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II. Demokratietheorie bei John Dewey
Dass der Pragmatismus bisweilen in den Rang einer "Philosophie der Demokratie"
erhoben wird384 ist vor allem das Verdienst von John Dewey. Von den pragmatistischen Philosophen hat sich keiner so ausführlich und grundlegend zu Fragen der politischen Philosophie geäußert wie er. Hinzu kam, dass er regelmäßig auch zu tagespolitischen Fragen öffentlichkeitswirksam Stellung nahm und so in den 20er und
30er Jahren des letzten Jahrhunderts als "public philosopher" in den Vereinigten
Staaten einen Einfluss auf das intellektuelle politische Leben ausübte, der vergleichbar ist mit der Rolle, die etwa Jean-Paul Sartre im Europa der Nachkriegszeit gespielt hat. Im folgenden soll dargestellt werden, wie die philosophischen Grundpositionen von Deweys Pragmatismus sich in seinem politischen Denken niederschlagen. Anschließend werden die beiden Begründungsstränge nachgezeichnet, die Deweys Demokratietheorie kennzeichnen: Zum einen eine moralisch-naturalistische
Teleologie, zum anderen eine auf ein spezifisches Verständnis der Funktion von Öffentlichkeit aufgebaute funktional-epistemologische Argumentation. Zunächst soll
jedoch kurz der historische und ideengeschichtliche Hintergrund geschildert werden,
vor dem Dewey seine Demokratietheorie entwickelt hat.
1. John Dewey als "Public Philosopher" des Progressivismus
Dewey hat sich Zeit seines Lebens rege an der öffentlichen Diskussion über politische und soziale Fragen beteiligt. Er schrieb unzählige Artikel und Kolumnen in Tageszeitungen und politischen Magazinen zu so unterschiedlichen politischen Themen wie dem Kriegseintritt der USA, der politischen Situation in China oder zum
Prozess gegen Leo Trotzki. Dewey wurde so zu einem der einflussreichsten Intellektuellen in den Vereinigten Staaten, dessen Urteil auch außerhalb der Universität weites Gehör fand und zu einem der wichtigsten Vordenker der Bewegung des "Progressivismus", einer Strömung, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts maßgeblich das
politische Klima in den Vereinigten Staaten prägte.
a) Das Programm des Progressivismus
Der Progressivismus war eine Reaktion auf die politischen Herausforderungen, denen sich die amerikanische Demokratie angesichts des einschneidenden ökonomischen und sozialen Strukturwandels um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert
ausgesetzt sah. Insbesondere die Industrialisierung hatte zu erheblichen Veränderungen und Verwerfungen innerhalb der sozialen Strukturen geführt. Auf der einen
384 So etwa der Titel der Monographie von Fott (1998) und eines von Joas herausgegebenen
Sammelbandes zum Pragmatismus von Dewey.
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Seite waren gewaltige Konzerne und Trusts entstanden, die in einem bis dahin nicht
gekannten Umfang wirtschaftliche Macht auf sich konzentrierten. Auf der anderen
Seite war – nicht zuletzt durch einen enormen Zustrom europäischer Auswanderer,
die sich als billige Arbeitskräfte anboten – eine zunehmende Verelendung des Industrieproletariats zu beobachten. In diesem veränderten sozialen Klima begannen
die klassischen liberalen Leitideen, die bisher die amerikanische Sozial- und Wirtschaftsordnung geprägt hatten, nämlich Privatautonomie, freier Markt und Laissez-
Faire, zunehmend fragwürdig zu werden. Die Privatautonomie war faktisch wertlos
für diejenigen, die nichts als ihre Arbeitskraft anzubieten hatten und daher gezwungen waren, auch Jobs mit schlechter Bezahlung und katastrophalen Arbeitsbedingungen anzunehmen. Der freie Markt war dort ad absurdum geführt, wo eine Handvoll von Trusts den Markt unter sich aufgeteilt hatte und so die Preise diktieren
konnte. Und eine ordnungspolitische Laissez-Faire-Haltung war außer Stande, diesen Missständen Einhalt zu gebieten. Zum Klima einer aus dem Ruder gelaufenen
ökonomischen Modernisierung gesellte sich ein Unbehagen darüber, dass die Institutionen, die die tradierten Werte und Moralvorstellungen repräsentierten, zunehmend an Autorität verloren, und so nicht imstande waren, dem rasanten Wandel der
