192
III. Rechtfertigung der Beschränkung der Niederlassungsfreiheit
Gerechtfertigt ist die Beschränkung der Niederlassungsfreiheit durch § 64 Abs. 1
GmbHG, wenn diese Vorschrift in nicht diskriminierender Weise angewandt wird,
zwingenden Gründen des Allgemeininteresses dient, zur Erreichung des verfolgten
Ziels geeignet ist und nicht über das zur Erreichung dieses Ziels Erforderliche hinausgeht (sog. Vier-Faktoren-Test).726
1. Rechtfertigungsbedürftigkeit insolvenzrechtlicher Beschränkungen
Diese Prüfung kann nicht mit dem Argument umgangen werden, dass die Kollisionsnormen der EuInsVO „ihre gemeinschaftsrechtliche Rechtfertigung in sich tragen“.727 Die Vereinbarkeit des Art. 4 Abs. 1 EuInsVO mit primärem Gemeinschaftsrecht hat nämlich nicht zur Folge, dass dies auch für die über Art. 4 Abs. 1 EuInsVO
anwendbaren Vorschriften des nationalen Rechts gilt. Es deutet lediglich auf eine
umfassende Anerkennung des nationalen Insolvenzrechts – und damit auch des § 64
Abs. 1 GmbHG – hin, wenn den Mitgliedstaaten durch die EuInsVO das Insolvenz-
Sachrecht überlassen bleibt.728
Eine Rechtfertigung ist hier jedoch nicht von vornherein ausgeschlossen, denn
ohne weitere Prüfung lehnt der EuGH eine Rechtfertigung nur bei solchen die Niederlassungsfreiheit beschränkenden Regelungen des nationalen Rechts ab, die über
abschließendes sekundäres Gemeinschaftsrecht hinausgehen.729 Das ist bei der Insolvenzantragspflicht des directors einer englischen Ltd. aus § 64 Abs. 1 GmbHG
nicht der Fall, weil Art. 2 Abs. 1 Buchst. f der Zweigniederlassungsrichtlinie, der die
Offenlegung eines die Gesellschaft betreffenden Konkursverfahrens vorschreibt,
keine abschließende Regelung über die Zulässigkeit der Pflicht zur Einleitung eines
solchen Verfahrens trifft. Zudem zwingt die Insolvenzantragspflicht nicht zu einer
über die Vorgaben der Zweigniederlassungsrichtlinie hinausgehenden Offenlegung,
sondern bedient sich lediglich der zulässigen Offenlegung als Mittel des Gläubigerschutzes (auch) in der Insolvenz.
726 Vgl. EuGH, Rs. C-55/94, Slg. 1995, I-4165, Rn. 37 – Gebhardt; EuGH, Rs. C-212/97,
Slg. 1999, I-1459, Rn. 34 – Centros; EuGH, Rs. C-167/01, Slg. 2003, I-10155, Rn. 133 –
Inspire Art.
727 So aber MK-BGB/Kindler, IntInsR, Rn. 49; ähnlich ders., NJW 2007, 1785 (1787 f.); Ulmer,
KTS 2004, 291 (296); Klein, S. 547.
728 Weitergehend Forsthoff, S. 98: „Der EuInsVO sind über den bloßen Verweis auf das anwendbare Recht hinausgehend Wertungen zu entnehmen, die die Anwendung deutschen Rechts in
einem in Deutschland geführten Insolvenzverfahren über eine Auslandsgesellschaft legitimieren.“
729 Vgl. EuGH, Rs. C-167/01, Slg. 2003, I-10155, Rn. 106 – Inspire Art, zu den Offenlegungspflichten des niederländischen Rechts, die über die in der Zweigniederlassungsrichtlinie vorgesehenen hinausgingen.
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2. Fehlen einer diskriminierenden Wirkung
Ausländische Gesellschaften mit beschränkter Haftung könnten durch § 64 Abs. 1
GmbHG schon deshalb diskriminiert werden, weil sie anders behandelt werden als
in- oder ausländische natürliche Personen und Personengesellschaften, die keiner
Insolvenzantragspflicht unterliegen.730 Damit würde aber der falsche Vergleichsmaßstab gewählt.731 Diskriminierung i.S.d. Vier-Faktoren-Tests meint nur die Ungleichbehandlung von in- und ausländischen Adressaten einer Norm. Daher sind
ausländischen Gesellschaften lediglich diejenigen inländischen Gesellschaften gegenüberzustellen, an deren Geschäftsführer sich § 64 Abs. 1 GmbHG richtet, also
Gesellschaften mit beschränkter Haftung. Zu einer Diskriminierung käme es demnach nur, wenn § 64 Abs. 1 GmbHG offen oder versteckt den Geschäftsführer einer
ausländischen Gesellschaft mit beschränkter Haftung anders behandeln würde als
den einer deutschen Gesellschaft mit beschränkter Haftung.
Eine offene Diskriminierung liegt jedenfalls nicht vor, denn § 64 Abs. 1 GmbHG
unterscheidet dem Wortlaut nach nicht zwischen den Geschäftsführern in- und ausländischer Gesellschaften. Eine versteckte Diskriminierung wäre jedoch anzunehmen, wenn § 64 Abs. 1 GmbHG trotz seines neutralen Wortlauts den Geschäftsführer einer ausländischen Gesellschaft tatsächlich härter treffen würde. Das könnte
daraus folgen, dass bei deutschen Gesellschaften ein Mindeststammkapital vorgeschrieben ist, wodurch das Vorliegen eines Eröffnungsgrunds zum Zeitpunkt des
Markteintritts verhindert wird. Dagegen ist ausländischen Gesellschaften – je nach
anwendbarem Gesellschaftsrecht – der Marktzutritt auch ohne oder mit einem geringeren Stammkapital erlaubt. Wegen der besseren Kapitalausstattung deutscher Gesellschaften ist zu vermuten, dass bei ausländischen Gesellschaften die Insolvenzantragspflicht nicht nur früher einsetzt, sondern auch bei einem größeren Anteil der
Gesellschaften.
Darin liegt aber keine versteckte Diskriminierung ausländischer Gesellschaften,
denn der vermutlich schnellere Eintritt der Insolvenz ergibt sich nicht aus dem deutschen Recht, sondern aus dem Finanzierungsverhalten der Gesellschafter. § 64
Abs. 1 GmbHG könnte allenfalls faktisch zu einer nach ausländischem Gesellschaftsrecht nicht vorgeschriebenen Kapitalausstattung zwingen. Auch darin läge
aber keine Diskriminierung, sondern eine – möglicherweise ungeeignete oder nicht
erforderliche – Gleichbehandlung mit deutschen Gesellschaften. Der ganz überwiegenden Ansicht ist daher darin zuzustimmen, dass die Insolvenzantragspflicht
aus § 64 Abs. 1 GmbHG nicht diskriminierend ist.732
730 Ungan, ZVerglRWiss 2005, 355 (368), bejaht deshalb eine Diskriminierung.
731 So auch Schilling, S. 217.
732 Vgl. zuletzt LG Kiel, DB 2006, 1314 (1316); v. Hase, BB 2006, 2141 (2148); J. Schmidt,
ZInsO 2006, 737 (741); Leutner/Langner, GmbHR 2006, 713 (714); Zerres, DZWIR 2006,
356 (361); B/H/Schulze-Osterloh, § 64 Rn. 3; Schilling, S. 217; Seeberg, S. 183; Eidenmüller,
NJW 2005, 1618 (1621); auch Lutter/U. Huber, AuslGes, S. 307 (351).
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3. Zwingende Gründe des Allgemeininteresses
Die Insolvenzantragspflicht besteht aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses. Sie bezweckt den Schutz der Gläubiger vor Forderungsausfällen. Wer bereits Gläubiger ist, soll vor einer Verringerung der Masse geschützt werden. Wer im
Geschäftsverkehr auf die Gesellschaft trifft, soll nicht in Unkenntnis der Insolvenz
zum Gläubiger werden. Der Gläubigerschutz zählt nach der Rechtsprechung des
EuGH zu den zwingenden Gründen des Allgemeininteresses.733
4. Geeignetheit
Die Eignung der Insolvenzantragspflicht zum Schutz der Gläubiger ist bislang kaum
in Zweifel gezogen worden. Bei Anwendung der aus dem deutschen Verfassungsrecht bekannte Definition, nach der ein Mittel dann geeignet ist, „wenn mit seiner
Hilfe der gewünschte Erfolg gefördert werden kann, wobei die Möglichkeit der
Zweckerreichung genügt“734, ist dem zu folgen. Der gewünschte Erfolg liegt in der
frühzeitigen Einleitung des Insolvenzverfahrens. Es liegt auf der Hand, dass der
Insolvenzantrag früher gestellt wird und deshalb gläubigerschützende Maßnahmen
früher eingreifen, wenn der Geschäftsführer – der in der Regel als erster Kenntnis
von der Insolvenz hat – zur Antragstellung nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet
ist.
