelne Aspekte unserer Überzeugungen einer Revision unterzogen werden. Deshalb beharrt der Pragmatismus auch auf der konkreten Situiertheit moralischer Probleme. Die Lösung
moralischer Probleme ist für den Pragmatismus keine Frage der Subsumtion unter
ein vorher feststehendes System von Werten und Normen. Sie kann nicht von außen
an die problematische Situation herangetragen werden, sondern muss aus dieser heraus im Wege der moralischen Reflexion entwickelt werden, deren Ergebnisse sich
aber nicht schon im vorhinein voraussagen lassen, sondern jeweils von den Besonderheiten der konkreten Situation abhängen. Für Hilary Putnam ist diese Perspektive
einer situationsbezogenen Behandlung moralischer Fragen der entscheidende Vorzug der pragmatistischen Moralphilosophie: Wir mögen zwar nicht mehr in der Lage
sein, ein bestimmtes geschlossenes System ethischer Werte und Prinzipien zu begründen und zu rechtfertigen. Die Alternative besteht indes nicht in einem ethischen
Relativismus, nach dem alle denkbaren ethischen Systeme den gleichen Anspruch
auf Geltung beanspruchen können, weil keine rationalen Maßstäbe mehr vorhanden
sind. Der pragmatistische Ausweg aus diesem Dilemma besteht vielmehr darin,
nurmehr darauf abzustellen, dass die Lösungen moralischer Fragen der konkreten
Situation angemessen sind und nicht mehr darauf, dass sie von einem absoluten
247 Vgl. dazu oben S. 25 f.; dazu auch Putnam (2002) S. 236.
248 Welchman (1995) S. 136..
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Standpunkt aus gerechtfertigt werden können249. Dewey hat diese Position auf die
Formel gebracht, dass jede Situation “ihr eigenes, unersetzbares Gutes besitze”250.
Die Ergebnisse des moralischen Reflexionsprozesses haben daher auch nur für
die jeweilige Situation Gültigkeit. Ebensowenig wie apriorische Notwendigkeit beanspruchen sie für sich Universalität. Wie in der naturwissenschaftlichen Forschung
geht es also nicht um absolute Wahrheiten, sondern lediglich um “warranted assertibility”, also rechtfertigbare Behauptbarkeit. Moralisch richtig ist demnach diejenige
Handlung, die in einer konkreten Problemsituation nach umfassender Reflexion ihrer Motive und Konsequenzen die besten Gründe für sich beanspruchen kann.
b) Die Kontextabhängigkeit moralischer Objektivität
Wenn es nicht mehr um moralische Wahrheit in einem absoluten Sinn, sondern nur
noch um Rechtfertigung geht, wird dadurch allerdings die Frage aufgeworfen, vor
wem sich die moralischen Akteure denn rechtfertigen müssen. Welches ist das Auditorium, das ja dann auch die Maßstäbe und Kriterien festlegt, die an die Rechtfertigung anzulegen sind?
Anders als die Diskurstheorie, für die moralische Wahrheit ebenfalls mit Rechtfertigung gleichzusetzen ist, verzichtet der Pragmatismus auf den transzendentalen
Maßstab etwa einer idealen Kommunikationsgemeinschaft, wie ihn die Diskursethik
voraussetzt251. „Warranted assertibility“ stellt stattdessen auf die Rechtfertigung innerhalb der konkreten, real existierenden Gemeinschaft ab, innerhalb der sich der
Akteur bewegt. Das heißt auch, die Rechtfertigung erfolgt immer in einem spezifisch situierten Kontext. Dewey betont diese Kontextabhängigkeit unserer Rechtfertigungspraxis an zahlreichen Stellen, etwa wenn es an einer Stelle der „Logic“ von
1938 heisst:
„Neither inquiry nor the most abstractly formal set of symbols can escape from the cultural
matrix in which they live, move or have their being.“252.