sozialen Lebenswelt eine sinnvolle religiöse, moralische oder politische Deutung zu
geben. „Theory was out of phase with reality“ hat James Kloppenberg dieses Epochengefühl beschrieben385. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert entstanden
daraufhin geistige Strömungen, die versuchten, den verloren gegangenen Einklang
von Theorie und Realität wieder herzustellen. Für die Kennzeichnung dieser Bewegungen wurde rasch der Name „Progressive Movement“ oder „Progressivism“ geprägt. Dahinter verbirgt sich jeweils eine Sammelbezeichnung für verschiedene sozialreformerische Initiativen, die ganz unterschiedlichen Quellen entsprangen. Sie
hatten ihren Ursprung teils im Moralismus der alteingesessenen protestantischen
Konfessionen, teils aber auch in einer technokratischen Wissenschaftsgläubigkeit,
wie sie vor allem in den neu entstandenen gebildeten Mittelschichten verbreitet
war386. Angesichts dieser unterschiedlichen Ursprünge ist es wenig erstaunlich, dass
innerhalb des „Progressive Movement“ z.T. sehr unterschiedliche Ziele verfolgt
wurden und es auch innerhalb der Bewegung zu erheblichen Meinungsverschiedenheiten zwischen den Vertretern der einzelnen Richtungen kam387.
Trotz dieser inneren Ambivalenzen und Widersprüche lassen sich aber dennoch
gemeinsame Merkmale ausmachen: Zum einen ging es dem Progressivismus darum,
den atomistischen Individualismus des klassischen Liberalismus zu überwinden und
stattdessen den demokratischen Staatsbürger als jemanden zu begreifen, der seine
individuelle Identität erst durch die Kultur und die Werte der Gemeinschaft, in der er
lebt, entfalten kann. Damit verbunden war das Eintreten für einen aktiven „welfare
state“, der die materiellen Voraussetzungen dieser individuellen Selbstentfaltung für
385 Kloppenberg (1986) S. 298.
386 Vgl. zum Progressive Movement u.a. Hofstadter (1955); Westbrook (1991) S. 182 ff.; Vogt
(2002) S. 83 ff.
387 Dazu besonders Vogt (2002) S. 85 ff.
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alle Bürger gewährleisten sollte, indem er Ungleichgewichte an den Märkten beseitigt und den sozial Schwächeren Schutz vor Übervorteilung und Ausbeutung bietet.
Die staatlichen Institutionen sollten sich hierfür insbesondere der modernen Methoden der Sozialwissenschaften, der Ökonomie und der Statistik bedienen. Zusammengefasst könnte man das politische Projekt des Progressivismus als das Bestreben
kennzeichnen, der amerikanischen Gesellschaft sowohl ein tragfähiges ethisches
Fundament als auch eine effiziente und moderne Organisation zu verschaffen388. Es
ging darum, die Errungenschaften der amerikanischen Demokratie sowohl vor ihrer
Aushöhlung durch einen entfesselten Industriekapitalismus als auch vor der Gefahr
einer sozialistischen Revolution zu bewahren. Insoweit war der Progressivismus eine Bewegung des sozialdemokratischen "via media" zwischen radikalem Liberalismus und Sozialismus389.
Der Widerstand des Progressivismus richtete sich vor allem gegen jene Denkweisen, die seiner Ansicht nach eine angemessene gesellschaftliche Reaktion auf die
sich wandelnden Lebensverhältnisse dadurch verhinderten, dass sie weiterhin an
überlieferten formalen Prinzipien festhielten, ohne ausreichend zu berücksichtigen,
dass diese jetzt auf völlig veränderte soziale Inhalte bezogen waren. So wandte sich
das Progressive Movement gegen eine Ökonomie, die allein im freien Walten der
Marktkräfte eine Gewähr für steigenden Wohlstand zu erkennen vermochte, ohne zu
bemerken, dass in der sozialen Realität zahlreiche Märkte längst nicht mehr so frei
und effizient funktionierten, wie es die abstrakten Theorien der Volkswirte vorsahen. Ebenso wandte sich der Progressivismus gegen ein Privatrecht, das die Wirksamkeit von Verträgen allein an die Willensübereinstimmung der Parteien knüpfen
wollte, ohne zu berücksichtigen, dass diese Parteien aufgrund vielfältiger sozialer
Interessen und Machtverhältnisse in Wirklichkeit längst nicht so autonom agieren
konnten, wie das Dogma der Privatautonomie dies unterstellte. Der kritische Impuls
des Progressive Movement bestand daher vor allem in dem, was Morton White als
eine "Revolte gegen den Formalismus" bezeichnet hat390.