In der Rechtsprechung des EuGH stellt sich die Geeignetheit jedoch anders dar,
wie insbesondere die Entscheidung in der Rechtssache Centros zeigt: Zugrunde lag
die Weigerung der dänische Zentralverwaltung für Handel und Gesellschaften, eine
Zweigniederlassung der nach englischem Recht gegründeten Centros Ltd. in das
Register einzutragen. Die Gesellschaft war in England keinerlei Geschäftstätigkeit
nachgegangen, und das nach dänischem Recht für eine Gesellschaft mit beschränkter
Haftung vorgeschriebene Stammkapital war nicht aufgebracht worden, so dass die
Behörde eine Umgehung gläubigerschützender Vorschriften annahm. Der EuGH hat
die Ablehnung der Registereintragung jedoch als zum Gläubigerschutz nicht geeignet und damit als nicht gerechtfertige Beschränkung der Niederlassungsfreiheit
angesehen. Ungeeignet sei die Ablehnung, „da die Zweigniederlassung in Dänemark
eingetragen worden wäre, wenn die Gesellschaft eine Geschäftstätigkeit im Vereinigten Königreich ausgeübt hätte, obwohl die dänischen Gläubiger in diesem Fall
ebenso gefährdet gewesen wären.“735 Die dänische Behörde hätte also entweder
jeder ausländischen Gesellschaft die Eintragung einer Zweigniederlassung versagen
müssen – selbst bei Geschäftstätigkeit auch im Herkunftsland – oder aber keiner.
733 EuGH, Rs. C-208/00, Slg. 2002, I-9919, Rn. 92 – Überseering; EuGH, Rs. C-167/01,
Slg. 2003, I-10155, Rn. 135 – Inspire Art.
734 BVerfGE 103, 293 (307), m.w.N.
735 EuGH, Rs. C-212/97, Slg. 1999, I-1459, Rn. 35 – Centros.
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Nach deutschem Begriffsverständnis war die Ablehnung der Registereintragung
sehr wohl geeignet, denn der Gläubigerschutz wird gestärkt, wenn die Eintragung
einer Zweigniederlassung von der Aufbringung eines Mindeststammkapitals abhängig gemacht wird.736 Den Gläubigern steht zumindest anfänglich eine Haftungssumme zur Verfügung, das Mindeststammkapital stellt einen Puffer in Hinblick auf
den Eröffnungsgrund der Überschuldung dar, die Risikobereitschaft der Gesellschafter wegen des drohenden Kapitalverlusts sinkt und mit dem Mindeststammkapital als finanzieller Hürde wird ein Mindestmaß an Seriosität gewahrt. Die Versagung der Eintragung wäre allenfalls eine Ungleichbehandlung gewesen, weil bei
englischen Gesellschaften kein Mindeststammkapital verlangt wurde, wenn sie auch
in England tätig waren. Das Kriterium „Ungleichbehandlung“ sieht der Vier-
Faktoren-Test aber nicht ausdrücklich vor. Insbesondere handelt es sich nicht um
einen Fall der Diskriminierung, weil diese die unterschiedliche Behandlung in- und
ausländischer Gesellschaften verlangt, während die Centros Ltd. gegenüber anderen
englischen Gesellschaften benachteiligt wurde. Daher berücksichtigt der EuGH
Ungleichbehandlungen, die die Wirksamkeit einer beeinträchtigenden Maßnahme
fraglich machen, im Rahmen der Geeignetheit.737 Jedoch sollen die Mitgliedstaaten
über einen Ermessensspielraum verfügen, „um unter Berücksichtigung der
Besonderheiten der sozialen Umstände und der Bedeutung, die sie einem im Hinblick auf das Gemeinschaftsrecht berechtigten Ziel [...] zu bestimmen, welche Maßnahmen geeignet sind, konkrete Ergebnisse herbeizuführen.“738
Aus dieser Rechtsprechung könnte sich ergeben, dass auch die Insolvenzantragspflicht zum Gläubigerschutz nicht geeignet ist,739 denn eine Insolvenzantragspflicht
nach deutschem Recht besteht wegen Art. 4 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 EuInsVO nur bei
solchen Gesellschaften, deren COMI sich in Deutschland befindet. Und wo die Gesellschaft ihr COMI hat, scheint auf den ersten Blick an der Schutzbedürftigkeit der
Gläubiger in Deutschland nichts zu ändern. Um dem Gläubigerschutz gerecht zu
werden, müsste vielmehr unabhängig vom COMI eine Insolvenzantragspflicht bestehen, was Art. 4 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 EuInsVO ausschließen.
Es fehlt aber schon an einer Ungleichbehandlung, die die Wirksamkeit der Insolvenzantragspflicht in Frage stellen könnte. Insolvenzen ausländischer Gesellschaften
mit COMI innerhalb bzw. außerhalb Deutschlands sind nämlich keine vergleichbaren Sachverhalte und demnach auch nicht gleich zu behandeln. Denn nach dem
COMI richtet sich nicht nur die Insolvenzantragspflicht, sondern – unterstellt man
die Verfahrenseröffnung durch das international zuständige Gericht – wegen Art. 4
Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 EuInsVO das anwendbare Insolvenzrecht insgesamt. Und ge-
736 Vgl. zu den folgenden Begründungsansätzen (aber gegen ein gesetzliches Mindeststammkapital) Krüger, S. 212 ff.
737 So schon EuGH, Rs. 67/88, Slg. 1990, I-4285, Rn. 6 – Kommission./.Italien. In der Entscheidung EuGH, Rs. C-167/01, Slg. 2003, I-10155, Rn. 140 – Inspire Art, heißt es statt „Geeignetheit“ folgerichtig „Wirksamkeit“.
738 EuGH, Rs. C-394/97, Slg. 1999, I-3599, Rn. 43 – Heinonen.
739 Dies bejahend v. Hase, BB 2006, 2141 (2148); Berner/Klöhn, ZIP 2007, 106 (113); ohne
Begründung Krüger, ZInsO 2007, 861 (866).
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rade das Insolvenzrecht ist im Fall der Insolvenz für die Gläubiger entscheidend.
Darin besteht auch der Unterschied zur Centros-Entscheidung: Zum Zeitpunkt der
Eintragung der Zweigniederlassung liegen unabhängig davon, wo sich der tatsächliche Verwaltungssitz befindet, noch vergleichbare Sachverhalte vor, denn die Gläubiger können ihre Ansprüche zunächst nach demselben materiellen und Verfahrensrecht verfolgen. Erst im Fall der Insolvenz werden die Sachverhalte wegen Art. 4
Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 EuInsVO unvergleichbar.740 Die Kombination von COMI und
lex-fori-Anknüpfung in Art. 4 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 EuInsVO bringt es mit sich, dass
auf eine Gesellschaft nicht in jedem Fall das Insolvenzrecht ihres Herkunftsstaats
anwendbar ist. Nur wenn Art. 3 Abs. 1 oder Art. 4 Abs. 1 EuInsVO selbst die Niederlassungsfreiheit verletzen würden und eine Gesellschaft auch im Zuzugsstaat die
Anwendung des Insolvenzrechts des Herkunftsstaats beanspruchen könnte, lägen
vergleichbare Sachverhalte vor. Dann würde es aber an einer Ungleichbehandlung
fehlen, weil der director einer englischen Ltd. sich unabhängig vom COMI entsprechend dem englischen Insolvenzrecht verhalten müsste und für ihn keinesfalls eine
Insolvenzantragspflicht aus § 64 Abs. 1 GmbHG bestünde.
Schließlich ergibt sich eine Ungleichbehandlung auch nicht daraus, dass Insolvenzantragspflichten nach deutschem Recht nicht bei allen ausländischen Schuldnern bestehen, selbst wenn sie ihr COMI in Deutschland haben. Wie oben bereits
ausführlich dargelegt wurde, spiegeln sich in dieser Differenzierung die mit der
Insolvenz bestimmter Schuldner verbundenen Gefahren wieder. Bei der Insolvenz
einer GmbH und einer natürlichen Person handelt es sich nicht um vergleichbare
Sachverhalte. Dass der Gesetzgeber dabei recht pauschal auf Umstände wie die
Rechtsform, die Geschäftstätigkeit oder die persönliche Haftung einer natürlichen
Person abstellt, fällt in den vom EuGH eingeräumten Ermessensspielraum.