Am Ende dieses Buches weist Dewey nochmals darauf hin, dass “all inquiry proceeds within a cultural matrix which is ultimately determined by the nature of social
relations”253. Dies gilt besonders für Forschungsprozesse, die die Moral und damit
die Bildung eines kohärenten Selbst betreffen: “Selfhood is not something which
exists apart from association and intercourse”. In diesem Bezug auf eine konkrete
249 Putnam (2004) S. 129.
250 Dewey MW 12.173 (RiP).
251 Dazu Apel (1973) Bd. 2, S. 423 ff.
252 Dewey LW 12.28 (Log).
253 Dewey LW 12.481 (Log). Dazu auch Stuhr (2002) S. 279.
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Gemeinschaft liegt so auch bei Deweys Reflexionstheorie der Moral noch ein quasikommunitaristisches Element254.
Richard Rorty hat aus dieser Kontextgebundenheit unserer moralischer Rechtfertigungspraktiken den Schluss gezogen, wir seien bei der Beurteilung dessen, was
moralisch richtig und falsch ist, notwendigerweise in einem Ethnozentrismus befangen, weil wir die Maßstäbe der Rechtfertigung nur unserer eigenen Kultur entnehmen können255. Dies würde bedeuten, dass aus dem Pragmatismus zwar kein völliger Relativismus folgt in dem Sinne, dass schlechthin jede moralische Position zu
rechtfertigen wäre, sehr wohl jedoch ein Kulturrelativismus, weil die Standards der
Rechtfertigung dann von der historisch kontingenten Kommunikationspraxis der jeweiligen Kultur abhingen256.
Auch Putnam ist der Auffassung, dass unsere Standards der Rechtfertigung
zwangsläufig nur die unserer eigenen, historisch kontingent gewachsenen, Kultur
sein können. Anders als Rorty legt er jedoch den Schwerpunkt auf die Feststellung,
dass unsere moralischen Urteile gleichwohl in Bezug auf eine konkrete Situation in
einem konkreten Kontext objektiv gültig sein können. Die Pointe des pragmatistischen Standpunkts besteht für ihn in der Einsicht, dass wir nicht zwischen den Alternativen einer absoluten Konzeption ethischer Wahrheit einerseits und dem ebenso
absoluten Relativismus, wonach sich moralische Urteile gar nicht mehr objektiv begründen lassen, andererseits, zu wählen haben, sondern dass ein absoluter Standpunkt gar nicht notwendig ist, um unsere konkreten moralischen Probleme rational
behandeln und einer objektiven Lösung zuführen zu können257. Denselben Punkt betont auch Dewey, wenn er die Schlussfolgerung zurückweist, kontextabhängige
Werte seien aus eben diesem Grund normativ unbeachtlich. Aus dieser Kontextabhängigkeit folge lediglich die Verpflichtung, diese Werte stets aufs Neue dahingehend zu überprüfen, ob sie der aktuellen Situation noch angemessen seien258.
Somit ist es zwar richtig, dass die normativen Standards der pragmatistischen
Ethik kontextgebunden und damit letztlich auch (kultur-)relativ sind. Daraus lässt
sich jedoch nicht in der Schluss ziehen, im Pragmatismus seien keine objektiven
moralischen Urteile möglich. Indem er die Möglichkeit der moralischen Objektivität
in der situationsgebundenen intersubjektiven Rechtfertigung verortet, nimmt der
Pragmatismus dem Relativismusargument (dem ja aus pragmatistischer Sicht ohnehin das höchst fragwürdige Verlangen nach moralischer Letztbegründung zugrunde
liegt, also nach dem einem absoluten Maßstab, an dem jedes moralische Entscheidungsproblem gemessen werden kann) so seine kritische Spitze.
254 Vgl. auch Dewey LW 7.298 (TML): “Selfhood is not something which exists apart from
association and intercourse”. Zum kommunitaristischen Einschlag von Deweys Ethik vgl.
auch Welchman (1995) S. 198 f.; Fesmire (2003) S. 9 ff.; Jörke (2003) S. 184 ff.
255 Rorty (1988) S. 15 f.; 26 ff.
256 Zum Kulturrelativismus bei Rorty vgl. v.a. Putnam (2002) S. 98 ff; ders. (2004) S. 121 ff.;
Tietz (1995) S. 205 ff.
