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unmittelbar oder mittelbar zur Vertretung des Schuldners berechtigten natürlichen
Personen die Befugnis zur Einzelvertretung geben wollte. Im Gesetzgebungsverfahren wurde lediglich übersehen, dass Fälle mehrstufiger Vertretung auch bei
juristischen Personen auftreten können. Es wurden die Vertretungsverhältnisse bei
werbenden deutschen Kapitalgesellschaften zugrunde gelegt,629 bei denen die Mitglieder des Vertretungsorgans natürliche Personen sein müssen, vgl. § 6 Abs. 2 S. 1
GmbHG, § 76 Abs. 3 S. 1 AktG. Um diese Lücke zu schließen, ist § 15 Abs. 3 InsO
entsprechend auf die Vertretungsbefugnis bei juristischen Personen – wie einer
Ltd. – anzuwenden.630
IV. Vertretungsberechtigtes Organ der Ltd. in besonderen Stadien
Sobald die Ltd. mit der incorporation Rechtspersönlichkeit erlangt hat, ist ihr director Geschäftsführer i.S.d. § 84 Abs. 1 Nr. 2 GmbHG. Es stellt sich jedoch die
Frage, ob der director auch dann noch Geschäftsführer ist, wenn die Ltd. in einem
voluntary winding up nach englischem Recht abgewickelt wird oder wenn sie nach
der dissolution in Deutschland als Liquidationsgesellschaft fortbesteht.
1. Vertretungsberechtigtes Organ nach dissolution
Wie dargestellt, besteht eine Ltd. nach der dissolution als Liquidationsgesellschaft
englischen Rechts fort, wenn in Deutschland noch Vermögen belegen ist. Allerdings
soll die Vertretungsbefugnis der bisherigen directors mit der dissolution entfallen.631
Bis zur Aufhebung des § 10 Abs. 1 Nr. 2 Zuständigkeitsergänzungsgesetz wurde die
Ansicht vertreten, die Gesellschaft werde durch einen in entsprechender Anwendung
dieser Vorschrift zu bestellenden Abwesenheitspfleger vertreten.632 Nunmehr kommt
die Bestellung eines Prozesspflegers nach § 57 ZPO633, eines Pflegers nach § 1913
629 Vgl. BT-Drs. 12/2443, S. 114; BT-Drs. 12/7302, S. 156.
630 MK-InsO/Schmahl, § 15 Rn. 39.
631 Krömker/Otte, BB 2008, 964 (965); Vallender, ZGR 2006, 425 (437); Süß, DNotZ 2005, 180
(189); Schulz, NZG 2005, 415; Happ/Holler, DStR 2004, 730 (736); Mansel, L.A. Kegel,
S. 111 (122); Triebel/v. Hase/Melerski/v. Hase, Rn. 622; Hirte/Bücker/Hirte, § 1 Rn. 77a;
einschränkend Röder, RIW 2007, 866 (886). Anders Lamprecht, ZEuP 2008, 289 (309), und
Lutter/U. Huber, AuslGes, S. 307 (338), dem zufolge für den Geschäftsführer – nicht den
Liquidator – weiterhin die Insolvenzantragspflicht besteht.
632 Vallender, ZGR 2006, 425 (437 f.); Süß, DNotZ 2005, 180 (189); Schulz, NZG 2005, 415
(416); Happ/Holler, DStR 2004, 730 (736); Mansel, L.A. Kegel, S. 111 (122); Hirte/Bücker/
Mock/Schildt, § 17 Rn. 131. So wurde bereits bei den infolge Enteignung entstandenen Restund Spaltgesellschaften verfahren, vgl. BGH, IPRspr. 1977 Nr. 4; BGHZ 39, 81.
633 Vgl. Hirte/Bücker/Hirte, § 1 Rn. 77a; Lamprecht, ZEuP 2008, 289 (311).
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BGB634, eines Notgeschäftsführers gemäß § 29 BGB635 oder eines (Nachtrags-)Liquidators entsprechend § 66 Abs. 5 GmbHG, § 273 Abs. 4 AktG636 in Betracht. Da
der bisherige director demnach nicht das geborene vertretungsberechtigte Organ der
Liquidationsgesellschaft ist, scheidet seine Strafbarkeit selbst nach § 84 Abs. 1 Nr. 2
Alt. 2 GmbHG („als Liquidator“) aus, es sei denn, er tritt als faktischer Liquidator637
auf.
