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tete Einwirkungsmöglichkeit gewähren, mit dem Ergebnis, dass somit eine Abhängigkeitsbeziehung – hier in Form der einfachen Abhängigkeit, alleinigen Kontrolle
(sole control) – vorliegt. Ein Vertrag, der ein Zustimmungserfordernis und/oder
Weisungsrechte schafft, ändert die gesellschaftsinterne Zuständigkeitsverteilung –
welches zugleich eine Strukturänderung darstellt – zu Gunsten des Inhabers dieser
Rechte und kann daher als Organisationsvertrag qualifiziert werden.933
B. Einsetzung eines Europäischen Betriebsrats oder Verfahren zur Unterrichtung
und Anhörung
Leitende Grundsätze der EBR-Richtlinie bei der Einrichtung Europäischer Betriebsräte oder von Verfahren zur Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer sind die
Verhandlungs- und Gestaltungsfreiheit. Dies gewährt u. a. Flexibilität. Rahmenbedingung hierfür ist eine gemeinschaftsweite Tätigkeit des Unternehmens bzw. der
Unternehmensgruppe im Sinne des § 3 EBRG.934
Die Arbeitnehmervertretung ist gemäß § 5 EBRG berechtigt, von der zentralen
Leitung die erforderlichen Fakten zur Feststellung des Vorliegens dieser Voraussetzungen zu erfragen.935 Sind die Voraussetzungen erfüllt, können die Arbeitnehmer
oder ihre Vertretung gemäß § 9 I EBRG bei der zentralen Leitung die Bildung eines
besonderen Verhandlungsgremiums (BVG) beantragen. Die zentrale Leitung kann
auch selbständig die Bildung des BVG initiieren. Aufgabe des BVG ist es, mit der
zentralen Leitung eine Vereinbarung über die grenzüberschreitende Unterrichtung
und Anhörung der Arbeitnehmer zu schließen, § 8 I EBRG. Dabei können die Verhandlungspartner frei vereinbaren, wie sie die Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer ausgestalten wollen, § 17 EBRG. Die Vereinbarung muss sich auf alle in
den Mitgliedstaaten beschäftigten Arbeitnehmer erstrecken (§ 17 EBRG). § 1 II
EBRG ist zu entnehmen, dass sie auch einen erweiterten Geltungsbereich haben
kann. Vertragliche Gestaltungsalternativen sind die Vereinbarung eines Verfahrens
zur Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer (§ 19 EBRG) oder die Vereinbarung der Einsetzung eines Europäischen Betriebsrates (Europäischer Betriebsrat
kraft Vereinbarung, § 18 EBRG), wobei die Verfahrensmodalitäten ebenfalls individuell vereinbart werden können. Soll ein Europäischer Betriebsrat kraft Vereinbarung errichtet werden, dienen die Angaben in § 18 S. 2 EBRG als „Institutionalisierungshilfe“. Die Möglichkeit der Einsetzung eines Europäischen Betriebsrats kraft
933 Siehe dazu Kapitel 7 B.
934 Ein Unternehmen ist gemäß § 3 I EBRG gemeinschaftsweit tätig, wenn es mindestens 1000
Arbeitnehmer in den Mitgliedstaaten und davon jeweils mindestens 150 in zwei verschiedenen Mitgliedstaaten beschäftigt. Eine Unternehmensgruppe ist gemeinschaftsweit tätig
im Sinne von § 3 II EBRG, wenn sie mindestens 1000 Arbeitnehmer in den Mitgliedstaaten beschäftigt und ihr mindestens zwei Unternehmen mit Sitz in verschiedenen Mitgliedstaaten angehören, die mindestens je 150 Arbeitnehmer in verschiedenen Mitgliedstaaten
beschäftigen.
