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Entsprechend zu den §§ 290 und 271 HGB, die eine Umsetzung der 7. Gesellschaftlichen Richtlinie über den konsolidierenden Abschluss sind, finden sich im
Recht der Rechnungslegung der Kontrolltatbestand der Ausübung beherrschenden
Einflusses aufgrund eines Beherrschungsvertrages oder einer Satzungsbestimmung.
Damit wird auf bekannte konzernrechtliche Formen zurückgegriffen: den Beherrschungsvertrag nach § 291 I AktG sowie der Beherrschung aufgrund von Satzungsbestimmungen wie sie beispielsweise bei der Gründung einer GmbH als abhängiger
Gesellschaft verwendet werden.
§ 6 II Nr. 3 EBRG nennt als dritten Kontrolltatbestand die Innehabung der Mehrheit des gezeichneten Kapitals. Das war durch Art. 3 II Nr.1 der Richtlinie über die
Europäischen Betriebsräte vorgegeben. Das Halten der Kapitalmehrheit muss nicht
zugleich auch eine Stimmrechtsmehrheit beinhalten, so dass dieser Kontrolltatbestand gegenüber den zwei anderen (Mehrheit der Bestellungsrechte, Stimmrechtsmehrheit, § 6 II Nr. 1 und 2 EBRG) ein Kontrolltatbestand einer schwächeren Form
ist. Dem entspricht auch das EBRG, indem es unter den einzelnen Kontrolltatbeständen gewichtet, § 6 II Satz 2 EBRG.
E. Schlussfolgerungen
I. Formelle versus materielle Begriffsbildung
In der Terminologie des EBRG wird die Unternehmensgruppe aus herrschenden und
abhängigen Unternehmen gebildet. Herrschafts- und Abhängigkeitsbeziehungen
zwischen den Unternehmen sind das Band, das sie zu einer Gruppe verbindet. Der
Begriff der Abhängigkeit wird zum qualifizierenden Merkmal.
Um die eine Unternehmensgruppe konstituierenden Abhängigkeitsverhältnisse
möglichst breit zu erfassen, bedient sich Art. 3 EBR-Richtlinie und ebenso § 6
EBRG in Absatz I einer Generalklausel, die die Abhängigkeitsbeziehung mit der
Möglichkeit einer beherrschenden Einflussnahme auf das abhängige Unternehmen
umschreibt. In Absatz II werden Regelbeispiele mit Vermutungswirkung für eine
beherrschende Einflussnahme aufgestellt. Diese Regelbeispiele verkörpern das oben
beschriebene Control-Konzept.
Die zuvor vorgenommene Betrachtung der Normen, die das Control-Konzept
beinhalten, ergab, dass es sowohl Normen gibt, die gesetzliche Pflichten an das Vorliegen bestimmter Kontrolltatbestände anknüpfen (z.B. die Konsolidierungspflicht in
§ 290 II HGB), aber auch solche, bei denen die Kontrolltatbestände als Regelbeispiele mit Vermutungswirkung einer generalklauselartigen Definition den gesetzgeberisch vorgestellten „sicheren“ Anwendungsbereich markieren (z.B. Art. 3 EBR-
Richtlinie und § 6 EBRG; aus der Fusionskontrolle Art. 3 FKVO, § 37 I Nr. 2
GWB; aus dem deutschen Gesellschaftsrecht: § 17 AktG). Da das Recht der Rechnungslegung eine unkomplizierte zweifelsfreie Feststellbarkeit der Konsolidierungspflicht durch den Rechtsanwender erfordert, ist im Rechnungslegungsrecht ein for-
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meller Begriff der Mutter- und Tochterunternehmen zugrunde gelegt worden. Ebenso soll beispielsweise für den Anwendungsbereich des Wertpapierhandelsgesetzes
und des Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetzes die Feststellung des Kreises
der in den Verbund einzubeziehenden Unternehmen mittels formeller Begriffsbildung erleichtert werden, so dass beide Gesetze zur Definition von Tochterunternehmen im Sinne und Anwendungsbereich dieser Gesetze auf § 290 HGB verweisen. In
Gesetzen hingegen, die den Ausgleich verschiedener Interessen zum Gegenstand
haben, sind die Begriffe interpretationsfähig und wertungsoffen gehalten, so z.B.