2. Vertretungsberechtigtes Organ während eines voluntary winding up
Die Abweisung des Insolvenzantrags mangels Masse führt bei einer Ltd. nicht zur
Auflösung gemäß § 60 Abs. 1 Nr. 5 GmbHG. Antragspflichtig bleibt daher der director als Geschäftsführer. Eine andere Frage ist, ob sich ein liquidator, der in einem
nach Abweisung mangels Masse oder aus sonstigen Gründen freiwillig eingeleiteten
voluntary winding up bestellt wird, nach § 84 Abs. 1 Nr. 2 GmbHG strafbar machen
kann. Die Ausführungen zum „Geschäftsführer“ legen es nahe, den Begriff „Liquidator“ in § 84 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 GmbHG so auszulegen, dass nicht nur der Liquidator einer deutschen GmbH erfasst wird, sondern auch das im Abwicklungsstadium
vertretungsberechtigte Organ einer ausländischen GmbH. Den englischen liquidator
wird man – unabhängig von der sprachlichen Ähnlichkeit – als „Liquidator“ ansehen
können. Problematisch ist allein, dass § 84 Abs. 1 Nr. 2 GmbHG auf § 71 Abs. 4
GmbHG Bezug nimmt. Diese Vorschrift scheint ihrem Standort nach einen gesellschaftsrechtlich zu qualifizierenden Sachverhalt zu regeln, so dass die Verweisung
auf § 64 Abs. 1 GmbHG nur den Liquidator einer deutschen GmbH betreffen würde.
Auch hier ist aber nicht der Standort der Vorschrift entscheidend, sondern die Funktion des § 71 Abs. 4 GmbHG. Sie besteht darin, die für das vertretungsberechtigte
Organ einer werbenden GmbH geltende Insolvenzantragspflicht in das Liquidationsstadium zu übertragen. Die Insolvenzantragspflicht des Liquidators ist daher insolvenzrechtlich zu qualifizieren, und § 71 Abs. 4 GmbHG ist – soweit er auf § 64
Abs. 1 GmbHG verweist – auf den Liquidator einer ausländischen GmbH anwendbar. Demnach kann sich der liquidator in einem englischen voluntary winding up
„als Liquidator“ wegen Insolvenzverschleppung nach § 84 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2
GmbHG strafbar machen.
634 OLG Nürnberg, GmbHR 2008, 41 (42); dagegen Schulz, NZG 2005, 415 (416); Lamprecht,
ZEuP 2008, 289 (311).
635 Vgl. BGH, AG 1985, 53 f.; Hirte/Bücker/Hirte, § 1 Rn. 77a; Schulz, NZG 2005, 415 (417).
636 Thüringer OLG, ZIP 2007, 1709 (1711); Krömker/Otte, BB 2008, 964 (965); Mock, NZI
2008, 262 (263); J. Schmidt, ZIP 2007, 1712 (1713); Leible/Lehmann, GmbHR 2007, 1095
(1098); Knütel, RIW 2004, 503 (505); MK-InsO/Schmahl, § 15 Rn. 48; einschränkend
Schulz, NZG 2005, 415 (417); Vallender, ZGR 2006, 425 (437 f.); Lamprecht, ZEuP 2008,
289 (312).
637 Dazu BGH, wistra 1999, 459 (462).
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§ 6. Entstehen der Insolvenzantragspflicht des directors
I. Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung als Auslöser der Insolvenzantragspflicht
Strafbar nach § 84 Abs. 1 Nr. 2 GmbHG macht sich der director einer englischen
Ltd. mit COMI in Deutschland, wenn er bei Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung der Gesellschaft nicht unverzüglich, spätestens innerhalb von drei Wochen, die Eröffnung des Insolvenzverfahrens beantragt. Die Ltd. ist zahlungsunfähig,
wenn sie nicht in der Lage ist, ihre fälligen Zahlungsverpflichtungen zu erfüllen,
vgl. § 17 Abs. 2 S. 1 InsO. Sie ist überschuldet, wenn ihr Vermögen die bestehenden
Verbindlichkeiten nicht mehr deckt, vgl. § 19 Abs. 2 S. 1 InsO. Zu klären ist, welche
Besonderheiten bei der Ermittlung der Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung
einer englischen Ltd. mit COMI in Deutschland zu beachten sind.
