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abzutreten. Das Risiko mit diesen (häufig unsicheren) Ansprüchen auszufallen wird
dadurch allein dem Schadensersatzpflichtigen aufgebürdet.702 Den Ersatzberechtigten trifft also gerade keine Pflicht, den vom Schädiger zu ersetzenden Schaden mit
der Durchsetzung von Herausgabeansprüchen gegen Dritte zu mindern. Die Regel
des § 254 Abs. 2 BGB, nach der es dem Ersatzberechtigten auch obliegt, solche
Maßnahmen zu ergreifen, die einen bereits entstandenen Schaden zu mindern vermögen, wird insoweit durch die speziellere Wertung des § 255 BGB verdrängt. Die
Annahme, der Insolvenzverwalter sei gegenüber dem Gesellschafter verpflichtet,
erfolgversprechende Anfechtungsansprüche durchzusetzen, um auf diese Weise den
zu ersetzenden Schaden zu mindern, ist daher mit der gesetzgeberischen Wertung
aus § 255 BGB nicht vereinbar.
Abgesehen von diesen dogmatischen Bedenken vermögen aber auch die Ergebnisse dieser „Subsidiaritätslösung“ nicht zu überzeugen. Ein Leistungsverweigerungsrecht des Gesellschafters gibt nur dann einen Sinn, wenn die daraus abgeleitete
Anfechtungspflicht des Insolvenzverwalters bei dessen Untätigkeit nicht einfach
sanktionslos unterginge.703 Sonst wäre der Gesellschafter, sobald die Möglichkeit
zur Insolvenzanfechtung und damit auch sein Leistungsverweigerungsrecht wegfiele, zum Ersatz des gesamten Schadens verpflichtet, ohne dass er bei einem Dritten
Regress nehmen könnte. Gleichwohl wollen die Vertreter der „Subsidiaritätslösung“
an die Untätigkeit des Insolvenzverwalters offenbar keine Rechtsfolgen knüpfen und
die Inanspruchnahme des Schadensersatzpflichtigen zulassen, sobald die Anfechtungsmöglichkeit nicht mehr gegeben ist.704 Dann ist dem Gesellschafter aber mit
einem Leistungsverweigerungsrecht wenig geholfen. Die Subsidiaritätslösung ist
damit abzulehnen.
II. Lösung entsprechend § 255 BGB
Das bisher Gesagte spricht vielmehr für eine Lösung entsprechend § 255 BGB.
Danach wäre der Insolvenzverwalter in keinem Fall verpflichtet, zunächst den Anfechtungsgegner in Anspruch zu nehmen, sondern könnte sich für die jeweils erfolgversprechendste Möglichkeit der Masseanreicherung frei entscheiden. Wenn er dann
den Rückgewähranspruch gegen den Anfechtungsgegner durchsetzt, entfällt insoweit der bereits entstandene Schadensersatzanspruch gegen den Gesellschafter.
Nimmt der Insolvenzverwalter dagegen den Gesellschafter in Anspruch, muss er
diesem den Rückgewähranspruch aus § 143 Abs. 1 InsO abtreten. Es läge dann beim
702 Müller, ZIP 1996, 1153, 1154.
703 Müller, ZIP 1996, 1153, 1156; Glöckner, JZ 1997, 623, 625.
704 So für die Geschäftsführer nach § 64 Abs. 2 GmbHG ausdrücklich Scholz- K.Schmidt,
GmbHG 9. A. (2002), § 64 Rn. 35; implizit auch Hachenburg- Ulmer, GmbHG 8. A.
(1997), § 64 Rn. 43; Lutter/ Hommelhoff, GmbHG 14. A. (1995), § 64 Rn. 11.
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Gesellschafter, die Erfolgsaussichten der Anfechtung zu prüfen und gegebenenfalls
auf eigene Kosten und eigenes Risiko Ausgleich zu suchen. Durch diese Lösung
würde nicht nur eine Bereicherung der Masse vermieden, sondern die Haftungsbelastung auch auf den Beteiligten abgewälzt, der den Schaden im Ergebnis tragen
soll.
