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4. Kapitel: Tatbestandsvoraussetzungen der Existenzvernichtungshaftung
A. Ausgangspunkt
Die bisherige Untersuchung hat gezeigt, dass es sich bei dem Mitgliedschaftsverhälnis zwischen der GmbH und deren Gesellschaftern um eine Sonderrechtsbeziehung
handelt, in der die Normen des Allgemeinen Schuldrechts Anwendung finden, sofern keine speziellere gesetzliche Regelung vorhanden ist. Aus der Wertung der
Liquidationvorschriften der §§ 65 ff GmbHG lässt sich ableiten, dass Teil dieser
Sonderrechtsbeziehung die indisponible Pflicht der Gesellschafter ist, zum wirtschaftlichen Zusammenbruch der Gesellschaft führende Desinvestitionsmaßnahmen
zu unterlassen. Der Abzug von Vermögen, durch den die Gesellschaft ihrer wirtschaftlichen Überlebensfähigkeit beraubt wird, ist den Gesellschaftern (außerhalb
des Verfahrens nach den §§ 65 ff GmbHG) verboten. Insoweit sind die Gesellschafter also verpflichtet, die wirtschaftliche Existenzfähigkeit der GmbH zu respektieren,
mithin existenzvernichtende Eingriffe zu unterlassen. Dabei ist klar, dass nicht bereits die Verursachung des wirtschaftlichen Zusammenbruchs als solche haftungsbegründend sein kann, sondern hierfür gemäß § 276 BGB Verschulden erforderlich ist.
Bei schuldhaftem Verstoß gegen das mitgliedschaftliche Existenzvernichtungsverbot
entsteht dann nach § 280 Abs. 1 BGB ein Schadensersatzanspruch der Gesellschaft
gegen den Gesellschafter.
Im Folgenden wird es nunmehr darum gehen, die tatbestandlichen Voraussetzungen dieses im Wege der Rechtsfortbildung entwickelten Existenzvernichtungsverbotes ausgehend von den sich aus den Liquidationsvorschriften ergebenden Vorgaben
zu präzisieren. Dabei werden sich einige Einzelfragen des Haftungstatbestandes
freilich nicht allein unter Rückgriff auf diesen Anknüpfungspunkt beantworten lassen, so dass in diesen Fällen andere Aspekte, wie etwa der mit dem Existenzvernichtungsverbot verfolgte Zweck entscheidend sein werden.
B. Kreis der als existenzvernichtender Eingriff in Betracht kommenden Maßnahmen
I. Ressourcenabzug
In Bezug auf den Kreis der als existenzvernichtender Eingriff in Betracht kommenden Maßnahmen ist klar, dass jedenfalls der Entzug von Gesellschaftsvermögen
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haftungsbegründend sein kann.579 Nach dem Gedanken des Verbots der „Liquidation
auf kaltem Wege“ ist der Vermögensabzug gleichsam der typische Fall eines existenzvernichtenden Eingriffs. Fraglich ist aber, ob daneben auch andere Maßnahmen
haftungsauslösend sein können, wie insbesondere der Entzug von Geschäftschancen.
Mit der Existenzvernichtungshaftung soll es den Gesellschaftern soweit wie möglich untersagt werden, ihre Gesellschaft durch Desinvestitionsmaßnahmen zu ruinieren.580 Diesem Anliegen liefe es zuwider, die Existenzvernichtungshaftung auf Fälle
des Vermögensentzugs zu begrenzen und andere, in gleichem Maße gläubigergefährdende Maßnahmen unberücksichtigt zu lassen. Nach der aus den Liquidationsvorschriften folgenden Wertung soll den Gesellschaftern die „kalte“ Liquidation
ihrer Gesellschaft verboten werden und zwar unabhängig davon, ob der wirtschaftliche Zusammenbruch der Gesellschaft infolge des Entzugs von Vermögen, Geschäftschancen oder anderen existenznotwendigen Ressourcen erfolgt ist.
