142
"The problem of democracy becomes the problem of that form of social organization, extending to all the areas and ways of living, in which the powers of individuals shall not be merely
released from mechanical external constraint but shall be fed, sustained and directed."436.
Es geht also darum, aus der "Great Society" nunmehr eine "Great Community" werden zu lassen437. Dazu aber bedarf der Liberalismus vor allem auch der Ergänzung
um eine Demokratietheorie, die der identitäts- und gemeinschaftsstiftenden Kraft
demokratischer Willensbildungsprozesse besser gerecht wird, als das auf Majoritätsprinzip und Machtkontrolle reduzierte Demokratieverständnis des klassischen
politischen Liberalismus.
Wie sieht nun aber Deweys Alternative zum klassischen Liberalismus konkret
aus? Bei der Lektüre von Deweys Arbeiten zur politischen Theorie stellt sich heraus,
dass zwar Deweys Kritik und Ablehnung des Liberalismus bereits in seinen frühen
Schriften Gestalt angenommen hatte, dass aber seine Vorstellung davon, welches
alternative Verständnis von Freiheit und Demokratie ihn ersetzen sollte, sich im
Laufe der Zeit erheblich gewandelt hat. Während Dewey zu Beginn seine Begriffe
von Freiheit und Demokratie noch ausschließlich aus seiner Moraltheorie ableitete,
die um den zentralen Begriff des "Wachstums" ("growth") der individuellen Persönlichkeit kreiste, verstanden sowohl als ein Recht auf als auch als normative Pflicht
zur individuellen Selbstverwirklichung, kam in seinen späteren Arbeiten ein weiterer
Begründungsstrang hinzu: Dewey betonte nun die Überlegenheit demokratischer
Willensbildungsprozesse bei der Erkenntnis und Bewältigung sozialer Probleme. An
die Seite eines primär ethisch gerechtfertigten Demokratiekonzepts trat so eine epistemologische Rechtfertigung der Demokratie.
4. Demokratie als Voraussetzung von "Self-Realization"
Deweys ethisch fundierte Demokratietheorie nimmt ihren Ausgangspunkt von seiner
Moralphilosophie, die den Begriff der "Self-Realization" in den Mittelpunkt stellt438.
Auf seiner Grundlage versucht Dewey, den zentralen Wert des Liberalismus, die
Freiheit, neu zu bestimmen.
a) Deweys Neubestimmung des Freiheitsbegriffs
Für den klassischen Liberalismus war Freiheit vor allem die Abwesenheit von äußerem Zwang, der das individuelle Handeln hätte einengen können. Doch für Dewey
war diese negative Interpretation des Freiheitsbegriffs zu eng und die Hauptursache
dafür, dass sich ein fehlgeleiteter Individualismus entwickeln konnte, der dazu führte, dass mit der Entstehung des kapitalistischen Wirtschaftssystems die individuelle
436 Dewey LW 11.25 (LSA).
437 Dazu Wegmarshaus (2001) S. 162 ff.
438 Dazu oben S. 84 ff.
143
Freiheit in erster Linie als Argument für die Abwehr staatlicher Eingriffe in das
Marktgeschehen herhalten musste439. Indem er Freiheit mit der Abwesenheit von
äußerem Zwang gleichsetzte, verkannte der Liberalismus nach Ansicht Deweys,
dass eine solche äußere Freiheit kein Selbstzweck, sondern ihrerseits nur ein Mittel
war:
"There can be no greater mistake, however, than to treat such freedom as an end in itself. It
then tends to be destructive of the shared cooperative activities which are the normal source of
order. But, on the other hand, it turns freedom which should be positive into something negative. For freedom from restriction, the negative side, is to be prized only as a means to a freedom which is power: power to frame purposes, to judge wisely, to evaluate desires by the consequences which will result from acting upon them; power to select and order means to carry
chosen ends into operation."440.