II. Bedeutung des englischen Bilanzrechts für die Zahlungsunfähigkeit und
Überschuldung
Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung werden grundsätzlich638 anhand einer Gegenüberstellung von (kurzfristig) liquiden Mitteln und fälligen Zahlungsverpflichtungen (sog. Liquiditätsstatus) bzw. Vermögen und Verbindlichkeiten (sog.
Überschuldungsstatus) ermittelt. Wie bei der Aufstellung einer Handelsbilanz muss
auch bei der Aufstellung eines Liquiditäts- oder Überschuldungsstatus entschieden
werden, welche Vermögenswerte und Verbindlichkeiten anzusetzen – zu aktivieren
bzw. zu passivieren – und wie diese zu bewerten sind. Das wirft die Frage auf, ob
insoweit auf die Ansatz- und Bewertungsvorschriften des Bilanzrechts zurückgegriffen werden kann.
Nach h.M. ist die Rechnungslegung einer Kapitalgesellschaft gesellschaftsrechtlich zu qualifizieren, so dass die Handelsbilanz einer Ltd. in Deutschland nach
englischem Recht zu erstellen ist.639 Lediglich die Publizität der Unterlagen der
Rechnungslegung richtet sich nach deutschem Recht (§ 325a HGB).640 Für den Liquiditäts- und Überschuldungsstatus einer englischen Ltd. mit COMI in Deutschland
wären also die Ansatz- und Bewertungsvorschriften des englischen Bilanzrechts
maßgeblich.
638 Zur Feststellung der Zahlungsunfähigkeit anhand von Beweisanzeichen (sog. wirtschaftskriminalistische Methode) vgl. BGH, NJW 2000, 154 (156), m.w.N.
639 So z.B. Sp/W/Spahlinger/Wegen, Rn. 567; Hirte/Bücker/Westhoff, § 18 Rn. 32; GK-GmbHG/
Behrens, Einl. B Rn. 95; Eidenmüller/Rehberg, § 5 Rn. 109; Eidenmüller/Rehberg,
ZVerglRWiss 2006, 427 (442); Just/Krämer, BC 2006, 29 (32); Hennrichs, FS Horn, S. 387
(393); Dierksmeier, BB 2005, 1516 (1518); Holzer, ZVI 2005, 457 (466). Für eine öffentlichrechtliche Qualifikation des Bilanzrechts, die zur Anwendung deutschen Rechts führt, z.B.
MK-BGB/Kindler, IntGesR, Rn. 153 ff.; Ebert/Levedag, GmbHR 2003, 1337 (1339).
640 Hirte/Bücker/Westhoff, § 18 Rn. 67; Eidenmüller/Rehberg, § 5 Rn. 99; Sp/W/Spahlinger/Wegen, Rn. 567.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Nach noch herrschender Meinung kann der director einer englischen private company limited by shares (Ltd.) nicht wegen Insolvenzverschleppung nach § 84 Abs. 1 Nr. 2 GmbHG bestraft werden. Dem tritt der Autor entgegen und zeigt, dass mit dieser Strafvorschrift sehr wohl gegen gläubigergefährdendes Verhalten des directors einer Ltd. vorzugehen ist.
Denn die Auslegung des Begriffs „Geschäftsführer“ ergibt, dass dieser die Organe ausländischer Gesellschaften mit beschränkter Haftung einbezieht. Für die Organe solcher Gesellschaften besteht auch eine Insolvenzantragspflicht nach § 64 Abs. 1 GmbHG, weil diese Vorschrift dem Insolvenzrecht zuzuordnen und über Art. 4 Abs. 1 EuInsVO anwendbar ist.
Darauf aufbauend werden die Besonderheiten des § 84 Abs. 1 Nr. 2 GmbHG im Fall der Insolvenz einer Ltd. dargestellt, z.B. die Strafbarkeit nach der dissolution, die Begehung durch einen shadow director, die Aufstellung des Überschuldungsstatus und die Antragstellung im Ausland. Abschließend wird die Vereinbarkeit der Insolvenzantragspflicht und ihrer Strafbewehrung mit dem Recht der EG behandelt. Die gefundenen Ergebnisse sind im Wesentlichen auf § 15a Abs. 4 InsO n.F. übertragbar.