5. Erforderlichkeit
Gerechtfertigt ist eine Maßnahme nach dem Vier-Faktoren-Test zudem nur dann,
wenn sie nicht über das zur Erreichung des verfolgten Ziels Erforderliche hinausgeht. Im Unterschied zum BVerfG, das die Erforderlichkeit schon bejaht, wenn kein
„gleich wirksames, die Grundrechtsträger aber weniger beeinträchtigendes Mittel“
zur Verfügung steht,741 misst der EuGH die Maßnahme im Rahmen der Prüfung der
Erforderlichkeit auch an der beschränkten Grundfreiheit selbst.742 Erweist sich die
Beschränkung der Niederlassungsfreiheit im Verhältnis zu dem mit der Maßnahme
740 Vgl. demgegenüber Willemer, S. 152: „Es kann vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des
EuGH zur Niederlassungsfreiheit von Gesellschaften keinen Unterschied machen, ob eine
Sanktion an die Pflicht zur Bereitstellung eines angemessenen Mindestkapitals oder der
Pflicht zu Kontrolle des Gesellschaftsvermögens und der daraus folgenden Pflicht, ein Insolvenzverfahren einzuleiten, anknüpft.“
741 BVerfGE 100, 313 (375).
742 EuGH, Rs. C-76/90, Slg. 1991, I-4221, Rn. 17 – Säger./.Dennemeyer; EuGH, Rs. C-294/89,
Slg. 1991, I-3591, Rn. 32 – Kommission./.Frankreich.
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verfolgten Ziel als zu schwerwiegend, so ist nur eine weniger geeignete Maßnahme
erforderlich.743
a) Mildere, gleich geeignete Maßnahmen
§ 64 Abs. 1 GmbHG hat zum Ziel, im Fall der Insolvenz einer Gesellschaft mit
beschränkter Haftung Forderungsausfälle bei Gläubigern zu verhindern, zumindest
aber zu begrenzen. Dazu sollen unverzüglich nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit
oder Überschuldung Maßnahmen zur Erhaltung des Gesellschaftsvermögens für die
Verteilung im Insolvenzverfahren und zur Information des Geschäftsverkehrs über
die Insolvenz getroffen werden. Um den Insolvenzantrag als verfahrensrechtliche
Voraussetzung dieser gläubigerschützenden Maßnahmen herbeizuführen, wird der
Geschäftsführer verpflichtet, bei Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung unverzüglich die Eröffnung des Insolvenzverfahrens zu beantragen.
aa) Erforderlichkeit des Gläubigerschutzes bei Insolvenz
Der Schutz der Gläubiger vor Forderungsausfällen wäre nur erforderlich, wenn für
die Gläubiger mit der Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung die besondere Gefahr einherginge, nicht oder nicht in voller Höhe befriedigt zu werden. Indem § 64
Abs. 1 GmbHG auf den Eintritt der Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung abstellt, könnte die Insolvenzantragspflicht – ungeachtet anderer Bedenken – zu früh
einsetzen.744
(1) Überschuldung
Im Fall der Überschuldung verfügt die Ltd. zwar gegenwärtig nicht über ausreichend
Vermögen zur Befriedigung sämtlicher Gläubiger. Der Überschuldungsstatus berücksichtigt aber auch die nicht fälligen Verbindlichkeiten, so dass unter Umständen
noch gar nicht alle Gläubiger Befriedigung verlangen können. Ist die Ltd. Zahlungsfähig und wird die Überschuldung im Laufe der weiteren Geschäftstätigkeit überwunden, käme es nicht zu Forderungsausfällen. Im Fall einer positiven Fortführungsprognose ist die Schutzbedürftigkeit der Gläubiger bei Überschuldung somit
jedenfalls nicht offensichtlich.
743 Nach deutschem Verständnis handelt es sich dabei um eine Frage der Angemessenheit (Verhältnismäßigkeit i.e.S.). Auch der EuGH bezeichnet die Erforderlichkeit mitunter als Verhältnismäßigkeit, so z.B. EuGH, Rs. C-167/01, Slg. 2003, I-10155, Rn. 140 – Inspire Art.
744 Vgl. Schanze/Jüttner, AG 2003, 661 (670), die zwar die Insolvenzantragspflicht als gerechtfertigt ansehen, aber die Antragsgründe und den Zeitpunkt der Antragstellung „im Sinne eines funktionierenden Binnenmarkts“ dem englischen Recht entnehmen wollen.
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Dass die Überschuldung – anders als dies früher nach der modifizierten zweistufigen Überschuldungsprüfung745 der Fall war – auch bei einer positiven Fortführungsprognose einen Eröffnungsgrund darstellt, beruht zum einen auf den Unsicherheiten, die der Fortführungsprognose innewohnen. Zum anderen fällt die Fortführungsprognose immer negativ aus, wenn sich die Gesellschafter – was ihnen unbenommen ist – zur Liquidation der Gesellschaft entschließen. Dann bleibt die Gesellschaft in der Überschuldung „stecken“. Anders als eine natürliche Person, bei der
davon auszugehen ist, dass sie nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens wieder
Vermögen erlangen wird, auf das die Gläubiger grundsätzlich zugreifen können (vgl.
§ 201 Abs. 1 InsO), wird eine Ltd. als juristische Person letztlich beendet werden, so
dass der Grundsatz der freien Nachforderung ins Leere geht. Die mit der Überschuldung verbundene Gefahr der nur teilweisen Befriedigung kann sich also jederzeit realisieren. Den besonderen Gläubigerschutz des Insolvenzrechts nicht schon
mit Eintritt der Überschuldung einsetzen zu lassen, sondern an zusätzliche Voraussetzungen zu knüpfen, würde deshalb den Gefahren nicht in gleicher Weise entgegenwirken.
Auch das englische Recht erkennt im Übrigen die Schutzwürdigkeit der Gläubiger im Fall der Überschuldung an. Zwar ist die Überschuldung selbst kein Eröffnungsgrund. Wenn aber das Gericht von der Überschuldung überzeugt ist, wird nach
s. 123(2) IA 1986 die Zahlungsunfähigkeit vermutet, die wiederum einen Eröffnungsgrund darstellt. Zudem scheidet die gesellschaftsrechtliche Liquidation (das
members‘ voluntary winding up) aus, wenn die Gesellschaft nicht in der Lage ist,
ihre Verbindlichkeiten innerhalb eines Jahres nach Verfahrenseröffnung zu erfüllen.
In diesem Fall können die directors keine statutory declaration of solvency abgeben,
so dass nur ein creditors‘ voluntary winding up in Betracht kommt. Durch die Jahresfrist wird der Solvenztest einem Überschuldungsstatus angenähert.
(2) Zahlungsunfähigkeit
Ist die Ltd. zahlungsunfähig, nicht aber überschuldet, so ist für die Befriedigung der
Gläubiger ausreichend Vermögen vorhanden. Lediglich zur Zahlung bei Fälligkeit
ist die Ltd. außerstande. Das allein kann aber nicht den besonderen Schutz des Insolvenzrechts rechtfertigen, denn die Gläubiger stehen zunächst nicht anders, als
wenn die Ltd. lediglich zahlungsunwillig ist. Bei bloßer Zahlungsunwilligkeit werden die Gläubiger zur Durchsetzung ihrer Forderungen auf die Einzelzwangsvollstreckung verwiesen. Der Gesetzgeber hält die verzögerte Erfüllung der Verbindlichkeiten also noch nicht für ausreichend, um den besonderen insolvenzrechtlichen Gläubigerschutz zu gewähren. Dementsprechend hebt der BGH hervor,
ein Insolvenzverfahren solle „immer – aber auch erst – dann eingeleitet werden,
wenn die Einzelzwangsvollstreckung keinen Erfolg mehr verspricht und nur noch
745 Zur modifizierten zweistufigen Überschuldungsprüfung vgl. BGHZ 119, 201 (213 f.); 129,
136 (154); GK-GmbHG/Ulmer, 8. Aufl., § 63 Rn. 35 ff.