Die äußere Freiheit von Zwang erfasst somit für Dewey nur einen Teilaspekt des
Freiheitsbegriffs. Dem anderen Teil will Dewey einen positiven Gehalt geben. Es
geht nicht nur um Freiheit von etwas, sondern um Freiheit zu einem ganz bestimmten Zweck. Dieser Zweck besteht in dem Vermögen zu selbstbestimmtem Handeln:
"freedom ist the effective power to do specific things"441. Dabei geht es jedoch keineswegs um die Fähigkeit zu willkürlichem, völlig beliebigem Handeln, sondern um
"intelligent self-control"442. Wie bei Kant gehören auch bei Dewey Freiheit und
Vernunft notwendig zusammen. Freiheit bedeutet demnach das Vermögen zu einem
Handeln, das sich bewusst den Regeln der Vernunft unterwirft. Anders als bei Kant
werden diese Regeln jedoch nicht durch einen kategorischen Imperativ bestimmt,
sondern es sind die Regeln einer reflexiven, folgenorientierten Forschungslogik.
Diese handlungsleitende Vernunft steht wiederum im Dienst von "growth" und
"self-realization", dem normativen Fundament von Deweys Ethik. Freiheit ist folglich kein Wert an sich, sondern lediglich die notwendige Voraussetzung dafür, die
eigene Individualität bestmöglich entwickeln zu können. Freiheit ist somit gleichbedeutend mit "the power to be an individualized self"443. Ein Liberalismus, wie er
Dewey vorschwebte, musste bestrebt sein, die gesellschaftlichen Bedingungen dafür
zu schaffen, dass die Bürger ihre individuellen Potentiale optimal entfalten konnten.
So heißt es in "Liberalism and Social Action" von 1935:
"Liberalism is committed to an end that is at once enduring and flexible: the liberation of individuals so that realization of their capacities may be the law of their life."444.
439 Vgl. etwa Dewey LW 15.181 (Religion and Morality in a Free Society, 1942).
440 Dewey LW 13.41 (Experience and Education, 1938).
441 Dewey LW 11.360 (Liberty and Social Control, 1935).
442 Dewey MW 5.392 (TML).
443 Dewey LW 2.329 (PP). Dazu Festenstein (1997) S. 66 ff.
444 Dewey LW 11.41 (LSA).
144
b) Individuum und Gemeinschaft - Demokratie als "way of life"
Um dieses Ziel zu erreichen, war es jedoch nicht ausreichend, den Individuen lediglich möglichst weite Freiheitssphären abzustecken, in denen sie unberührt von äußeren Einflüssen ihre privaten Ziele verfolgen können. Anders als der klassische Liberalismus, der meinte, die Entfaltung der Individualität sei gleichsam Privatsache, deren Gestaltung vom Individuum autonom innerhalb seiner durch die Grundrechte
abgesicherten Freiheitsräume erfolgt, ist Dewey davon überzeugt, dass "Self-
Realization" notwendig ein Prozess ist, der in erster Linie in Interaktion mit der sozialen Umwelt erfolgen muss445. Ob und wie sich das Individuum frei entfalten kann
ist daher ganz entscheidend durch die politischen und sozialen Rahmenbedingungen
determiniert. In seiner frühen Arbeit über "The Ethics of Democracy" knüpft Dewey
hierfür noch an die Vorstellung vom Staat als eines Organismus an, der mehr ist, als
lediglich die Summe seiner Einzelzellen446. Danach existiert zwar der Staat für und
durch die Individuen, doch der einzelne Bürger wird nicht als ein isoliertes Subjekt
begriffen, sondern er gewinnt seine Identität dadurch, dass sich in ihm wie in jedem
einzelnen seiner Mitbürger der Geist und der Wille der Gemeinschaft verkörpert447.
Dieses noch stark unter dem Einfluss Hegels stehende organistische Staatsverständnis erfuhr in Deweys späteren Arbeiten jedoch eine grundlegende Transformation448.