Schwierigkeiten bereitet diese Lösung allerdings insofern, als nach § 129 InsO
ausschließlich der Insolvenzverwalter zur Geltendmachung von Anfechtungsansprüchen zuständig ist. Unter Geltung der KO, die in § 36 die Ausübung des Anfechtungsrechts ebenfalls dem Konkursverwalter zuwies, wurde daraus überwiegend
gefolgert, dass Anfechtungsansprüche (zumindest grundsätzlich) nicht übertragbar
sind.705 Das Anfechtungsrecht sei untrennbar mit dem Konkursverfahren und dem
Amt des Konkursverwalters verbunden. Die Abtretbarkeit sei schon durch den Inhalt
des Rückgewähranspruchs ausgeschlossen (§ 399 BGB), der lediglich dazu diene,
die Rechtszuständigkeit der haftungsrechtlichen Lage anzupassen. Der Sache nach
beruht die Annahme der Unübertragbarkeit dabei auf der Überlegung, dass der Erfolg der Anfechtung allein der Insolvenzmasse zugute kommen soll.706
Allerdings erscheint fraglich, ob diese Auffassung nicht schon dadurch obsolet
geworden ist, dass § 146 InsO den Rückgewähranspruch nach § 143 InsO im Gegensatz zur KO als ein gewöhnliches, der Verjährung unterliegendes Forderungsrecht ausgestaltet hat.707 Diese Frage kann aber letztlich offen bleiben. Denn auch
wenn man die gegen die Abtretbarkeit des Rückgewähranspruchs vorgebrachten
Einwände grundsätzlich teilte, spräche nichts dagegen, die Übertragung des Anfechtungsanspruchs für die vorliegende besondere Fallkonstellation ausnahmsweise
zuzulassen. Denn die sachlichen Bedenken greifen nicht mehr durch, wenn die Masse durch die Ersatzleistung des Gesellschafters bereits erlangt hat, was von den Anfechtungsgegnern zurückzugewähren ist.708 Die Masse wird von der Geltendmachung der Anfechtungsansprüche in diesem Fall nicht mehr berührt.709 Der Zweck
des Anfechtungsmonopols des Insolvenzverwalters, den Erfolg der Anfechtung
allein der Insolvenzmasse zugute kommen zu lassen, ist auch im Fall der Schadensersatzleistung des Gesellschafters erreicht und vermag eine strenge Durchsetzung
705 RG Urt. v. 5. 1. 1893 - VI. Zivilsenat 228/92 - RGZ 30, 71, 72 ff ; BGH Urt. v. 10. 2.
1982 - VIII ZR 158/80 - BGHZ 83, 102, 105; Kilger- K. Schmidt, Insolvenzgesetze 17. A.
(1997) , § 36 KO Anm. 2; für die Abtretbarkeit des Wertersatzanspruchs Jaeger- Henckel,
Konkursordnung 9. A. (1997), § 37 Rn. 83; für generelle Übertragbarkeit dagegen Eckhardt, KTS 1993, 585, 585 ff; dem folgend HK- Kreft, Insolvenzordnung (1999), § 129
Rn. 88.
706 Jaeger- Henckel, Konkursordnung 9. A. (1997), § 37 Rn. 83; Glöckner, JZ 1997, 623, 626.
707 So MünchKomm- Kirchhof, Kommentar zur Insolvenzordnung (2002), § 129 Rn. 214.
708 Henze/ Bauer, Kölner Schrift zur Insolvenzordnung 2. A. (2000), S. 1311, 1330.
709 Müller, ZIP 1996, 1153, 1155 behauptet gar, der Anfechtungsanspruch gehöre nach der
Schadensersatzleistung gar nicht mehr zur Masse; dagegen aber zurecht Glöckner, JZ
1997, 623, 626.
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des Abtretungsverbots nicht mehr zu rechtfertigen.710 Jedenfalls für den hier interessierenden Fall muss es dem Insolvenzverwalter damit erlaubt sein, den Anfechtungsanspruch abzutreten.711
Damit steht einer Lösung entsprechend § 255 BGB nichts mehr entgegen. Nimmt
danach der Insolvenzverwalter den Gesellschafter in Anspruch, muss er ihm die
Anfechtungsansprüche abtreten. Die Anfechtungsgegner können dem Gesellschafter
nach § 404 BGB alle Einwendungen entgegenhalten, die zur Zeit der Abtretung
gegen den bisherigen Gläubiger begründet waren, insbesondere auch die Einrede der
Verjährung (§ 214 BGB). Damit stellt sich die Frage, ob der Gesellschafter auch
dann noch voll haften muss, wenn der Insolvenzverwalter die Regressmöglichkeiten
des Gesellschafters vereitelt. Wie gezeigt, kann dem Insolvenzverwalter nicht vorgeworfen werden, dass er nicht vorrangig die Anfechtungsgegner in Anspruch genommen hat. Das darf aber nicht dazu führen, dass der Insolvenzverwalter die gesetzgeberische Vorgabe, nach der im Ergebnis die Anfechtungsgegner vorrangig
belastet werden sollen, unterlaufen darf.712 Ihn trifft daher die Pflicht, sich vor Ablauf der Verjährungsfrist der Anfechtungsansprüche zu entscheiden, gegen welchen
Schuldner er vorgehen will.713 Will er den Gesellschafter in Anspruch nehmen, muss
das zu einem Zeitpunkt geschehen, in dem die Anfechtungsansprüche noch bestehen
und nicht verjährt sind. Verzögert der Insolvenzverwalter schuldhaft die Inanspruchnahme des Anfechtungsgegners, so mindert sich nach §§ 254, 278 BGB die
Schadensersatzpflicht des Gesellschafters gegenüber der Masse.714 Das gleiche gilt
für den Fall, dass der Insolvenzverwalter die Anfechtungsansprüche durch Erlass
zum Erlöschen gebracht hat. Eine persönliche Haftung des Insolvenzverwalters
gegenüber dem Gesellschafter nach § 60 Abs. 1 Satz 1 InsO scheidet in diesen Fällen dagegen aus, weil die Pflicht, sich die eigene Leistung nicht unmöglich zu machen, keine insolvenzspezifische, sondern eine allgemeine Pflicht ist.715