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die schnellsten Gläubiger zum Ziele kommen, die anderen hingegen leer ausgehen,
eine gleichmäßige Befriedigung somit nicht mehr erreichbar ist.“746
Es wird der Zahlungsunfähigkeit als Eröffnungsgrund aber nicht gerecht, sie auf
die verzögerte Befriedigung der Gläubiger zu reduzieren.747 Sie dient dem director
und den Gläubigern auch als Zeichen für eine nicht behebbare Überschuldung, denn
in der Regel geht die Überschuldung der Zahlungsunfähigkeit voraus, ohne von der
Geschäftsführung immer erkannt zu werden. Die Gläubiger können die Überschuldung praktisch nicht erkennen.748 Auf die Zahlungsunfähigkeit als Auslöser für den
besonderen Schutz des Insolvenzrechts kann daher nicht verzichtet werden, ohne die
Gefahren einer tatsächlich schon eingetretenen Überschuldung zu verstärken.
Zudem geht mit der Zahlungsunfähigkeit die Gefahr einher, dass zwar einzelne
Gläubiger durch Zwangsvollstreckungsmaßnahmen Befriedigung erlangen, aber gerade dadurch die Überschuldung herbeigeführt wird und andere Gläubiger mit ihren
Forderungen ausfallen.749 Weil im Fall der Zahlungsunfähigkeit ausreichend liquide
Mittel oder kurzfristig liquidierbares Vermögen fehlen, könnte in das zur Fortführung des Unternehmens unverzichtbare Vermögen vollstreckt werden. Dadurch
würde der Ltd. nicht nur die Grundlage genommen, durch ihre Geschäftstätigkeit
wieder zu Liquidität zu gelangen, sondern auch die Fortführungsprognose droht
negativ auszufallen. Dadurch würde die Überschuldung vorverlagert, weil statt Fortführungswerten lediglich Zerschlagungswerte im Überschuldungsstatus anzusetzen
wären. Dieser mit der Zahlungsunfähigkeit einhergehenden Gefahr für die Gläubiger
könnte durch ein zeitlich späteres Einsetzen des besonderen Schutzes des Insolvenzrechts nicht gleich wirksam begegnet werden.
Schließlich gewährt auch das englische Recht den Gläubigern im Fall der Zahlungsunfähigkeit besonderen Schutz: Die Zahlungsunfähigkeit ist nach s. 122(1)(f)
IA 1986 ein Grund für das compulsory winding up.
bb) Unzureichende Schutzwirkung des englischen Rechts
Auf den besonderen Schutz des deutschen Insolvenzrechts könnte jedoch verzichtet
werden, wenn das englische Recht zumindest gleich geeignete, aber weniger belastende Mittel zum Schutz der Gläubiger bereithalten würde. Das englische Recht
kann natürlich nur insoweit beachtlich sein, als es für eine Ltd. mit Sitz oder COMI
in Deutschland gilt, so dass Schutzvorschriften, die aus tatsächlichen oder Rechtsgründen nur in England wirken, von vornherein unbeachtlich sind. Deshalb sind
746 BGHZ 163, 134 (142).
747 Zur Berechtigung der Zahlungsunfähigkeit als Eröffnungsgrund vgl. Hahn/Mugdan, Materialien KO, S. 291 ff.
748 Vgl. schon Hahn/Mugdan, Materialien KO, S. 291: „Die obligatorischen Beziehungen des
Gemeinschuldners in ihrer Gesamtheit entziehen sich fremdem Einblick; das greifbare Aktivvermögen ist vielfach an verschiedenen Orten zerstreut; der Werth derselben unterliegt fortwährenden Schwankungen.“
749 Vgl. BGHZ 163, 134 (142).
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zumindest aus tatsächlichen Gründen – mangels Durchsetzbarkeit – die meisten
öffentlich-rechtlichen Schutzvorschriften für den Schutz der Gläubiger einer in
Deutschland ansässigen Ltd. ohne Bedeutung, falls sie nach englischem Internationalen Recht überhaupt anwendbar sind. Zivilrechtliche Schutzvorschriften
entfalten zudem aus Rechtsgründen keine Wirkung, wenn das englische Recht sich –
auch aufgrund höherrangigen Gemeinschaftsrechts – nicht für anwendbar erklärt.
Der englische Gesetzgeber ist nicht verpflichtet, seine Schutzvorschriften für weltweit anwendbar zu erklären, nur um in England gegründete Gesellschaften im Fall
ihres Wegzugs vor strengeren ausländischen Schutzvorschriften zu bewahren.
(1) Englisches Insolvenzrecht
Nach s. 214 IA 1986 kann in Deutschland nicht gegen den director vorgegangen
werden, weil es sich bei dieser Vorschrift um nach Art. 4 Abs. 1 EuInsVO unanwendbares englisches Insolvenzrecht handelt. Die Vorschrift kommt auch in einem
englischen Sekundärinsolvenzverfahren nicht zum Tragen, so dass der director sein
Verhalten nicht an ihr ausrichten wird. Ein Vorgehen nach s. 214 IA 1986 hat in
England nämlich kaum Aussicht auf Erfolg:750
Ein Sekundärinsolvenzverfahren nach Art. 3 Abs. 2 EuInsVO kann in England
nur dann eröffnet werden, wenn sich dort eine Niederlassung der Ltd. befindet. Die
Niederlassung definiert Art. 2 Buchst. h EuInsVO als „jeden Tätigkeitsort, an dem
der Schuldner einer wirtschaftlichen Aktivität von nicht vorübergehender Art nachgeht, die den Einsatz von Personal und Vermögenswerten voraussetzt“. Ein in England unterhaltener Briefkasten ist keine Niederlassung i.S.d. EuInsVO. Bei einer
ausschließlich in und von Deutschland aus tätigen Ltd. ist daher die Eröffnung eines
Sekundärinsolvenzverfahrens in England ausgeschlossen.751
Unabhängig davon müssten englische Gerichte für ein Vorgehen nach s. 214
IA 1986 international zuständig sein. Unmittelbar regelt Art. 3 EuInsVO lediglich
die Eröffnungszuständigkeit.752 Und eine vis attractiva concursus, d.h. eine umfassende Zuständigkeit des Insolvenzgerichts für sämtliche mit dem Insolvenzverfahren
in Zusammenhang stehenden Streitigkeiten, war mit der EuInsVO nicht beabsich-
750 Nicht überzeugend daher Leutner/Langner, GmbHR 2006, 713 (714); J. Schmidt, ZInsO
2006, 737 (742). Bicker, S. 229, hält s. 214 IA 1986 in einem englischen Sekundärinsolvenzverfahren zumindest für anwendbar. Die gläubigerschützende Wirkung des s. 214 IA 1986
bezweifelt auch Gernoth, S. 158 f., obwohl er ein Vorgehen nach dieser Vorschrift in einem
englischen Sekundärinsolvenzverfahren für zulässig hält. Zur den Vorzügen der Insolvenzverschleppungshaftung gegenüber der Haftung wegen wrongful trading vgl. Bachner, EBOR
2004, 293 ff.
751 High Court of Justice London, Entscheidung vom 08.12.2006, Nr. 6211/2006 – Hans
Brochier Holdings Ltd.; vgl. auch Triebel/v. Hase/Melerski/v. Hase, Rn. 580; Lach, S. 125;
a.A. Gernoth, S. 153, der Art. 2 Buchst. h EuInsVO weit versteht und immer die Niederlassung am Satzungssitz einbezieht.
752 Anders Lorenz, S. 128: auch für Annexverfahren.
201
tigt.753 Aufgrund Art. 25 Abs. 1 EuInsVO und Art. 1 Abs. 2 Buchst. a EuGVO754 ist
jedoch von einer besonderen Zuständigkeit für Annexverfahren auszugehen, die sich
nach h.M. analog Art. 3 EuInsVO bestimmt.755 Die Entscheidung des EuGH in der
Rechtssache Gourdain./.Nadler spricht dafür, dass ein Vorgehen gemäß s. 214
IA 1986 in einem solchen Annexverfahren zu erfolgen hat. Das ist nicht unumstritten,756 es verbietet sich gerade für die Vertreter der gesellschaftsrechtlichen Qualifikation der Geschäftsleiterhaftung.