Dewey sah nun den Staat nicht mehr als Organismus, sondern er begriff die Gemeinschaft der Staatsbürger als eine Assoziation von Individuen, die sich durch Prozesse der Kommunikation und Kooperation ihre politische und moralische Identität
gemeinsam erarbeiten449.
Für Dewey stand außer Frage, dass derartige Prozesse am besten in demokratischen Gesellschaften gedeihen können. Der Grund hierfür liegt darin, dass Demokratien ihrem Wesen nach darauf angelegt sind, umfassend die Kommunikation der
Bürger untereinander und die Partizipation am Gemeinwesen zu fördern. Was die
Demokratie für Dewey auszeichnet, ist nämlich nicht in erster Linie, dass sie den
Bürgern die Möglichkeit gibt, die wichtigsten politischen Amtsträger durch Wahl zu
bestimmen und gegebenenfalls auch wieder abzuwählen. Das wichtigste Merkmal
der Demokratie besteht für ihn vielmehr darin, dass sie zur Bildung eines umfassenden öffentlichen Kommunikations- und Kooperationsraumes beiträgt, in den jeder
Bürger sich einbringen kann450. Sie eröffnet den Bürgern am umfassendsten die
Möglichkeit, die Gemeinschaft in der sie Leben, aktiv mitzugestalten, denn sie beruht auf der Einsicht der Notwendigkeit von "participation of every mature human
445 "what the individual actually is in his life experience depends upon the nature and movement of associated life", Dewey 14.91 (I Believe, 1939). Vgl. dazu auch oben S. 85.
446 Dewey EW 1.234 ff. (ED).
447 Dewey EW 1.236 (ED).
448 In "Reconstruction in Philosophy" distanziert Dewey sich von der Organismus-Theorie, der
er nunmehr gleichfalls die Tendenz bescheinigt, den politischen Status-Quo zu bewahren
und sozialen Reformen im Weg zu stehen, Dewey MW 12.187 ff.
449 Vgl. dazu Westbrook (1991) S. 34 ff. Honneth (1999) S. 45 f.
450 Dazu Honneth (1999) S. 44 ff.
145
being in the formation of the values that regulate the living of men together". Die
Idee der Demokratie ist so für Dewey letztlich identisch mit der Idee des Gemeinschaftslebens überhaupt451. Die "Great Community" kann daher nur unter demokratischen Bedingungen verwirklicht werden.
Deweys Demokratietheorie erscheint so als Fortsetzung seiner Moralphilosophie.
Diese begriff "Self-Realization" ja vor allem im Sinne einer Entfaltung der Individualität in der Gemeinschaft, die durch deren Werte und Normen geleitet werden sollte. Da Dewey dies aber nicht als eine bloße Anpassung an einen sozialen Status Quo
verstanden wissen möchte, stellt sich die Frage, wie die gemeinschaftlichen Werte
und Normen bestimmt werden können, so dass trotzdem noch Platz für Freiheit und
individuelles Wachstum bleibt. Dafür schienen Dewey die demokratischen Ideale
der Selbstgesetzgebung der Bürger und ihrer möglichst umfassenden Partizipation
an der Gestaltung der normativen Ordnung die besten Voraussetzungen zu bieten.
Die politischen Partizipationsrechte des Bürgers waren so die Kehrseite seiner moralischen Verpflichtung zur individuellen Entfaltung innerhalb der Gemeinschaft:
"All those who are affected by social institutions must have a share in producing and managing them. The two facts, that each one is influenced in what he does and enjoys and in what he
becomes by the institutions under which he lives, and that therefore he shall have, in a democracy, a voice in shaping them, are the passive and active sides of the same fact."452.
Dewey liefert so eine letztlich moralisch fundierte Rechtfertigung der Demokratie: Sie ist die notwendige Voraussetzung dafür, dass die Individuen eine erfüllte
moralische Existenz führen können:
"Democracy has many meanings, but if it has a moral meaning, it is found in resolving that the
supreme test of all political institutions and industrial arrangements shall be the contribution
they make to the all-around growth of every member of society."453.