710 Glöckner, JZ 1997, 623, 626.
711 So für die Geschäftsführerhaftung nach § 64 Abs. 2 GmbHG im Ergebnis auch Roth/
Altmeppen, GmbHG 4. A. (2003), § 64 Rn. 47; Baumbach/ Hueck- Schulze-Osterloh,
GmbHG 17. A. (2000), § 64 Rn. 79; Henze/ Bauer, Kölner Schrift zur Insolvenzordnung
2. A. (2000), S. 1311, 1330; Glöckner, JZ 1997, 623, 626; Müller, ZIP 1996, 1153, 1155;
auch Kübler/ Prütting- Noack, Insolvenzordnung, Sonderband Gesellschaftsrecht (1999),
Rn. 331.
712 Glöckner, JZ 1997, 623, 628.
713 Glöckner, JZ 1997, 623, 628; Henze/ Bauer, Kölner Schrift zur Insolvenzordnung 2. A.
(2000), S. 1311, 1331 f; ähnlich Müller, ZIP 1996, 1153, 1156 f.
714 So für die Geschäftsführerhaftung nach § 64 Abs. 2 GmbHG Glöckner, JZ 1997, 623, 627
f; im Ergebnis ganz ähnlich Henze/ Bauer, Kölner Schrift zur Insolvenzordnung 2. A.
(2000), S. 1311, 1331, die für diesen Fall einen Schadensersatzanspruch gegen die Masse
aus § 280 a. F. BGB (§§ 280 Abs. 1, Abs. 3, 283 S. 1 n.F. BGB), 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO annehmen wollen, den der Geschäftsführer dann seiner Inanspruchnahme entgegenhalten
kann.
715 Henze/ Bauer, Kölner Schrift zur Insolvenzordnung 2. A. (2000), S. 1311, 1331.
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Mit der Anspruchskürzung gemäß §§ 254, 278 BGB ist im Übrigen keine
Schlechterstellung der Masse verbunden. Die Masse erhält vielmehr in der Höhe, in
der die Ersatzpflicht des Gesellschafters durch die schuldhafte Pflichtverletzung des
Insolvenzverwalters gemindert wurde, einen Schadensersatzanspruch gegen den
Insolvenzverwalter aus § 60 InsO.716
716 Dabei handelt es sich dann um einen Gesamtschaden, der zur Masse einzufordern ist und
nur von einem neu bestellten Insolvenzverwalter geltend gemacht werden kann, § 92 InsO; näher dazu Häsemeyer, Insolvenzrecht 3. A. (2003), Kap. 6.38, S. 116 und Kap. 12.04
f, S. 274 f.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Seit dem „Bremer Vulkan“-Urteil des BGH vom 17.09.2001 ist die Frage nach einer Gesellschafterhaftung für existenzvernichtende Eingriffe eines der meist diskutierten Probleme im GmbH-Recht. Während in den Stellungnahmen zu diesem Problemkreis zumeist ohne weiteres davon ausgegangen wird, dass das gesetzliche Schutzinstrumentarium zur Bewältigung der Folgen existenzvernichtender Eingriffe nicht ausreichend sei, setzt sich der Autor ausführlich mit diesen Instrumenten, insbesondere den Möglichkeiten des insolvenzrechtlichen Anfechtungsrechts, auseinander; er untersucht eingehend, ob die für die rechtsfortbildende Entwicklung einer solchen Haftung erforderliche planwidrige Gesetzeslücke vorliegt. Im Ergebnis hält er – ebenso wie die Rechtsprechung und die meisten Literaturstimmen – die Etablierung einer Existenzvernichtungshaftung für methodologisch zulässig und rechtspolitisch sinnvoll. Anders als der BGH, der die Existenzvernichtungshaftung zunächst als Durchgriffshaftung und später als besondere Fallgruppe des § 826 BGB eingeordnet hat, sieht der Verfasser die dogmatische Grundlage der Haftung aber in der mitgliedschaftlichen Sonderverbindung des Gesellschafters zur GmbH.