Zudem sanktioniert s. 214 IA 1986 die Verletzung einer insolvenzrechtlichen
Pflicht des englischen Rechts („[to take] every step with the view to minimising the
potential loss to the company‘s ceditors“). Diese aus s. 214(3) IA 1986 abzuleitende
Pflicht besteht für den director einer Ltd. mit COMI in Deutschland aber nicht. Seine insolvenzrechtlichen Pflichten ergeben sich allein aus dem deutschen Recht, als
dem Recht des Staates, dessen Gerichte zuständig für die Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens sind. Nur die Verletzung einer Pflicht des deutschen Insolvenzrechts kann daher sanktioniert werden. Verhielte es sich anders, könnte der director
im Fall der Insolvenz sich widersprechenden Pflichten der Rechtsordnungen verschiedenster Staaten ausgesetzt sein.
Ein in England eröffnetes Sekundärinsolvenzverfahren würde ohnehin gemäß
Art. 3 Abs. 2 EuInsVO nur das dort belegene Vermögen erfassen. Die Belegenheit
von Vermögensgegenständen bestimmt sich nach Art. 2 Buchst. g EuInsVO.757 Forderungen sind dort belegen, wo der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hat. Schuldner ist bei einer Entscheidung nach s. 214 IA 1986 der
director. Er hat sein COMI regelmäßig nicht in England, wenn das COMI der Ltd.
sich in Deutschland befindet, sondern ebenfalls in Deutschland. Forderungen gegen
ihn würden deshalb nicht zur Masse des englischen Sekundärinsolvenzverfahrens
gehören. Die Forderungen, die der Verwalter des Sekundärinsolvenzverfahrens erstreiten würde, kämen dem Hauptinsolvenzverfahren zugute. Schließlich könnte ein
vom director in einem Sekundärinsolvenzverfahren nach s. 214 IA 1986 zu entrichtender Betrag nicht die Schäden sämtlicher Gläubiger abdecken, sondern allenfalls
die Schäden der Gläubiger des Sekundärinsolvenzverfahrens.
753 Virgós/Schmit, Rn. 77. Vgl. auch BGH, ZIP 2003, 1419 (1420).
754 Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen.
755 D-K/D/Ch/Duursma-Kepplinger, Art. 25 Rn. 47 f.; MK-BGB/Kindler, IntInsR, Rn. 579;
Pannen/Pannen, Art. 3 Rn. 110; Strobel, S. 115; Carstens, S. 109 f.; Willemer, S. 101. Für
eine Zuständigkeitsbestimmung nur für Insolvenzverfahren MK-InsO/Reinhart, Art. 3
EuInsVO Rn. 4.
756 Dagegen z.B. Strobel, S. 234, 237; Willemer, S. 308; Rauscher/Mäsch, Art. 1 EuInsVO Rn. 9;
Pannen/Pannen, Art. 3 Rn. 114; zweifelnd D-K/D/Ch/Duursma-Kepplinger, Art. 25 Rn. 54.
Für die Einbeziehung von Klagen gegen den Geschäftsführer wegen Insolvenzverschleppung
MK-BGB/Kindler, IntInsR, Rn. 579. Kritisch zur Rechtsprechung des EuGH auch Smid,
IntInsR, Art. 25 EuInsVO Rn. 9.
757 Vgl. Willemer, S. 116.
202
(2) Englisches Gesellschaftsrecht
Das englische Gesellschaftsrecht ist zwar auf eine Ltd. mit COMI in Deutschland
anwendbar. Demnach bestehen für den director grundsätzlich auch in Deutschland
die – teilweise im CA 2006 kodifizierten – fiduciary duties. Soweit aber die Pflicht
„to act bona fide in the interests of the company“ bei Insolvenz auf die Wahrung der
Interessen der Gläubigergesamtheit gerichtet ist, ist sie entgegen der vorherrschenden Ansicht insolvenzrechtlich zu qualifizieren. Die Anwendbarkeit dieser
Pflicht richtet sich nach der EuInsVO. Bei Insolvenz einer Ltd. mit COMI in
Deutschland kommt sie nicht zur Anwendung, weil gemäß Art. 4 Abs. 1, Art. 3
Abs. 1 EuInsVO vor der Verfahrenseröffnung das COMI Anknüpfungsmoment ist.
Statt dessen bestehen die Insolvenzantragspflicht aus § 64 Abs. 1 GmbHG und das
aus § 64 Abs. 2 GmbHG abzuleitende Zahlungsverbot. Die nach englischem Recht
bestehenden fiduciary duties vermitteln daher in der Insolvenz keinen besonderen
Schutz.758
Selbst wenn diese Pflichten in der Insolvenz dem englischen Gesellschaftsrecht
zuzuordnen und demnach anwendbar sein sollten, wären sie nicht annähernd so
wirksam wie die Insolvenzantragspflicht aus § 64 Abs. 1 GmbHG, da unklar ist, ab
wann die Gläubigerinteressen zu berücksichtigen sind und welche Maßnahmen der
director im Interesse der Gläubiger zu ergreifen hat. Es ist zwar nicht ausgeschlossen, dass der director im Einzelfall eine Maßnahme trifft, die den Gläubigern mehr
Schutz bietet als ein unverzüglich nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung gestellter Insolvenzantrag, aber auch das Gegenteil kann der Fall sein.
Solchen Zweifeln begegnet § 64 Abs. 1 GmbHG und gibt damit auch dem director
Sicherheit. Bleibt ihm dagegen die Entscheidung über das Ob und Wie gläubigerschützender Maßnahmen überlassen – und das ist der Ansatz des englischen
Rechts –, dann muss zugleich die gerichtliche Überprüfung dieser Entscheidung
eingeschränkt werden. Andernfalls müsste der director befürchten, dass seine Entscheidungen nachträglich beanstandet werden, und er würde von vornherein denjenigen Weg wählen, der ihn frühestmöglich von der Verantwortung befreit, nämlich
sofort die Geschäftstätigkeit einstellen und ein Liquidationsverfahren einleiten.
Diese mit der zugebilligten Entscheidungsfreiheit notwendig einhergehende Beschränkung der gerichtlichen Überprüfung ist es, die den Pflichten des englischen
Gesellschaftsrechts ihre Wirksamkeit nimmt.
758 Anders Schall, EBLR 2005, 1534 (1553); Korts, Stbg 2006, 549 (551); Krüger, ZInsO 2007,
861 (866). Vgl. auch Bicker, S. 242, der der deutschen Insolvenzverschleppungshaftung Vorrang vor der Haftung wegen Verletzung der fiduciary duties einräumt. Insoweit unklar Bachner, S. 38.
203
cc) Erforderlichkeit der gläubigerschützenden Wirkungen des Insolvenzverfahrens
Es ist demnach nicht zu beanstanden, dass den Gläubigern und dem Geschäftsverkehr im Fall der Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung einer englischen Ltd.
mit COMI in Deutschland besonderer Schutz durch das deutsche Insolvenzrecht
gewährt wird. Dieser Schutz könnte jedoch auf andere, weniger beschränkende Weise erfolgen als durch die Erhaltung des Gesellschaftsvermögens und die Information
des Geschäftsverkehrs, wie es mit der Einleitung des Insolvenzverfahrens bezweckt
wird.
(1) Erhaltung des Gesellschaftsvermögens
Die Sicherung des Gesellschaftsvermögens erfolgt in der Insolvenz, indem dem
director das Verfügungsrecht über das Vermögen der Ltd. entzogen und die Zwangsvollstreckung in das Gesellschaftsvermögen unterbunden wird. Im Eröffnungsverfahren kann dies nach § 21 InsO angeordnet werden, für das eröffnete Insolvenzverfahren ergibt es sich aus § 80 Abs. 1, § 89 Abs. 1 InsO. Dabei handelt es sich um
präventiven Gläubigerschutz. Grundsätzlich soll das Gesellschaftsvermögen gegenständlich erhalten bleiben. Vermögensmindernde Verfügungen sollen verhindert und
nicht lediglich durch Rückgewähr- oder Ersatzansprüche (§ 143 i.V.m. § 129 ff.
InsO, § 31 Abs. 1 GmbHG analog, § 32b S. 1 GmbHG, § 64 Abs. 2 GmbHG, § 823
Abs. 2 BGB i.V.m. § 64 Abs. 1 GmbHG) ausgeglichen werden. Die Kehrseite dieser
Form des präventiven Gläubigerschutzes ist, dass Verfügungen des directors verhindert werden, die – wie auch immer – die Befriedigungsaussichten der Gläubiger
erhöhen. Diese nachteilige Folge würde vermieden, wenn der director weiterhin
Verfügungen treffen könnte und lediglich im Fall des Scheiterns seiner Bemühungen
die durch seine Verfügungen entstandene Minderung des Gesellschaftsvermögens
auszugleichen wäre.