Demokratie ist in diesem Verständnis also wesentlich mehr als lediglich eine politische Organisationsform. Für Dewey ist Demokratie die Verkörperung eines Ideals
von Gemeinschaft, einer auf Partizipation und individueller Selbstentfaltung angelegten politischen Kultur, die nicht nur die politischen Institutionen im engeren Sinne, sondern auch alle anderen Formen menschlicher Assoziation, wie Familie, Wirtschaft und Religion umfasst, denn "an individual is nothing fixed, given ready-made.
It is something achieved, and achieved not in isolation but with the aid and support
of conditions, cultural and physical: -- included in cultural, economic, legal and political institutions as well as science and art."454. Demokratie ist für Dewey somit geradezu eine Lebensform, ein "way of life"455. Sie ist eine besondere Art und Weise,
Individualität im Kontext einer Gemeinschaft zu realisieren. Damit geht Deweys
451 Dewey LW 2.328 (PP).
452 Dewey LW 11.217-218 (Democracy and Educational Administration, 1937).
453 Dewey MW 12.186 (RiP).
454 Dewey LW 11.291 (The Future of Liberalism, 1937), ebenso LW 2.325 (PP).
455 "Democracy is a way of personal life controlled by a working faith in the possibilities of
human nature", LW 14.226 (Creative Democracy - The Task before us, 1940). Dazu auch
Wegmarshaus (2001) S. 159 ff.; Joas (1993) S. 60 f.; Stuhr (1993) S. 37 ff.
146
Theorie der Demokratie weit darüber hinaus, in ihr nur ein Gefüge von Institutionen
wie Parlamenten, dem Wahlrecht oder dem Schutz von Grundrechten zu sehen.
Stattdessen bezeichnet sie eine spezifische gemeinschaftliche Kultur, die ihre Bürger
wesentlich tiefer prägt und definiert als das politische Ordnungsmodell, in dem die
Demokratie für den Liberalismus aufgeht. An einigen Stellen geht Dewey dabei sogar so weit, dieser demokratischen Lebensform einen gleichsam religiösen Sinnstiftungsgehalt zuzusprechen456.
c) Die liberale Kritik an Dewey
Dewey verstand seine Demokratietheorie nicht als eine Alternative zum Liberalismus, sondern als eine modernisierte, an die Erfordernisse der Industriegesellschaft
angepasste Interpretation liberaler Grundwerte. Allerdings stieß seine Neuinterpretation bei liberalen Philosophen auf wenig Gegenliebe.
Die Liberalen stimmte insbesondere skeptisch, dass Dewey versuchte, die politische Ordnung auf das Fundament einer ethischen Theorie der Individualität zu stellen. Er stellt so einen Zusammenhang her zwischen der Frage nach einer gerechten
politischen Verfassung und der Frage nach dem ethisch Guten. Er selbst behauptet
in "Reconstruction in Philosophy" von seiner Sozialphilosophie: "The old-time separation between politics and morals is abolished at its root."457. Doch gerade diese
Trennung von Politik und Moral macht den Kern des politischen Liberalismus aus.
Der Liberalismus beruht auf dem Gedanken der moralischen Autonomie des Individuums. Das bedeutet, dass es die Individuen selbst sind, denen die Aufgabe obliegt,
die moralischen Ziele ihres Lebens festzulegen. Der Entwurf und die Verwirklichung eines Ideals des "Guten Lebens" ist danach zunächst einmal eine Privatangelegenheit der Bürger. Dem Staat kommt lediglich die Aufgabe zu, den Bürgern einen
größtmöglichen Freiheitsspielraum für ihre moralische Entfaltung zu sichern, den
diese dann beliebig nutzen können, so lange sie dabei nicht mit den Freiheitssphären
ihrer Mitbürger in Konflikt kommen. Der Staat ist nach liberalem Verständnis zu
größtmöglicher moralischer Neutralität verpflichtet, er soll den Bürgern nicht vorschreiben, nach welchen moralischen Wertvorstellungen sie ihre Lebensführung
auszurichten haben458. Er zieht durch das System der Rechte die Grenzen, innerhalb
derer sich die moralische Lebensgestaltung seiner Bürger vollziehen kann. Von die-
456 So spricht Dewey an einer Stelle etwa von "the religious values implicit in our common
life, especially in moral significance of democracy as a way of living together", LW 14.79
(Experience, Knowledge and Value. A Rejoinder, 1939). Zu dieser eigentümlichen "Sakralisierung der Demokratie" bei Dewey vgl. Joas (2000) S. 139 ff., 153 ff.