935 Näher zum Auskunftsanspruch unter C.
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Vereinbarung wurde bisher in über 100 Unternehmensgruppen genutzt.936 937 Nach
§ 17 S. 3 EBRG erscheint sogar die Errichtung mehrerer Europäischer Betriebsräte
möglich. Sinnvoll wäre dies wegen der sich ergebenden Koordinationsschwierigkeiten allenfalls in stark differenzierten Unternehmensgruppen, in denen die einzelnen
Tätigkeitssparten streng organisatorisch getrennt sind. Verweigert die zentrale Leitung die Aufnahme von Verhandlungen innerhalb von 6 Monaten nach Antragstellung gemäß § 9 I EBRG oder kommt innerhalb von 3 Jahren keine Vereinbarung
über die Einsetzung eines Europäischen Betriebsrats oder eines Verfahrens zur Unterrichtung und Anhörung nach §§ 18, 19 EBRG zustande oder erklären BVG und
die zentrale Leitung das Scheitern der Verhandlungen, ist ein Europäischer Betriebsrat kraft Gesetzes (§ 21 EBRG) entsprechend den Vorgabe der §§ 22, 23 EBRG zu
errichten. Dabei bestimmt § 22 EBRG die Zusammensetzung des Europäischen Betriebsrats. Die Mitglieder des Europäischen Betriebsrats werden in den einzelnen
Mitgliedstaaten von den Arbeitnehmern oder ihren Vertretungen bestimmt. Hinsichtlich der in der Bundesrepublik Deutschland beschäftigten Arbeitnehmer übt das
Bestellungsrecht der Gesamt- oder der Konzernbetriebsrat aus, § 23 EBRG. Die
Auswahl und Bestellung der Mitglieder erfolgt ohne Einbeziehung der zentralen
Leitung. Diese ist lediglich nach Errichtung des Europäischen Betriebsrats über die
Mitglieder zu informieren, § 24 EBRG. §§ 25 – 29, 36, 37 EBRG regeln die innere
Ordnung des Europäischen Betriebsrats, § 31 EBRG seine Zuständigkeit.
C. Auskunftspflicht § 5 EBRG
Der Auskunftsanspruch der Arbeitnehmervertretung gemäß § 5 EBRG und die korrespondierende Informationspflicht der zentralen Leitung, des herrschenden Unternehmens in der Unternehmensgruppe, dient dazu, zu ermitteln, welche Unternehmen
zur Gruppe gehören, welches das herrschende Unternehmen ist und ob die Voraussetzungen einer gemeinschaftsweiten Tätigkeit § 3 EBRG (Zahl der beschäftigten
Arbeitnehmer, Verteilung auf die Mitgliedstaaten) erfüllt sind. Der Tatbestand einer
gemeinschaftsweit tätigen Unternehmensgruppe bzw. eines gemeinschaftsweit tätigen Unternehmens muss erfüllt sein, wenn die Arbeitnehmervertretung nach § 9 I
EBRG die Bildung eines besonderen Verhandlungsgremiums (BVG) bei der zentralen Leitung, dem herrschenden Unternehmen in Unternehmensgruppen, beantragt.
936 Eine Untersuchung sowie ein Verzeichnis bestehender Europäischen Betriebsräte, die auf
Basis einer Vereinbarung eingerichtet wurden, kann bei der Europäischen Stiftung zur
Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen (Foundation for Improving of working
und living conditions) angefordert bzw. auf deren homepage www.eurofound.eu.int eingesehen werden.
937 Einen Überblick mit Anmerkungen gibt: Zügel, Mitwirkung der Arbeitnehmer nach der
EU-Richtlinie über die Einsetzung eines Europäischen Betriebsrats, S. 366 ff.
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References
Zusammenfassung
Europaweit agierende Unternehmen bevorzugen zunehmend Formen der Einflussnahme auf andere Gesellschaften, die sich nicht mehr nur über die Kategorien Austauschvertrag und Konzern erfassen lassen. Um diese einer rechtlichen Regelung zuführen zu können, müssen sie strukturell erfasst und einem Rechtsbegriff zugeordnet werden.
Ausgehend von dem in der EBR-Richtlinie verwendeten Begriff der Unternehmensgruppe werden in dieser Studie vielfältige Abhängigkeitsbeziehungen untersucht. Über die bisher vom deutschen Konzernrecht betrachteten gesellschaftsrechtlich vermittelten Beherrschungsgrundlagen hinausgehend, gelingt die strukturelle Erfassung von organisationsvertraglichen Einflussnahmeformen. Die entwickelten Strukturelemente von Unternehmensgruppen sind auch für andere Bereiche des europäischen Rechts der Unternehmensverbindungen von größtem Interesse.