Dabei war das „Progressive Movement“ keineswegs eine revolutionäre, sondern
eine durch und durch reformerische Bewegung. Die demokratische Verfassung der
Vereinigten Staaten wurde nicht in Frage gestellt, es ging vielmehr darum, diese
Verfassung durch einen erneuerten Gemeinsinn mit neuem Leben zu erfüllen. Dass
das amerikanische Gemeinwesen nur als ein Demokratisches denkbar war, war für
alle Progressivisten eine Selbstverständlichkeit. Auch die sozialreformerischen Bestrebungen des Progressivism zielten nicht darauf ab, die marktwirtschaftliche Wirtschaftsverfassung in sozialistischem Sinne umzugestalten. Das Progressive Movement legte Wert auf eine scharfe Abgrenzung gegenüber sozialistischen oder gar
kommunistischen Ideen. Markt und freier Wettbewerb sollten nicht als Übel beseitigt, sondern wieder in ihr ursprüngliches Recht gesetzt werden, indem faire ökonomische Chancen für alle Marktteilnehmer geschaffen wurden. Dazu war es aus Sicht
388 Vogt (2002) S. 98.
389 Kloppenberg (1986) S. 413.
390 White (1952) S. 11 ff.
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der Progressivisten vor allem notwendig, die Marktmacht der Großkonzerne und
Kartelle zu begrenzen und die Arbeitsbedingungen der werktätigen Bevölkerung
durch rechtlich garantierte Mindeststandards zu verbessern.
Das Progressive Movement wird zeitlich vor allem in der Periode vom Anfang
des 20 Jahrhunderts bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs verortet. Infolge des
Krieges verlor die amerikanische Öffentlichkeit dann zunächst das Interesse an innenpolitischen Reformen. Gerade die auf soziale und wirtschaftliche Reformen gerichteten Impulse des Progressive Movement gerieten aber nach Kriegsende erneut
auf die Agenda und wirkten bis in die Zeit von Roosevelts New Deal fort, nachdem
die auf den Börsenkrach von 1929 folgende Weltwirtschaftskrise das Vertrauen in
die Funktionstüchtigkeit einer weitgehend unregulierten Marktwirtschaft zusätzlich
untergraben hatte. Auf dem Gebiet des Rechts kam der Reformimpuls des Progressive Movement überhaupt erst in den 20er und 30er Jahren in Gestalt von Sociological Jurisprudence und Legal Realism zum Tragen, nachdem der Supreme Court der
progressivistischen Gesetzgebung zunächst erheblichen Widerstand entgegen gesetzt
hatte391.
b) Die Rolle John Deweys
Einer der wichtigsten Ideenlieferanten für die progressivistische Bewegung war
John Dewey392. Die Revolte gegen den Formalismus fand in seinem pragmatischen
Instrumentalismus vielleicht ihren konsequentesten und gründlichsten Ausdruck.
Deweys These, dass die Philosophie sich nicht mehr auf eine "Suche nach Gewissheit" begeben sollte, sondern dass es ihre Aufgabe war, das intellektuelle Instrumentarium zu entwickeln, dass es den Menschen ermöglichen würde, mit der Dynamik
und Kontingenz umzugehen, die das Leben in der Moderne prägten, entsprach der
progressivistischen Auffassung, dass sich politisches Handeln nicht von Ideologien
sondern von praktischen politischen und sozialen Bedürfnissen anzuleiten hatte. Die
Maxime des Pragmatismus, wonach Begriffe und Theorien nur insoweit einen Sinn
hatten, als sie praktisch erfahrbare Konsequenzen mit sich brachten, erwies sich als
ein fruchtbarer Boden für einen Gegenentwurf zu dem Formalismus, dessen Prinzipien von der sozialen Realität zunehmend ad absurdum geführt wurden. Deweys
Fundamentalkritik an den dualistischen Strukturen der abendländischen Philosophie
schließlich ermöglichte es, auch eine Überwindung des Dualismus von Individuum
und Gesellschaft in Angriff zu nehmen, wie er insbesondere dem klassischen Liberalismus zugrunde lag, und der von den Progressivisten als ein entscheidendes Hindernis sozialer Reformen wahrgenommen wurde, weil er abstrakte, ausschließlich
als negative Abwehrrechte verstandene, individuelle Freiheitsgarantien gegen sozia-
391 Dazu ausführlich unten S. 249 ff.
392 Hofstadter (1955) S. 154 zählt ihn zum "brain trust of the progressive movement". Vgl. zu
den philosophischen Grundlagen des Progressivismus auch Kloppenberg (1987) S. 410 ff.