457 Dewey MW 12.192 (RiP). Für Dewey war es zwingend, dass nicht nur die politische Philosophie, sondern jede Form durch ein Ideal des "Guten Lebens" angeleitet werden müsse:
"failure to employ the known facts of the period in support of a certain estimate of the
proper life to lead would show lack of any holding and directing force in the current social
ideal", Dewey MW 11.45 (PD)
458 Vgl. dazu Talisse (2005) S. 17 ff.
147
sen verlangt er auch lediglich, dass sie diese Grenzen respektieren, indem sie ihr äu-
ßerliches Handeln daran ausrichten, nicht jedoch, dass sie bestimmte Wertvorstellungen teilen, die diesen Gesetzen zugrunde liegen mögen. John Rawls hat diesen
Wesenszug des politischen Liberalismus prägnant auf die Formel des "Vorrangs des
Rechten vor dem Guten" gebracht459.
Wenn Dewey nun vom Staat mehr verlangt als nur die Gewährleistung von Freiheitssphären, nämlich die aktive Förderung der moralischen Entwicklung, so liegt
der Schluss nahe, dass damit notwendig die moralische Neutralität des Staates aufgegeben werden muss. Denn wie kann der Staat die moralische Entwicklung der
Bürger steuern und fördern460, wie Dewey es im Sinne hat, ohne eine Vorstellung
davon zu haben, in welche Richtung diese Entwicklung verlaufen soll? Zwar scheint
auf den ersten Blick "Self-Realization" als moralische Zielvorgabe so abstrakt und
offen für verschiedene Lebensentwürfe zu sein, dass auch aus Sicht des politischen
Liberalismus keine Einwände dagegen erhoben werden können. Schließlich hatten
auch liberale Klassiker wie John Stuart Mill die individuelle Selbstverwirklichung
als das letztendliche Ziel beschrieben, an dem sich die politische Ordnung zu orientieren hätte461. Doch indem Dewey Individualität und Self-Realization als etwas betrachtete, was sich in erster Linie in Interaktion und Kooperation mit anderen vollzog, räumte er der Gemeinschaft sozusagen ein entscheidendes Mitspracherecht
beim Prozess der moralischen Selbstwerdung ein, das über die bloße Festlegung
rechtlicher Schranken deutlich hinausging.
Traditionelle Liberale witterten bei Deweys ethischer Demokratiekonzeption daher die Gefahr, dass Freiheit und Individualität der Bürger eingeschränkt werden,
weil die normative Festlegung auf "Self-Realization" im Sinne Deweys einen Eingriff in die moralische Autonomie der Individuen bedeute462. Für sie lag der Sinn
politischen Handelns nicht darin, eine "Great Community" zu schaffen, stattdessen
wollten sie sich mit der "Great Society" des liberalen Nachtwächterstaates begnügen, weil nur dieses Modell in ihren Augen wirklich geeignet war, die größtmögliche private Autonomie der Bürger zu garantieren.
