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kung der Privatautonomie erfolgt immer erst rückwirkend, ohne konkrete Verhaltenspflichten für den Zeitraum vor der Antragspflicht aufzustellen. Insofern steuert
das Anfechtungsrecht das Verhalten des Schuldners nur mittelbar. Jedenfalls zielt
die Anfechtungsregelung anders als das Existenzvernichtungsverbot nicht darauf ab,
solche Verhaltenspflichten (für den Schuldner oder Dritte) aufzustellen, die das
Eintreten des Insolvenzfalles nach Möglichkeit verhindern sollen.
Bei der Insolvenzanfechtung geht es allein um die nachträgliche Vergrößerung
der Haftungsmasse, wenn der Insolvenzfall bereits eingetreten ist. 525 Ob es unter
bestimmten Voraussetzungen eine Haftung für die Verursachung der Insolvenz des
Schuldners geben soll, liegt dagegen außerhalb des Regelungsbereichs des Anfechtungsrechts. Der Anerkennung einer Haftung der Gesellschafter für bestimmte insolvenzverursachende Eingriffe in das Vermögen oder die Geschäftschancen der
Gesellschaft, um die es bei der Existenzvernichtungshaftung gerade geht, steht das
Anfechtungsrecht daher nicht entgegen. Damit ist über die methodologische Zulässigkeit der Entwicklung eines Existenzvernichtungsverbots aber noch nicht endgültig entschieden.
C. Kapitalerhaltungsvorschriften keine abschließende Regelung
Zu prüfen bleibt, ob die §§ 30, 31 GmbHG als Ausdruck des dahingehenden gesetzgeberischen Willens zu verstehen sind, dass die Dispositionsbefugnis der Gesellschaftergesamtheit über das Gesellschaftsvermögen in der werbenden Gesellschaft
bis zur Grenze der §§ 30, 31 GmbHG unbeschränkt sein soll.526 Für die Entwicklung
einer Existenzvernichtungshaftung im Wege der Rechtsfortbildung wäre dann kein
Raum. In diesem Fall würde Gläubigerschutz in erster Linie durch die Vorschriften
über die Aufbringung und Erhaltung des Stammkapitals - flankiert durch die §§ 32
a, 32 b GmbHG und die von der Rechtssprechung zum Eigenkapitalersatz
entwickelten Regeln - und die Insolvenzantragspflicht nach § 64 GmbHG
gewährleistet.
525 Entsprechend geht es bei der Gläubigeranfechtung nach dem AnfG allein um die Erweiterung des Kreises der Vollstreckungsobjekte, wenn ein Gläubiger durch Zwangsvollstreckung keine Befriedigung erlangen kann.
526 So Baumbach/ Hueck- Zöllner, GmbHG 17. A. (2000), Anh. KonzernR Rn. 83 und 102;
Vonnemann, BB 1990, 217, 219 f (jeweils für die nicht abhängige GmbH); auch Beinert,
Die Konzernhaftung für die satzungsgemäß abhängig gegründete GmbH (1995), S. 84 ff,
die dafür aber den Anwendungsbereich der §§ 30, 31 GmbHG auf existenzgefährdende
Auszahlungen ausdehnen will (dazu oben 1. Kapitel A I 3); ferner Versteegen, Konzernverantwortlichkeit und Haftungsprivileg (1993), S. 159 ff, insbes. 167 f; ähnlich Römermann/ Schröder, GmbHR 2001, 1015, 1018 f; Schröder, GmbHR 2002, 904, 904 f; Wilhelmi, DZWIR 2003, 45, 52 ff, die für eine eigenständige Existenzvernichtungshaftung
neben den anerkannten Gläubigerschutzinstrumenten keinen Raum sehen und sie daher
ablehnen.
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I. Gegner einer Erweiterung des gesetzlich positivierten Gläubigerschutzes
Die Gegner einer Erweiterung des gesetzlich positivierten Gläubigerschutzes argumentieren, dass aus Sicht des Gesetzgebers den berechtigten Interessen der Gesellschaftsgläubiger bereits dann genüge getan sei, wenn die Aufbringung und Erhaltung des Stammkapitals gesichert werde.527 Der Gesetzgeber habe das Problem, dass
die Gesellschafter am Wohlergehen der Gesellschaft nicht mehr interessiert sein
könnten, sehr wohl gesehen und es sodann mit der Regelung der Kapitalsicherungsvorschriften einer bestimmten Lösung zugeführt und damit abgehandelt.528 Eine
über diese gesetzliche Regelung hinausgehende Haftung stelle eine unzulässige
Überkompensation der aus diesem Problem erwachsenden Risiken dar.