Der Kreis der Maßnahmen, die als existenzvernichtender Eingriff in Betracht
kommen, ist also weit zu ziehen und umfasst auch die Fälle vermögenswirksamer
Dispositionen, die nicht betragsmäßig erfassbar sind.581 Danach dürfen die Gesellschafter insbesondere keine ausschließlich der GmbH zugeordneten Geschäftschancen für sich nutzen, wenn dies zum wirtschaftlichen Zusammenbruch der Gesellschaft führen würde. Beim Geschäftschancenentzug muss dabei freilich als allgemeine Vorfrage immer geklärt werden, unter welchen Voraussetzungen eine
Geschäftschance der Gesellschaft „gehört“.582 Mit Altmeppen lässt sich hier die
Faustformel aufstellen, dass eine Geschäftschance zumindest dann als Geschäfts-
579 Das ist unbestritten, siehe aus der Literatur etwa Ulmer, JZ 2002, 1049, 1051; Roth, NZG
2003, 1081, 1082; Drygala, GmbHR 2003, 729, 733.
580 In diese Richtung auch K. Schmidt, NJW 2001, 3577, 3580
581 Es ist davon auszugehen, dass auch der BGH insoweit für ein weites Verständnis eintritt;
in der sein inzwischen aufgegebenes Durchgriffskonzept konkretisierenden Entscheidung
BGH, Urt. v. 13.12.2004 - II ZR 256/02 - NZG 214, 215 („Handelsvertreter“) stellte er
klar, dass auch der Geschäftschancen- und Ressourcenentzug haftungsauslösend sein könne. Den Geschäftschancenentzug nannte er auch in weiteren Entscheidungen ausdrücklich
(siehe BGH, Urt. v. 13.12.2004 - II ZR 206/02 - NZI 2005, 237, 238 [„Autohändler“];
BGH, Urt. v. 17.09.2001 - II ZR 178/99 - BGHZ 149, 10, 16 [„Bremer-Vulkan“]). In der
„Trihotel“-Entscheidung (BGH, Urt. v. 16.07.2007 II ZR 3/04 - NJW 2007, 2689, 2690 f.,
Rn. 16, 20) machte er dann deutlich, dass er hinsichtlich des Tatbestands des existenzvernichtenden Eingriffs an sein Vorgängermodell anknüpfen will. Für eine weite Auslegung
des Eingriffsmerkmals durch den BGH spricht auch die Funktion der Lückenschließung,,
die er der Existenzvernichtungshaftung zugedacht hat. Aus der Literatur ebenso für ein
weites Verständnis (überwiegend allerdings auf einer anderen als der hier vertretenen
dogmatischen Grundlage) Roth, NZG 2003, 1081 1082 f; Lutter/ Banerjea, ZGR 2003,
402, 414 f; Keßler, GmbHR 2002, 945, 950; Vetter, ZIP 2003, 601, 601 ff; Wiedemann,
ZGR 2003, 283, 292 f; Wilhelm, NJW 2003, 175, 179 f; Drygala, GmbHR 2003, 729, 733
ff; Bruns, WM 2003, 815, 818 ff; Altmeppen, ZIP 2002, 1553, 1560 ff; Henze, NZG
2003, 649, 658.
582 Ausführlich zu diesem Fragenkreis Fleischer NZG 2003, 985, 985 ff.
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chance der GmbH anzusehen ist, wenn sie in der Sphäre oder mit Mitteln der GmbH
akquiriert wurde.583
Neben dem Geschäftschancenentzug kann aber auch der Entzug von Nutzungsbefugnissen, Steuervorteilen, der Abzug von personellen Ressourcen oder die Einbindung in ein zentrales cash management haftungsauslösend sein.584 In Betracht
kommt letztlich jedweder Entzug von in der Gesellschaft gebündelten Ressourcen.585 Entscheidend ist somit in erster Linie der Desinvestitionscharakter der betreffenden Maßnahme.