Deweys Liberalismus unterscheidet sich vom klassischen liberalen Denken auch
darin, dass die Begründung und Festlegung von Grundrechten, denen in der liberalen Theorie traditionell eine herausragende Bedeutung zukam, bei ihm kaum erörtert
wird. Dewey hält zwar liberale Errungenschaften wie das Recht auf freie Meinungs-
äußerung, Vereinigungsfreiheit usw. für selbstverständliche Bestandteile einer demokratischen Gesellschaft, doch dem Konzept unveräußerlicher Rechte steht er eher
skeptisch gegenüber463. Zum einen deshalb, weil die Idee von Rechten, die bereits
459 Vgl. hierzu etwa Rawls (1992) S. 364 ff.; ders. (1998) S. 266 ff.
460 Vgl. Dewey LW 11.25 (LSA): "the powers of individuals shall not be merely released from
mechanical external constraint but shall be fed, sustained and directed".
461 "the only freedom which deserves the name ist hat of pursuing our own good in our own
way", Mill (1859) S. 17.
462 Vgl. etwa die Kritik von Hayek in ders. (1960) S. 424 f., dazu auch Festenstein (1997) S.
70 f.
463 Vgl. etwa Dewey LW 11.6 ff.(LSA); 11.289 ff (The Future of Liberalism, 1937).
148
vor jeder Form konkreter politischer Gemeinschaft und unabhängig von dieser bestehen sollen, ihm wie eine metaphysische Kopfgeburt anmutet, die an der empirischen Wirklichkeit des Menschen vorbei geht, der zu jedem Zeitpunkt immer schon
in soziale Beziehungen eingebettet und durch diese geformt wird464. Zum anderen ist
es vor dem Hintergrund von Deweys pragmatistischer Erkentnnistheorie nicht verwunderlich, dass aus deren Perspektive eines metaphysischen Antifundamentalismus
unverfügbare, universelle und zeitlos gültige Freiheitsrechte als Artefakte einer
überkommenen Apriori-Philosophie erscheinen465, die sich dazu missbrauchen lassen, die wirtschaftlichen Interessen einer privilegierten Klasse zu schützen, indem
etwa Eigentum und unternehmerische Freiheit zu sakrosankten Grundrechten hypostasiert werden466. Wer mit dem Pragmatismus die "Suche nach Gewissheit" aufgeben will, muss auch in der politischen Philosophie den Anspruch auf absolute Werte
und unbedingte Normen preisgeben. Allerdings führen der pragmatistische Antifundamentalismus und seine Betonung der Notwendigkeit ständiger evolutionärer Anpassung an eine sich dynamisch verändernde Umwelt dazu, dass es schwierig bis
unmöglich wird, politische Institutionen überhaupt noch zu legitimieren und zu begründen. Institutionen wie Grundrechte, der Rechtsstaat oder das allgemeine Wahlrecht können aus pragmatistischer Sicht nicht mehr ohne weiteres eine universelle,
zeitlose Gültigkeit für sich beanspruchen. Sie erscheinen zunächst als gesellschaftliche Anpassungsleistungen, die aus kontingenten historischen Erfordernissen hervorgegangen sind467, und die ebenso wieder über Bord geworfen werden können und
müssen, wenn veränderte Zeitumstände dies erforderlich machen. Seine Betonung
des Dynamischen und Wandelbaren macht es für den Pragmatismus wesentlich einfacher, Institutionen zu kritisieren als sie zu begründen.
Sieht man nun aber die Aufgabe politischer Philosophie nicht zuletzt auch darin,
einen institutionellen Rahmen zu beschreiben und zu begründen, in dem sich die politische Willensbildung und Machtausübung abspielen, so scheint der Pragmatismus
Deweys in dieser Hinsicht wenig zu bieten zu haben. Vielmehr drängt sich der Verdacht auf, dass die bisweilen reichlich blumig ausfallende Betonung von demokratischer Kultur und demokratischer Ethik mit einer Vernachlässigung, ja fast schon
Geringschätzung der institutionellen Rahmenbedingungen einhergeht, die diese Kultur erst möglich machen. So bleibt als wesentlicher Einwand gegen Deweys Demokratietheorie vorerst festzuhalten, dass er keine zufrieden stellende Theorie der politischen Institutionen liefern kann.