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le Reformen wie eine Begrenzung der Arbeitszeit oder die Einführung eines Mindestlohns ins Feld führte.
Dewey teilte ausdrücklich die politischen Ziele des Progressivismus, insbesondere von dessen radikalerem Flügel393. Die Erneuerung des moralischen Fundaments
der amerikanischen Demokratie und die Notwendigkeit sozialer Reformen, die nicht
von Ideologie sondern von sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen angeleitet war,
standen im Zentrum seines politischen Engagements.
Deweys Haltung zum Sozialismus verdient dabei einen näheren Blick. Einerseits
war Dewey stets ein vehementer Befürworter des Ausbaus des Wohlfahrtsstaats und
er trat dafür ein, die Kontrolle der Produktionsmittel nicht in den Händen einiger
weniger privilegierter Privatpersonen zu belassen. Allerdings wahrte er Zeit seines
Lebens auch Distanz zum Sozialismus, soweit dieser für eine vollständige Verstaatlichung der Produktionsmittel eintrat. Dewey sah in solchen Maßnahmen die Gefahr,
dass dadurch eine zentralisierte staatliche Bürokratie heraufbeschworen würde, deren Machtfülle die demokratischen Partizipationsstrukturen nachhaltig gefährden
könnte394. Ihm schwebte eher ein Modell vor, wie es etwa vom britischen "Guild-
Socialism" propagiert wurde. Danach sollten die Produktionsmittel nach Möglichkeit von den Arbeitern in den jeweiligen Betrieben vor Ort kontrolliert werden.
Deweys Leitbild war "a federation of self-governing industries with the government
acting as adjuster and arbiter rather than as direct owner and manager"395. Dewey
setzte seine Hoffnungen folglich nicht auf einen zentralisierten Staatssozialismus,
sondern auf eine Demokratisierung der Betriebe. Nur so konnten seiner Meinung
nach auch für die breite Masse der amerikanischen Bevölkerung wirtschaftliche Bedingungen geschaffen werden, die ihr eine aktive und selbst bestimmte Teilnahme
am demokratischen Gemeinwesen ermöglichten. Eine solche wirtschaftliche Autonomie der Bürger vermochten aber weder die kapitalistische Wirtschaftsordnung
noch ein Staatssozialismus zu gewährleisten, weil in beiden Fällen die ökonomische
Macht entweder beim privaten Eigentümer der Produktionsmittel oder in den Händen des Staates lag. Deweys Auffassungen bewegten sich damit auf der sozialdemokratischen Linie des linken Flügels des Progressive Movement und sind so ein Beleg
dafür, dass es dieser Bewegung nicht um eine Abschaffung sondern um eine grundsätzliche Erneuerung des freien Wettbewerbs ging, indem tatsächlich allen Bürgern
eine freie Teilhabe an Marktwirtschaft und Demokratie ermöglicht werden sollte.
Deweys politisches Engagement als öffentlicher Intellektueller ist nichts, was sich
von seiner pragmatistischen Philosophie trennen ließe. Sein politisches Programm
erweist sich als eine konsequente Anwendung pragmatistischen Denkens auf die
Sphäre des Politischen. Diesen Zusammenhang zwischen Philosophie und Politik
näher zu erläutern, ist Gegenstand des nächsten Abschnitts.
393 Dazu Hoy (1998) S. 3 f.
394 Vgl. dazu vor allem Deweys Aufsatz "What are we fighting for?", Dewey MW 11.104. Dazu auch Westbrook (1991) S. 224 f.