Für eine über die gesetzlich positivierten Instrumente hinausgehende Haftung bestehe auch kein rechtpolitisches Bedürfnis: Wer sich mit einer GmbH einlasse, wisse
seit eh und je, dass er im Ernstfall nur auf das publizierte Stammkapital zurückgreifen könne.529 Den potentiellen Vertragsgläubigern stehe es frei, sich mit einer GmbH
einzulassen, ohne sich etwa erforderliche besondere Sicherheiten geben zu lassen.
Wenn sie das täten, sei es vertretbar, sie mit etwaigen nachteiligen Folgen zu belasten. Es gelte hier wie auch sonst das Prinzip des „caveat creditor“. Auch der Umstand, dass bei Deliktsgläubigern die Möglichkeit zur Vorsorge ausscheide, könne
im Ergebnis keine Erweiterung des Gläubigerschutzes rechtfertigen.530 So sei die
Schädigung von Deliktsgläubigern durch insolvent gewordene Kapitalgesellschaften
in Deutschland insbesondere deshalb ein wenig praktisches Problem, weil wichtige
Risiken, wie das der Schädigung durch Kraftfahrzeuge (§ 1 PflVG) durch (Pflicht-)
Versicherungen abgedeckt seien. Weiter stehe dem Deliktsgläubiger neben der Gesellschaft stets notwendig eine natürliche Person, oft auch ein Gesellschafter als
Schuldner zur Verfügung.531 Insbesondere aber sei das Risiko, an einen insolventen
Schuldner zu geraten, kein spezielles Risiko der Deliktsgläubiger von Kapitalgesellschaften, sondern das allgemeine Risiko aller Deliktsgläubiger, also auch der Gläubiger von unbeschränkt haftenden Teilnehmern am Wirtschaftsverkehr.532 Dieses
allgemeine Risiko habe der Gesetzgeber aber bewusst in Kauf genommen, auch
527 Nassall, ZIP 2003, 969, 971; Baumbach/ Hueck- Zöllner, GmbHG 17. A. (2000), Anh.
KonzernR Rn. 102.
528 Versteegen, Konzernverantwortlichkeit und Haftungsprivileg (1993), S.167 f.
529 Nassall, ZIP 2003, 969, 971.
530 Versteegen, Konzernverantwortlichkeit und Haftungsprivileg (1993), S.127 ff; im Hinblick auf eine Gesellschafterhaftung wegen materieller Unterkapitalisierung auch Ehricke,
AcP 199 (1999), 257, 288 f; Weitbrecht, Haftung der Gesellschafter bei materieller Unterkapitalisierung der GmbH (1990), S. 71; Kahler, BB 1985, 1429, 1434.
531 Versteegen, Konzernverantwortlichkeit und Haftungsprivileg (1993), S. 128 f; Weitbrecht,
Haftung der Gesellschafter bei materieller Unterkapitalisierung der GmbH (1990), S. 71.
532 Kahler, BB 1985, 1429, 1434.
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wenn es im Einzelfall zu Unbilligkeiten führen könne. Der Deliktsgläubiger habe
hier wie auch sonst keinen Anspruch auf einen solventen Schädiger.533
II. Befürworter einer Erweiterung des gesetzlich positivierten Gläubigerschutzes
Demgegenüber wird von der Rechtsprechung des BGH und der ganz überwiegenden
Ansicht in der Literatur (oftmals implizit) angenommen, dass der gesetzlich positivierte Gläubigerschutz lückenhaft sei und der Ergänzung bedürfe.534 Einige Stellungnahmen begnügen sich dabei mit knappen Begründungen. So wird etwa angeführt, dass es Gesellschaftern nicht erlaubt werden dürfe, die Gesellschaft zu ruinieren535 oder dass rücksichtloses Verhalten der Gesellschafter gegenüber der
Gesellschaft nicht erst ab der Grenze des § 826 BGB sanktioniert werden dürfe.536
Andere Autoren versuchen hingegen, ein rechtspolitisches Bedürfnis für die Erweiterung des Gläubigerschutzes darzutun. So könnten die Kapitalerhaltungsgrundsätze trotz ihrer Ergänzung durch die §§ 32 a, 32 b GmbHG und die Rechtsprechungsregeln zum Eigenkapitalersatz die Fähigkeit der GmbH, ihren Verbindlichkeiten nachzukommen, nicht hinreichend sichern.537 Ohne eine Erweiterung bliebe
eine beträchtliche Zahl von Eingriffen der Gesellschafter in das Gesellschaftsvermögen oder die Geschäftschancen der Gesellschaft, die die GmbH ihrer Überlebensfähigkeit beraubten ohne oder zumindest ohne ausreichende Sanktion.538 Verwiesen