464 Dazu bereits oben S. 146 f.
465 Vgl. etwa Dewey LW 11.15 (LSA): "Natural rights and natural liberties exist only in the
kingdom of mythological social zoology."
466 Dewey LW 11.289 f. (The Future of Liberalism, 1937).
467 Vgl. etwa Deweys Ausführungen zur historischen Bedingtheit der Werte des klassischen
Liberalismus in LW 11.6 ff. (LSA).
149
d) Ethisch fundierte Demokratietheorie und pragmatischer Instrumentalismus
Soweit Dewey seine Demokratietheorie auf das ethische Fundament des Konzepts
der "Self-Realization" gründen möchte, ergibt sich zudem noch das Problem, dass
sich der pragmatistische Antifundamentalismus auch gegen die moralischen Prämissen von Deweys eigener Demokratietheorie wenden lässt. Denn ebenso wie in seiner
Moralphilosophie468 stellt sich auch hier die Frage, ob sich das normative Konzept
der Self-Realization vor dem Hintergrund des pragmatistischen Skeptizismus gegenüber Metaphysik und absoluten Werten überhaupt rechtfertigen lässt. Ebenso wie
unter den Auspizien einer pragmatistischen Erkenntnistheorie die natürlichen Freiheitsrechte des klassischen Liberalismus keine apriorische Geltung beanspruchen
können, kann dies auch das normative Konzept der "Self-Realization" nicht. Die naturalistische Metaphysik, der es entspringt, hält pragmatistischer Kritik ebenso wenig stand wie die liberale Naturrechtslehre. Nimmt man die pragmatistische Metaphysikkritik ernst, wie gerade Dewey sie etwa in "The Quest for Certainty" entschieden propagiert hat, so stellt sich sogar ganz grundlegend die Frage, inwieweit
das Projekt einer Begründung oder Rechtfertigung der Demokratie überhaupt noch
einen Sinn ergeben kann469.
Diesen Widerspruch zwischen epistemologischen und ethischen Prämissen hat
Dewey im Bereich seiner Moralphilosophie dadurch entschärft, dass er den Begriff
der Self-Realization seiner teleologischen Bedeutung entkleidete und stattdessen den
Wert des Selbstrealisierungsprozesses als solchem betonte. Damit verschob sich die
Fragestellung von dem Problem, wohin der Prozess der Self-Realization führen sollte, dahin, unter welchen Regeln und Bedingungen er sich vollziehen sollte. Diese
Regeln und Bedingungen entnahm Dewey dann seiner Theorie der Forschung. Das
Spannungsverhältnis zwischen seiner Epistemologie und seiner Ethik löste Dewey
dadurch, dass er das Verfahren moralischer Entscheidungsfindung am Vorbild des
wissenschaftlichen Forschungsprozesses orientierte. Und wie in der Wissenschaft
war nun nicht mehr entscheidend, wohin dieser Prozess letztlich führte, sondern entscheidend war das Wachstum an persönlicher Erfahrung, das er mit sich brachte.
Für Deweys Demokratietheorie lässt sich eine ganz ähnliche Verlagerung der
Schwerpunkte feststellen. Auch wenn die individuelle Self-Realization stets den
normativen Bezugspunkt bildete, konzentrierte sich Deweys Interesse zunehmend
auf die Verfahrensbedingungen der Demokratie, auf die Frage, wie demokratische
Öffentlichkeiten eine gemeinschaftsstiftende Wirkung entfalten können. So wie den
Prozess der moralischen Selbstentfaltung begriff Dewey auch die Demokratie als
einen "process without purpose"470. Und ebenso wie in seiner Moralphilosophie kristallisierte sich auch in der Demokratietheorie in Deweys späteren Arbeiten die Ein-
468 Dazu oben S. 87 f.
469 Richard Rorty etwa zieht die Konsequenz einer strikten Trennung von Philosophie und
Demokratie, und erklärt letztere für weder begründungsfähig noch begründungsbedürftig.
Siehe dazu ausführlich unten S. 213 ff.