395 Dewey MW 11.105.
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2. Philosophie und Politik
Dewey sieht den Kern der pragmatistischen Philosophie darin, dass sie den Dualismus von Theorie und Praxis hinter sich gelassen hat396. Stattdessen besteht er darauf,
dass theoretische Reflexion und praktisches Handeln stets untrennbar miteinander
verwoben sind. Theorie gewinnt ihren Sinn erst daraus, dass sie auf mögliche Handlungen und deren Konsequenzen bezogen ist, und rationales Handeln muss immer
angeleitet sein von theoretischer Reflexion. Vor diesem Hintergrund ist es für Dewey selbstverständlich, dass politische Philosophie und politische Praxis zusammen
gehören. Politisches Handeln bedarf der philosophischen Aufklärung und Anleitung,
und politische Theorie ist kein Selbstzweck um der reinen Erkenntnis willen, sondern muss immer ihre praktischen sozialen Auswirkungen im Auge behalten und
sich an ihnen messen lassen. Auch im Hinblick auf die politische Theorie propagiert
Dewey somit einen Experimentalismus, in dem Theorie und Praxis eine Einheit bilden. Wie noch weiter auszuführen sein wird, folgt für Dewey nicht zuletzt aus dieser
experimentalistischen Grundhaltung die Vorzugswürdigkeit einer demokratischen
Verfassung des Gemeinwesens397. Die erkenntnistheoretischen Grundpositionen des
Pragmatismus schlagen so unmittelbar auf die politische Theorie durch. Besonders
deutlich wird dieser Zusammenhang von Philosophie und Politik in einer kurzen
Schrift Deweys mit dem Titel "German Philosophy and Politics", die erstmals im
Jahr 1916 erschien und 1942 angesichts des 2. Weltkriegs und des Nationalsozialismus nochmals überarbeitet wurde.
a) Die politische Bedeutung von Kants Moralphilosophie
Dewey versucht darin, Erscheinungsformen der deutschen Politik im 20. Jahrhundert, zunächst die aggressive Machtpolitik des wilhelminischen Kaiserreichs, später
auch den Nationalsozialismus, ideengeschichtlich als Konsequenzen bestimmter Positionen der deutschen Philosophie zu deuten. Dabei sieht Dewey die philosophische
Wurzel des politischen Übels nicht bei den üblichen Verdächtigen, also weder in der
Staatsphilosophie Hegels noch in den Übermenschenphantasien Nietzsches, sondern
bereits in den Prämissen der idealistischen Philosophie Immanuel Kants.
Dewey macht insbesondere die Kantische Moralphilosophie für die deutsche
Kriegspolitik verantwortlich398. Er führt dabei die Kritik weiter, die er bereits in sei-
396 Dazu oben S. 53 ff.
397 Dazu unten S. 152 ff.
398 In "German Philosophy and Politics" geht Dewey nicht auf die historischen und politischen
Ursachen des 1. Weltkriegs ein, sondern setzt darin schlicht voraus, dass es die Westmächte
sind, die in diesem Konflikt die Sache der Vernunft und der Zivilisation vertreten. Zu den
politischen Aspekten hat sich Dewey jedoch in zahlreichen, nicht an ein philosophisches
Fachpublikum, sondern an eine breite Öffentlichkeit gerichteten Beiträgen und Aufsätzen
geäußert, in denen er sich u.a. vehement für das Interventionsbestreben Woodrow Wilsons
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Der klassische Pragmatismus steht für einen amerikanischen Sonderweg in die philosophische Moderne. Auch die Entwicklung des amerikanischen Rechtsdenkens wurde durch den Pragmatismus von C.S. Peirce und John Dewey bis heute maßgeblich geprägt. Strömungen wie der "Legal Realism" oder die "Economic Analysis of Law" wären ohne das gedankliche Fundament der pragmatistischen Philosophie nicht denkbar.
Das Buch zeichnet den Einfluss des Pragmatismus auf die amerikanische Rechtstheorie über einen Zeitraum von 150 Jahren von Oliver Wendell Holmes" "The Common Law" bis zum modernen "Legal Pragmatism" eines Richard Posner nach. Der Verfasser veranschaulicht zudem den engen Zusammenhang, der zwischen der pragmatistischen Rechtstheorie und einem deliberativen Demokratieverständnis besteht. Für die Frage, wie das Spannungsverhältnis zwischen dem Willen des demokratischen Gesetzgebers und der Autonomie des Rechtssystems aufzulösen ist, kann der Pragmatismus neue Perspektiven liefern. Deshalb ist es lohnend, sich auch auf dem alten Kontinent mit ihm auseinanderzusetzen.