Gegenüber den möglichen Vorteilen des reaktiven Rechtsschutzes überwiegen jedoch die Nachteile, so dass das alleinige Abstellen auf Rückgewähr- oder Ersatzansprüche keine mildere, gleich geeignete Maßnahme darstellt. Ob und in welchem
Umfang aufgrund einer Verfügung eine anderenfalls ausgebliebene Vermögensminderung eingetreten ist, wird sich häufig ohnehin nicht feststellen lassen. Zudem
kann die Geltendmachung der Rückgewähr- oder Ersatzansprüche die Masse zusätzlich belasten. Unter Umständen sind die Ansprüche tatsächlich nicht durchsetzbar, weil der director selbst insolvent ist.
(2) Information des Geschäftsverkehrs
Auch die Information des Geschäftsverkehrs wirkt präventiv. Bedenken gegen deren
Erforderlichkeit ergeben sich daraus, dass sich die Befriedigungsaussichten der
204
Gläubiger womöglich gerade infolge der Information des Geschäftsverkehrs verschlechtern, nämlich wenn der Ruf des Unternehmens unter dem Bekanntwerden der
Insolvenz leidet und Sanierungsbemühungen daraufhin scheitern.759 Als milderes
Mittel könnte der Geschäftsverkehr auf eigene Informationsmöglichkeiten verwiesen werden oder die Ltd. könnte verpflichtet werden, den Geschäftsverkehr in eigener Verantwortung über die Insolvenz in Kenntnis zu setzen.
(a) Selbstschutz des Geschäftsverkehrs
In der Rechtssache Inspire Art hat der EuGH ein nach dem Gründungsrecht nicht
vorgeschriebenes gesetzliches Mindeststammkapital für Scheinauslandsgesellschaften als nicht gerechtfertigte Beschränkung angesehen. Die potentiellen Gläubiger seien wegen des Auftretens der Inspire Art Ltd. als ausländische Gesellschaft
„hinreichend darüber unterrichtet, dass sie anderen Rechtsvorschriften als denen
unterliegt, die in den Niederlanden die Gründung von Gesellschaften mit beschränkter Haftung regeln, unter anderem, was die Vorschriften über das Mindestkapital und die Haftung der Geschäftsführer betrifft.“760 Zudem könnten sich die
Gläubiger auf die Schutzregelungen der Bilanzrichtlinie und der Zweigniederlassungsrichtlinie berufen,761 welche die Offenlegung bestimmter Angaben und
damit die Information des Rechtsverkehrs vorschreiben. Dieses „Informationsmodell“ wird von Teilen der Literatur zum Anlass genommen, auch die Insolvenzantragspflicht als nicht gerechtfertigte Beschränkung der Niederlassungsfreiheit
anzusehen.762
Die Information des Geschäftsverkehrs durch das Auftreten einer Ltd. mit COMI
in Deutschland als ausländische Gesellschaft ist jedoch kein gleich geeignetes Mittel. Für den Geschäftsverkehr ist nicht erkennbar, „dass Limiteds auch nach Eintritt
der Insolvenz weiter operieren dürfen, solange vernünftige Rettungschancen bestehen.“763 Ob der director trotz bestehender Sanierungsmöglichkeiten einen Insolvenzantrag stellen muss, ist eine Frage des anwendbaren Insolvenzrechts, lässt sich also
nicht aus der ausländischen Rechtsform ableiten, sondern aus dem COMI. Auch das
COMI ist für die Gläubiger definitionsgemäß feststellbar. Folgerichtig hat der EuGH
dem Auftreten als ausländische Gesellschaft nur insoweit eine Schutzwirkung beigemessen, als der Geschäftsverkehr dadurch über abweichendes ausländisches Recht
betreffend die Gründung bzw. Errichtung der Gesellschaft informiert ist, wozu die
Insolvenzantragspflicht nicht zählt.
759 Vgl. Uhlenbruck/Uhlenbruck, § 13 Rn. 30: „Wer noch nicht insolvenzreif ist, wird durch das
Bekanntwerden eines Insolvenzantrages sicherlich insolvent.“
760 EuGH, Rs. C-167/01, Slg. 2003, I-10155, Rn. 135 – Inspire Art.
761 EuGH, Rs. C-167/01, Slg. 2003, I-10155, Rn. 135 – Inspire Art; EuGH, Rs. C-212/97,
Slg. 1999, I-1459, Rn. 36 – Centros.
762 v. Hase, BB 2006, 2141 (2147); Reinbach, S. 219; Berner/Klöhn, ZIP 2007, 106 (113).
763 So aber v. Hase, BB 2006, 2141 (2148).
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Ebenfalls kein gleich geeigneter Schutz des Geschäftsverkehrs im Fall der Insolvenz wird durch die Zweigniederlassungsrichtlinie oder die Bilanzrichtlinie erreicht.
Zu veröffentlichen ist zwar nach Art. 2 Abs. 1 Buchst. f der Zweigniederlassungsrichtlinie – umgesetzt durch § 13e Abs. 4 HGB – die Eröffnung des Insolvenzverfahrens. Legt man die „Eröffnung“ i.S.d. Rechtsprechung des EuGH zu Art. 16
EuInsVO aus,764 ist auch die Bestellung eines vorläufigen Insolvenzverwalters einzutragen. Dem Geschäftsverkehr ist mit dieser Eintragung aber nur gedient, wenn
sie möglichst frühzeitig erfolgt. Gerade das wird durch die Insolvenzantragspflicht
erreicht. Die Schutzfunktion der Insolvenzantragspflicht tritt also nicht neben die der
Zweigniederlassungsrichtlinie, sondern die Insolvenzantragspflicht führt erst dazu,
dass die Zweigniederlassungsrichtlinie ihre Wirkung entfalten kann. Folglich kann
die Richtlinie allein nicht den Schutz der Gläubiger und des Geschäftsverkehrs im
Fall der Insolvenz gewährleisten. Auch die Pflicht zur Veröffentlichung der „Unterlagen der Rechnungslegung“ gemäß Art. 2 Abs. 1 Buchst. g der Zweigniederlassungsrichtlinie – umgesetzt durch § 325a HGB – führt nicht rechtzeitig zur Information des Geschäftsverkehrs über die Insolvenz. Es ist schon fraglich, ob der
Geschäftsverkehr überhaupt in der Lage ist, die Unterlagen der Rechnungslegung
auszuwerten, zumal bei einer Ltd. lediglich nach englischem Recht erstellte Unterlagen eingereicht werden müssen. Jedenfalls gibt die Rechnungslegung keinen Aufschluss über die gegenwärtige finanzielle Lage, wenn die Unterlagen gemäß
s. 442(2)(a), ss. 444 ff. CA 2006 erst neun Monate765 nach Endes des Geschäftsjahrs
beim Companies House eingereicht werden müssen.
(b) Information durch die Ltd.
Kein gleich geeignetes Mittel zum Schutz des Geschäftsverkehrs ist es schließlich,
dessen Information über die Insolvenz der Ltd. zu überlassen, statt durch öffentliche
Bekanntmachung und Registereintragung zu erzwingen. Zwar sieht auch der BGH
eine GmbH als verpflichtet an, „die finanzielle Unfähigkeit der Gesellschaft, die
vereinbarte Vertragsleistung zu erbringen,“ zu offenbaren.766 Eine Pflicht gleichen
Inhalts dürfte auch eine englische Ltd. treffen, wenn sie in Deutschland tätig wird.
Allerdings soll bei Verletzung der die GmbH treffenden Pflicht durch den für sie
handelnden Geschäftsführer dieser nicht als „Vertrauensträger“ in Anspruch genommen werden können.767 Ein Vorgehen gegen die Gesellschaft selbst ist angesichts ihrer Insolvenz sinnlos. Bleibt die Pflichtverletzung demnach ohne Sanktion,
kann die zugrunde liegende Pflicht nicht als geeignetes Mittel zum Schutz des Geschäftsverkehrs angesehen werden.
764 EuGH, Rs. C-341/04, Slg. 2006, I-3813, Rn. 58 – Eurofood.
765 Bislang zehn Monate, bei Geschäftstätigkeit im Ausland auf Antrag sogar dreizehn Monate,
vgl. s. 242(1)(a), s. 244 (1)(a), (3) CA 1985.