470 Diggins (1994) S. 303.
150
sicht heraus, dass die demokratischen Verfahren nicht Mittel zur Realisierung eines
statisch vorgegebenen normativen Endzwecks sind, sondern dass ihre spezifische
Praxis selbst den normativen Eigenwert der Demokratie ausmacht.
5. Demokratie als Verfahren kooperativer öffentlicher Problemlösung
In Deweys politischem Denken finden sich zwei unterschiedliche Theorien der Demokratie. Zum einen eine normative, wonach die Demokratie der Förderung der moralischen "Self-Realization" der Bürger dient, zum anderen eine vor allem in Deweys späteren Arbeiten ausgearbeitete prozedurale, die in der Demokratie in erster
Linie ein durch seine Rationalität ausgezeichnetes Verfahren kooperativer öffentlicher Problemlösung sieht.
a) Deweys Begriff der Öffentlichkeit
In "The Public and its Problems" von 1926, Deweys wahrscheinlich wichtigstem
Beitrag zur politischen Philosophie, bringt er den Unterschied zwischen klassischen,
an Institutionen orientierten Demokratietheorien und einem prozeduralen Demokratieverständnis wie folgt auf den Punkt:
"Majority rule, just as majority rule, is as foolish as its critics charge it with being. But it never
is merely majority rule. .... The means by which a majority comes to be a majority is the more
important thing ... the essential need ... is the improvement of debate, discussion and persuasion"471.
Es sind demnach weniger die durch die Verfassung festgelegten politischen Institutionen, als vielmehr die besonderen Prozesse der politischen Meinungsbildung, die
für die Demokratie wesentlich sind. Sie prägen das, was Dewey als die "demokratische Lebensweise"472 bezeichnet. Was zeichnet diese demokratischen Meinungsbildungsprozesse nun aus?
Die Beantwortung dieser Frage setzt einen Blick auf jenen Begriff voraus, dem
für Deweys Demokratietheorie eine ganz zentrale Bedeutung zukommt, nämlich den
der Öffentlichkeit. Ihrer Untersuchung und der Beschreibung ihrer Funktionsweisen
hat Dewey viel Raum gewidmet. Öffentlichkeit entsteht für ihn zwangsläufig immer
dort, wo es um Handlungen geht, die nicht nur die einzelnen an dieser Handlung beteiligten Individuen, sondern einen breiteren Kreis von Personen betreffen:
"the line between private and public is to be drawn on the basis of the extent and scope of the
consequences of acts which are so important as to need control, whether by inhibition or by
promotion"473.
471 Dewey LW 2.365 (PP).
472 Dazu Westbrook (1991) S. 248 f., sowie oben Fn. 454.
473 Dewey LW 2.245 (PP).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Der klassische Pragmatismus steht für einen amerikanischen Sonderweg in die philosophische Moderne. Auch die Entwicklung des amerikanischen Rechtsdenkens wurde durch den Pragmatismus von C.S. Peirce und John Dewey bis heute maßgeblich geprägt. Strömungen wie der "Legal Realism" oder die "Economic Analysis of Law" wären ohne das gedankliche Fundament der pragmatistischen Philosophie nicht denkbar.
Das Buch zeichnet den Einfluss des Pragmatismus auf die amerikanische Rechtstheorie über einen Zeitraum von 150 Jahren von Oliver Wendell Holmes" "The Common Law" bis zum modernen "Legal Pragmatism" eines Richard Posner nach. Der Verfasser veranschaulicht zudem den engen Zusammenhang, der zwischen der pragmatistischen Rechtstheorie und einem deliberativen Demokratieverständnis besteht. Für die Frage, wie das Spannungsverhältnis zwischen dem Willen des demokratischen Gesetzgebers und der Autonomie des Rechtssystems aufzulösen ist, kann der Pragmatismus neue Perspektiven liefern. Deshalb ist es lohnend, sich auch auf dem alten Kontinent mit ihm auseinanderzusetzen.