Für die Haftung nicht erforderlich ist, dass die existenzvernichtende Maßnahme
einem Gesellschafter oder einer diesem nahestehenden Person zugute kommt.586 Auf
die Eigenschaft des durch die Maßnahme Begünstigten, etwa als nahestehende Person im Sinne des § 138 InsO oder als herrschendes Unternehmen im Sinne des § 17
AktG, kommt es also nicht an.587 Es ist nicht einmal erforderlich, dass überhaupt
jemand durch die Maßnahme unmittelbar begünstigt wird. Denn entscheidend ist
nach der maßgeblichen Wertung der Liquidationsvorschriften allein die regelwidrige
Desinvestition. Anders als beim Anfechtungsrecht geht es nicht um die Rückgängigmachung eines Vermögenstransfers, was eben nicht nur ein „Zuwenig“ beim
Schuldner, sondern auch ein „Zuviel“ beim Anfechtungsgegner voraussetzen würde,
sondern um Ersatzleistung für den aus dem Pflichtenverstoß resultierenden Schaden.
Für die Verpflichtung zum Schadensersatz spielt es aber gerade keine Rolle, ob ein
Dritter durch das schadensstiftende Ereignis begünstigt wird.
II. Keine Einbeziehung von Risikogeschäften
War bislang lediglich vom Abzug von Vermögensgegenständen, Geschäftschancen,
etc. die Rede, so bleibt zu untersuchen, ob neben dem Ressourcenabzug auch andere
gesellschaftsschädigende Maßnahmen haftungsbegründend sein können. Relevant
wird diese Frage in erster Linie für die Fallgruppe so genannter (unvertretbarer)
Risikogeschäfte der Gesellschaft mit Dritten. Insoweit ist zuzugestehen, dass die
Fähigkeit der Gesellschaft zur Bedienung ihrer Verbindlichkeiten durch besonders
riskante Geschäfte mit Dritten in der Tat in gleichem Maße beeinträchtigt werden
583 Roth/ Altmeppen- Altmeppen, GmbHG 4. A. (2003), § 30 Rn. 112; ebenso etwa Bruns,
WM 2003, 815, 819.
584 Roth, NZG 2003, 1081 1082 f; Keßler, GmbHR 2002, 945, 950; Vetter, ZIP 2003,
601, 601.
585 In diese Richtung auch Schön, ZHR 168 (2004), 268, 287; Haas, WM 2003, 1929, 1934;
Hölzle, ZIP 2003, 1376, 1378 f.
586 Haas, WM 2003, 1929, 1936.
587 Wiedemann, ZGR 2003, 283, 294.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Seit dem „Bremer Vulkan“-Urteil des BGH vom 17.09.2001 ist die Frage nach einer Gesellschafterhaftung für existenzvernichtende Eingriffe eines der meist diskutierten Probleme im GmbH-Recht. Während in den Stellungnahmen zu diesem Problemkreis zumeist ohne weiteres davon ausgegangen wird, dass das gesetzliche Schutzinstrumentarium zur Bewältigung der Folgen existenzvernichtender Eingriffe nicht ausreichend sei, setzt sich der Autor ausführlich mit diesen Instrumenten, insbesondere den Möglichkeiten des insolvenzrechtlichen Anfechtungsrechts, auseinander; er untersucht eingehend, ob die für die rechtsfortbildende Entwicklung einer solchen Haftung erforderliche planwidrige Gesetzeslücke vorliegt. Im Ergebnis hält er – ebenso wie die Rechtsprechung und die meisten Literaturstimmen – die Etablierung einer Existenzvernichtungshaftung für methodologisch zulässig und rechtspolitisch sinnvoll. Anders als der BGH, der die Existenzvernichtungshaftung zunächst als Durchgriffshaftung und später als besondere Fallgruppe des § 826 BGB eingeordnet hat, sieht der Verfasser die dogmatische Grundlage der Haftung aber in der mitgliedschaftlichen Sonderverbindung des Gesellschafters zur GmbH.