wird dabei insbesondere auf die begrenzte Reichweite der §§ 30, 31 GmbHG.539 Die
Schwächen, die das gesetzlich vorgesehene Kapitalerhaltungssystem offenbare,
533 Ehricke, AcP 199 (1999), 257, 288 f.
534 Implizit BGH Urt. v. 17. 9. 2001 - II ZR 178/99 - BGHZ 149, 10, 10 ff („Bremer-
Vulkan“); BGH Urt. v. 24. 6. 2002 - II ZR 300/00 - BGHZ 151, 181, 181(„KBV“); ausführlich und charakteristisch für die Argumentation der herrschenden Meinung Röhricht,
FS 50 Jahre BGH (2000), S. 83, 92 ff; speziell zum Existenzvernichtungsverbot (oftmals
ohne explizit auf diese Frage einzugehen) Vetter, ZIP 2003, 601, 601 ff; Hölzle, ZIP 2003,
1376, 1378 ff; Ulmer JZ 2002, 1049, 1049 ff; ders., ZIP 2001, 2021, 2021 ff; Drygala,
GmbHR 2003, 729, 729 ff; Altmeppen, ZIP 2002, 1553, 1553 ff; ders. ZIP 2001, 1837,
1837 ff; Benecke, BB 2003, 1190, 1190 ff; Bitter, WM 2001, 2133, 2136 ff; Burgard, ZIP
2002, 827, 827 ff; Bruns, WM 2003, 815, 815 ff; Keßler, GmbHR 2002, 945, 945 ff; ders.,
GmbHR 2001, 1095, 1095; Mülbert, DStR 2001, 1937, 1937 ff; K. Schmidt, NJW 2001,
3577, 3577 ff; Westermann, NZG 2002, 1129, 1129 ff; Wilhelm NJW 2003, 175, 175;
Lutter/ Banerjea, ZGR 2003, 402, 407, behaupten sogar, es sei „nahezu unstreitig“, dass es
eine Gesellschafterhaftung für die Fälle geben müsse, in denen die Gesellschafter zu Lasten der Gläubiger die „Autonomie ihrer Gesellschaft“ nicht respektieren.
535 K. Schmidt, NJW 2001, 3577, 3580; siehe aber auch ders., BB 1985, 2074, 2074.
536 Lutter/ Banerjea, ZGR 2003, 402, 408.
537 Vetter, ZIP 2003, 601, 601; Hölzle, ZIP 2003, 1376, 1378.
538 Die Möglichkeiten des Anfechtungsrechts bleiben bei der Einschätzung der Gläubigerschutzsituation durch die h.M. allerdings fast durchgängig unberücksichtigt.
539 Dazu näher oben 1. Kapitel A, insbesondere dort unter III.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Seit dem „Bremer Vulkan“-Urteil des BGH vom 17.09.2001 ist die Frage nach einer Gesellschafterhaftung für existenzvernichtende Eingriffe eines der meist diskutierten Probleme im GmbH-Recht. Während in den Stellungnahmen zu diesem Problemkreis zumeist ohne weiteres davon ausgegangen wird, dass das gesetzliche Schutzinstrumentarium zur Bewältigung der Folgen existenzvernichtender Eingriffe nicht ausreichend sei, setzt sich der Autor ausführlich mit diesen Instrumenten, insbesondere den Möglichkeiten des insolvenzrechtlichen Anfechtungsrechts, auseinander; er untersucht eingehend, ob die für die rechtsfortbildende Entwicklung einer solchen Haftung erforderliche planwidrige Gesetzeslücke vorliegt. Im Ergebnis hält er – ebenso wie die Rechtsprechung und die meisten Literaturstimmen – die Etablierung einer Existenzvernichtungshaftung für methodologisch zulässig und rechtspolitisch sinnvoll. Anders als der BGH, der die Existenzvernichtungshaftung zunächst als Durchgriffshaftung und später als besondere Fallgruppe des § 826 BGB eingeordnet hat, sieht der Verfasser die dogmatische Grundlage der Haftung aber in der mitgliedschaftlichen Sonderverbindung des Gesellschafters zur GmbH.