766 BGHZ 126, 181 (189).
767 BGHZ 126, 181 (189 f.).
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dd) Erforderlichkeit der Antragspflicht trotz Erleichterung von Gläubigeranträgen
Die Insolvenzantragspflicht ist auch Ausgleich für die nach deutschem Recht vergleichsweise hohen Anforderungen an Insolvenzanträge von Gläubigern. Demnach
könnte als milderes Mittel gegenüber der Insolvenzantragspflicht in Betracht kommen, geringere Anforderungen an die Insolvenzanträge von Gläubigern zu stellen.768
Die wesentliche Hürde für den Insolvenzantrag eines Gläubigern besteht nicht in
der nach § 14 Abs. 1 InsO erforderlichen Glaubhaftmachung, also einer Beschränkung der Beweismittel (vgl. § 4 InsO i.V.m. § 294 ZPO), sondern darin, dass sich die
Glaubhaftmachung (auch) auf den Eröffnungsgrund beziehen muss. Zwar ist es ausreichend, wenn der Gläubiger Umstände glaubhaft macht, die insgesamt auf einen
Eröffnungsgrund schließen lassen. Aber es fehlt eine gesetzliche Regelung, wonach
ein Gläubiger seinen Antrag auf einen bestimmten, für ihn ohne weiteres feststellbaren Umstand – ein Indiz – stützen kann.769 Durch die Einführung solcher Indizien,
wie sie beispielsweise das englische Recht kennt, könnten Gläubigeranträge erleichtert werden. Ob es sich dabei um ein gleich geeignetes milderes Mittel handelt,
ist nach der Wirkung solcher Indizien zu beurteilen.
Zum einen könnten sich die Wirkungen auf die Zulässigkeit des Antrags beschränken. Der Gläubiger würde unter vereinfachten Voraussetzungen die Ermittlung eines Eröffnungsgrunds von Amts wegen (vgl. § 5 Abs. 1 S. 1 InsO) erreichen.
Das Gericht könnte jedoch zu dem Ergebnis kommen, dass ein Eröffnungsgrund
tatsächlich nicht vorliegt, so dass der Antrag letztlich als unbegründet abgewiesen
werden müsste. Dem Gläubiger dürften die Kosten des Verfahrens nicht auferlegt
werden, weil Gläubiger sonst wegen des Kostenrisikos von der Antragstellung absehen würden und die vermeintliche Erleichterung ins Leere liefe. Dem Schuldner die
Kosten aufzuerlegen, würde diesen benachteiligen und daher kein milderes Mittel
darstellen. Die Staatskasse müsste also die Kosten des Verfahrens tragen. Aufgrund
des finanziellen Mehraufwands für den Staat würde es sich dann jedoch nicht um ein
gleich geeignetes Mittel handeln.
Zum anderen könnten sich die Wirkungen auf die Begründetheit des Antrags erstrecken. Dadurch entfiele das Kostenrisiko für Gläubiger. Allerdings würde das
Gericht das Insolvenzverfahren aufgrund einer gesetzlichen Vermutung eröffnen,
u.U. ohne dass der Schuldner tatsächlich insolvent ist. Nach bisheriger Rechtsprechung würde sich ein Gläubiger gegenüber dem Schuldner nicht einmal schadensersatzpflichtig machen, wenn er bei der Antragstellung fahrlässig verkennen würde,
dass der Schuldner tatsächlich nicht insolvent ist.770 Dem Schuldner drohen also
erhebliche Risiken. Daher ist auch diese Lösung kein milderes Mittel.
768 Vgl. Hirte/Bücker/Hirte, § 1 Rn. 74a; Schall, EBLR 2005, 1534 (1547). Für die Gemeinschaftsrechtswidrigkeit der Insolvenzantragspflicht angesichts des Antragsrechts der Gläubiger Reinbach, S. 219; v. Hase, BB 2006, 2141 (2148).
769 Vgl. aber BGH, NJW-RR 2006, 1422 (1423).
770 BGHZ 36, 18 ff.; OLG Düsseldorf, ZIP 1994, 479. Ebenso GK-InsO/Gerhardt, § 13 Rn. 54;
Uhlenbruck/Uhlenbruck, § 13 Rn. 30, m.w.N. auch zur Gegenansicht. Mit vergleichbarer Begründung zum Betreiben der Zwangsvollstreckung: BGHZ 118, 201 (206); 74, 9 (14). Es
207
Schließlich hat die Erleichterung von Gläubigeranträgen nicht den gleichen
Schutz der Gläubigergesamtheit zur Folge wie die Insolvenzantragspflicht. Kein
Gläubiger muss sein Antragsrecht wahrnehmen. Für einen einzelnen Gläubiger kann
es durchaus vorteilhaft sein, dass die Eröffnung des Insolvenzverfahrens unterbleibt,
weil er dann weiterhin die Zwangsvollstreckung betreiben und auf seine Befriedigung hoffen kann. Dies würde allerdings auf Kosten der übrigen Gläubiger gehen,
deren Forderungen entweder noch nicht fällig sind oder die von dem das Antragsrecht begründenden Umstand keine Kenntnis haben. Solchen Benachteiligungen soll
die Insolvenzantragspflicht jedoch gerade entgegenwirken, indem in der Insolvenz
der Grundsatz der Gläubigergleichbehandlung durchgesetzt wird.
b) Verhältnismäßigkeit der Insolvenzantragspflicht
Mildere, gleich geeignete Mittel zum Schutz der Gläubiger bei Zahlungsunfähigkeit
oder Überschuldung als die Insolvenzantragspflicht aus § 64 Abs. 1 GmbHG sind
also nicht ersichtlich. Jedoch könnte das Schutzniveau der Vorschrift zu hoch sein
und die Insolvenzantragspflicht die Niederlassungsfreiheit dadurch unverhältnismäßig beschränken. Diesem Ansatz hat der EuGH jedoch eine Absage erteilt:
„Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass die Tatsache, dass ein Mitgliedstaat weniger strenge Vorschriften erlässt als ein anderer, nicht bedeutet, dass dessen Vorschriften unverhältnismäßig
und folglich mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar sind. Der Umstand allein, dass ein Mitgliedstaat andere Schutzregelungen als ein anderer Mitgliedstaat erlassen hat, ist nämlich für
die Beurteilung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit der einschlägigen Bestimmungen
ohne Belang.“771
Entgegen einer in der Literatur vertretenen Ansicht772 lässt sich auch nicht aus
Art. 13 EuInsVO ableiten, das Schutzniveau im Fall der Insolvenz werde durch das
englische Recht bestimmt, so dass § 64 Abs. 1 GmbHG mangels einer entsprechenden englischen Vorschrift nicht gelten könne. Gemäß Art. 13 EuInsVO ist eine
Rechtshandlung – abweichend von Art. 4 Abs. 2 Buchst. m EuInsVO – nicht nach
der lex fori concursus anfechtbar, wenn der Anfechtungsgegner nachweist, dass die
Handlung einem anderen Recht unterliegt und nach diesem in keiner Weise angreifbar ist. Art. 13 EuInsVO lässt sich nicht dahingehend verallgemeinern, die Haftungsbleibt bei Ansprüchen aus §§ 823 Abs. 1, 826 BGB bei einem vorsätzlich unbegründeten Antrag und ggf. nach § 824 Abs. 1 BGB.
771 EuGH, Rs. C-108/96, Slg. 2001, I-837, Rn. 33 f. – Mac Quen. Ähnlich schon EuGH,
Rs. C-124/97, Slg. 1999, I-6067, Rn. 36 – Läärä; EuGH, Rs. C-384/93, Slg. 1995, I-1141,
Rn. 45 – Alpine Investments; EuGH, Rs. C-3/95, Slg. 1996, I-6511, Rn. 42 – Reisebüro Broede. Noch deutlicher Streinz/Müller-Graff, Art. 43 EGV Rn. 80, Fn. 230: „Fehlt abschließendes Gemeinschaftsrecht, steht es jedem Mitgliedstaat zu, das angestrebte Schutzniveau selbst
zu bestimmen.“ Entgegengesetzt aber Niemeyer, S. 75: „Rechtfertigen lässt sich eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit nur, wenn das durch das Gründungsrecht vermittelte
Gläubigerschutzniveau evident unzureichend ist.“
772 Schall, ZVI 2007, 236 (238); ders., DStR 2006, 1229 (1232).
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tatbestände der lex fori concursus komme nur zur Anwendung, wenn auch das Recht
des Staats, in dem der Schuldner seinen Sitz hat, entsprechende Normen kenne.773
Zum einen handelt es sich bei Art. 13 EuInsVO um eine eng begrenzte Ausnahmeregelung, die nur für die Anfechtbarkeit einer Rechtshandlung gilt, nicht einmal für
die – ebenfalls in Art. 4 Abs. 2 Buchst. m EuInsVO genannte – Nichtigkeit und relative Unwirksamkeit wegen Gläubigerbenachteiligung. Zum anderen setzt Art. 13
EuInsVO voraus, dass (für die Rechtshandlung) ein anderes Recht als die lex fori
concursus maßgeblich ist. Die Insolvenzantragspflicht bei einer englischen Ltd. mit
COMI in Deutschland unterliegt jedoch deutschem Recht als der lex fori concursus.