257 Putnam (2002) S. 45; ders. (2004) S. 129.
258 Dewey LW 7.283 (TML).
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6. Probleme des moralischen Prozeduralismus
Der Einwand, die pragmatistische Ethik sei relativistisch und vermöge deshalb die
Möglichkeit einer wissenschaftlich objektiven Behandlung moralischer Fragen nicht
zu verbürgen, erwies sich somit als nicht durchschlagend. Der moralische Prozeduralismus begegnet jedoch noch vier anderen triftigen Einwänden. Deren erster lautet,
dass Deweys Ethik Probleme hat, Kriterien für die richtige Durchführung der moralischen Deliberation anzugeben. Fraglich ist außerdem, ob der pragmatistische Prozeduralismus auch dort weiter hilft, wo es an einem gemeinsamen kulturellen Kontext der Beteiligten fehlt oder wo existenzielle Entscheidungen getroffen werden
müssen. Darüber hinaus lässt sich fragen, ob der Prozeduralismus der pragmatistischen Ethik nicht so strukturiert ist, dass er zahlreiche Möglichkeiten ethischer Argumentation von vornherein ausschließt. Der vierte Einwand schließlich betrifft die
grundlegende Prämisse der pragmatistischen Moralphilosophie, dass die Behandlung
moralischer Probleme nur einen Sonderfall des allgemeinen Forschungsprozesses
darstellt.
a) Das Kriterienproblem
Die entscheidende Frage für einen moralischen Prozeduralismus lautet, welchen Anforderungen die moralische Reflexion genügen muss, damit ihre Resultate den Status einer “warranted assertibility” für sich beanspruchen können. Der Ablauf der
moralischen Reflexion entspricht in seiner Abfolge von Situationserfassung, Bestimmung der möglichen Handlungsalternativen, Erfassung und schließlich Abwägung der Handlungskonsequenzen dem allgemeinen Forschungsprozess259. Gerade
beim letzten Punkt zeigen sich jedoch die Schwächen von Deweys prozeduralistischer Ethik. Die Abwägung und Bewertung der Konsequenzen wird nämlich oftmals
der schwierigste Punkt im Verfahren der moralischen Urteilsbildung sein, weil hier
unterschiedliche Wertvorstellungen und Standards der Beteiligten aufeinanderprallen. Umso wichtiger wäre es, näher zu konkretisieren, welchen Anforderungen dieser Abwägungsprozess genügen muss. Deweys Angaben hierzu bleiben jedoch in
Anbetracht der zentralen Rolle, die das Verfahren der moralischen Urteilsbildung in
seiner Ethik einnimmt, leider eher knapp. Am aufschlussreichsten sind noch Deweys
Ausführungen zum Wesen moralischer Deliberation in “Theory of the Moral Life”.
Danach besteht sie im wesentlichen aus dem gedanklichen Durchspielen der verschiedenen Handlungsalternativen260. So sollen im Wege des Gedankenexperiments
die möglichen Konsequenzen der Handlungsoptionen umfassend ermittelt werden.
Weitgehend offen bleibt bei Dewey aber die entscheidende Frage, nach welchen
259 Vgl. die Ausführungen Deweys zur Natur der Sozialforschung, LW 12.492 ff. (Log).
260 “Deliberation is actually an imaginative rehearsal of various courses of conduct.”, Dewey
LW 7.275 (TML).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Der klassische Pragmatismus steht für einen amerikanischen Sonderweg in die philosophische Moderne. Auch die Entwicklung des amerikanischen Rechtsdenkens wurde durch den Pragmatismus von C.S. Peirce und John Dewey bis heute maßgeblich geprägt. Strömungen wie der "Legal Realism" oder die "Economic Analysis of Law" wären ohne das gedankliche Fundament der pragmatistischen Philosophie nicht denkbar.
Das Buch zeichnet den Einfluss des Pragmatismus auf die amerikanische Rechtstheorie über einen Zeitraum von 150 Jahren von Oliver Wendell Holmes" "The Common Law" bis zum modernen "Legal Pragmatism" eines Richard Posner nach. Der Verfasser veranschaulicht zudem den engen Zusammenhang, der zwischen der pragmatistischen Rechtstheorie und einem deliberativen Demokratieverständnis besteht. Für die Frage, wie das Spannungsverhältnis zwischen dem Willen des demokratischen Gesetzgebers und der Autonomie des Rechtssystems aufzulösen ist, kann der Pragmatismus neue Perspektiven liefern. Deshalb ist es lohnend, sich auch auf dem alten Kontinent mit ihm auseinanderzusetzen.