Aus diesen Gründen kann aus Art. 13 EuInsVO nicht die Unverhältnismäßigkeit der
Insolvenzantragspflicht abgeleitet werden.
Aus der Rechtsprechung des EuGH ergibt sich sogar, dass eine Beschränkung der
Niederlassungsfreiheit nur ausnahmsweise unverhältnismäßig ist, nämlich wenn eine
Maßnahme der „Negierung der den Gesellschaften in den Artikeln 43 EG und 48 EG
zuerkannten Niederlassungsfreiheit“ gleichkommt.774 Daran wäre allenfalls zu
denken, wenn eine überschuldete Ltd. sich daran gehindert sähe, ihr COMI nach
Deutschland zu verlegen,775 weil hier unverzüglich die Eröffnung des Insolvenzverfahrens beantragt werden müsste. Selbst dieser Fall kann aber nicht als „Negierung“ der Niederlassungsfreiheit angesehen werden:
Auch nach englischem Recht können die Gläubiger im Fall der Überschuldung
(„balance sheet insolvency“) einer Ltd. ein compulsory winding up beantragen und
damit die Liquidation der Ltd. erreichen. Der Unterschied zum deutschen Recht
besteht lediglich darin, dass der director einer Ltd. das compulsory winding up nicht
in jedem Fall einleiten muss. Er hat „nur“ die Pflicht „to act bona fide in the
interests of the company as a whole“, wobei auf die Interessen der Gläubigergesamtheit abzustellen ist, und – sofern die Liquidation unabwendbar erscheint –
„[to take] every step with the view to minimising the potential loss to the company‘s
ceditors“.
Im Übrigen ist dem director die weitere Geschäftstätigkeit trotz Überschuldung
nach englischem Recht (nur) gestattet, weil auf diese Weise die Überschuldung überwunden und die Befriedigung sämtlicher Gläubiger erreicht werden könnte.776 Das
ist folgerichtig, denn der Zustand der Überschuldung wird vom englischen Recht
nicht grundsätzlich missbilligt. Eine Ltd. darf sich also überschulden, ohne dass der
director durch die Insolvenzantragspflicht faktisch an der Fortführung der Geschäfte
gehindert wird. Löst dagegen die Überschuldung einer Ltd. – wie nach deutschem
Recht – eine Insolvenzantragspflicht aus, ist es nicht erforderlich, die Gläubiger
dadurch schützen zu wollen, dass der director die Geschäfte fortführen kann. Die
773 So aber Schall, ZVI 2007, 236 (238); ders., DStR 2006, 1229 (1232).
774 EuGH, Rs. C-208/00, Slg. 2002, I-9919, Rn. 93 – Überseering.
775 Vgl. Römermann/Mincke, L Rn. 28 f.; Bachner, S. 65 ff.; Volb, Rn. 580; Renner, S. 134;
Redeker, S. 244 f.
776 Secretary of State for Trade and Industry v. Taylor [1997] 1 WLR 407, 414; Facia Footwear
Ltd (in administration) v Hichcliffe [1998] 1 BCLC 218, 228; Re Cubelock [2001] BCC 523,
541 f.
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Befriedigungsaussichten der Gläubiger würden sich durch die Geschäftsfortführung
in der Regel verschlechtern. Daraus ergibt sich, dass nach englischem Verständnis
durch die Insolvenzantragspflicht im Fall der Überschuldung allenfalls die Gläubiger der zuziehenden Ltd. benachteiligt werden. Dagegen gewährt das englische
Recht der Ltd. als Unternehmung ihrer Gesellschafter im Fall der Überschuldung
keinen Schutz mehr.
Die Gläubiger einer Ltd. werden jedoch nicht unverhältnismäßig benachteiligt,
wenn durch § 64 Abs. 1 GmbHG ein Insolvenzantrag erzwungen wird, statt die
Überwindung der Überschuldung ohne Eröffnung eines Insolvenzverfahrens zu
ermöglichen, denn die Gläubiger haben trotz Verfahrenseröffnung die Möglichkeit,
ihre Interessen durchzusetzen. Zum einen können sie auf einen Insolvenzplan hinwirken und damit die Aufhebung des Insolvenzverfahrens erreichen, vgl. § 258
Abs. 1 InsO. Zum anderen können die Gläubiger gemäß § 213 InsO der Einstellung
des Insolvenzverfahrens zuzustimmen. Weil die Ltd. mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht aufgelöst ist und es daher nicht zu einem gesellschaftsrechtlichen Liquidationsverfahren kommt, kann die Ltd. trotz bestehender Überschuldung weiterhin bzw. wieder werbend tätig sein.777 Es ist aber gerechtfertigt,
dass zunächst ein Insolvenzverfahren eingeleitet werden muss, weil nur so eine
gerichtliche Feststellung der Überschuldung erreicht und durch die öffentlichen
Bekanntmachung der Eröffnung, Aufhebung bzw. Einstellung des Insolvenzverfahrens (vgl. § 30 Abs. 1, § 258 Abs. 2, § 215 Abs. 1 InsO) auch der Geschäftsverkehr geschützt wird.
IV. Zwischenergebnis
Aus dem Umstand, dass der director einer englischen Ltd. mit COMI in Deutschland
nach § 64 Abs. 1 GmbHG bei Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung unverzüglich die Eröffnung des Insolvenzverfahrens beantragen muss, folgt somit keine nicht
gerechtfertigte Beschränkung der Niederlassungsfreiheit.
§ 12. Gemeinschaftsrechtskonformität der Strafbewehrung
Die Gemeinschaftsrechtswidrigkeit des § 84 Abs. 1 Nr. 2 GmbHG könnte sich einerseits aus dem Tatbestand, andererseits aus den angedrohten Rechtsfolgen ergeben.
Beides ist im Ergebnis zu verneinen, so dass auch die Bestrafung des directors einer
englischen Ltd. mit COMI in Deutschland nach § 84 Abs. 1 Nr. 2 GmbHG nicht
gegen das Gemeinschaftsrecht verstößt.
777 Bei einer deutschen GmbH soll neben einem Beschluss der Gesellschafter über die Fortsetzung der mit dem Eröffnungsbeschluss aufgelösten Gesellschaft (§ 60 Abs. 1 Nr. 4 HS. 2
GmbHG) nach h.M. zumindest die Behebung der Überschuldung erforderlich sein, vgl.
Scholz/K. Schmidt, vor § 64 Rn. 89; GK-GmbHG/Ulmer, 8. Aufl., § 60 Rn. 86.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Nach noch herrschender Meinung kann der director einer englischen private company limited by shares (Ltd.) nicht wegen Insolvenzverschleppung nach § 84 Abs. 1 Nr. 2 GmbHG bestraft werden. Dem tritt der Autor entgegen und zeigt, dass mit dieser Strafvorschrift sehr wohl gegen gläubigergefährdendes Verhalten des directors einer Ltd. vorzugehen ist.
Denn die Auslegung des Begriffs „Geschäftsführer“ ergibt, dass dieser die Organe ausländischer Gesellschaften mit beschränkter Haftung einbezieht. Für die Organe solcher Gesellschaften besteht auch eine Insolvenzantragspflicht nach § 64 Abs. 1 GmbHG, weil diese Vorschrift dem Insolvenzrecht zuzuordnen und über Art. 4 Abs. 1 EuInsVO anwendbar ist.
Darauf aufbauend werden die Besonderheiten des § 84 Abs. 1 Nr. 2 GmbHG im Fall der Insolvenz einer Ltd. dargestellt, z.B. die Strafbarkeit nach der dissolution, die Begehung durch einen shadow director, die Aufstellung des Überschuldungsstatus und die Antragstellung im Ausland. Abschließend wird die Vereinbarkeit der Insolvenzantragspflicht und ihrer Strafbewehrung mit dem Recht der EG behandelt. Die gefundenen Ergebnisse sind im Wesentlichen auf § 15a Abs. 4 InsO n.F. übertragbar.