Art. 3 EBR-Richtlinie und § 6 EBRG; aus der Fusionskontrolle Art. 3 FKVO, § 37 I
Nr. 2 GWB; aus dem Gesellschaftsrecht: § 17 AktG. Das ermöglicht, deren Interpretation und Auslegung so zu gestalten, dass der Gesetzeszweck effizient ausgefüllt
wird. Möchte man eine möglichst umfassende Einbeziehung von Unternehmen, die
in ihren strategischen Entscheidungen vom Willen anderer Unternehmen beeinflusst
werden, wird häufig in einer Generalklausel die Abhängigkeitsbeziehung als Möglichkeit der Ausübung beherrschender Einflussnahme formuliert, wie z. B. in Art. 3
EBR-Richtlinie und § 6 EBRG sowie § 17 I AktG. Die Vorschriften zur Zusammenschlusskontrolle (Gemeinschaftsrecht: Art. 3 FKVO; deutsches Recht: § 37 I Nr. 2
GWB) lehnen sich an die Formel der Ausübungsmöglichkeit „bestimmenden Einflusses auf die Tätigkeit eines Unternehmens“ an.
Im sachlichen Anwendungsbereich von EBR-Richtlinie und EBRG sollen die
Beherrschungs- und Kontrollmittel möglichst breit und ohne Schutzlücken erfasst
werden, die eine Beeinflussung strategischer bzw. organisatorischer Entscheidungen
ermöglichen, die Auswirkungen auf die Arbeitnehmer haben können. Hierfür wäre
ein formeller Begriff ungeeignet, da aufgrund der Vertragsautonomie den Unternehmen eine Vielzahl von Kreationsmöglichkeiten bei der Gestaltung des Gesellschaftsstatuts, der organisationsrechtlichen und relationalen Verträge offen steht.
Das Alles-oder-Nichts-Prinzip eines formellen Begriffs würde sich im Recht der
transnationalen Mitbestimmung anders als im Rechnungslegungsrecht, bei dem die
nicht unter den (formellen) Kontrollbegriff fallenden Abhängigkeitsbeziehungen auf
andere Art buchhalterisch erfasst werden,116 im Hinblick auf die Information der
Arbeitnehmer viel einschneidender, u.U. als Nichtgewährung dieser Informationsrechte, auswirken. Die in EBR-Richtlinie und EBRG verwendete materielle Begriffsbildung trägt somit dazu bei, Schutzlücken zu vermeiden.
II. Schlussfolgerungen für die folgenden Untersuchungen
Ein Vergleich der untersuchten Normen, die Unternehmensverbindungen zum Gegenstand haben, ergibt, dass § 6 I EBRG zur Beschreibung des Abhängigkeitsbegriffes wörtlich dieselbe Formulierung verwendet wie § 17 I AktG. Die Abhängigkeitsbegriffe des § 6 EBRG und des § 17 AktG sind jedoch nicht kongruent, da zum ei-
116 Z.B. über eine Einbeziehung nach § 311 oder § 310 HGB.
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nen EBRG und Aktiengesetz unterschiedliche Regelungszwecke verfolgen und zum
anderen sind in die für den Abhängigkeitsbegriff der Unternehmensgruppe Art. 3 I
EBR-Richtlinie und § 6 I EBRG verwendete Definition der „beherrschenden Einflussnahme“ Erwägungen und Intentionen supranationaler Institutionen (Europäische Kommission, Europäische Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen) eingeflossen, die ihn zu einem Begriff des Gemeinschaftsrechts werden ließen.117 Als solcher ist er eigenständig und unter Beachtung dieser Erwägungen und Intentionen auszulegen. Die Begriffe werden somit relativ.118
Die Regelbeispiele des Art. 3 II EBR-Richtlinie sowie § 6 II EBRG geben bestimmte Mittel der Beeinflussung des abhängigen Unternehmens vor, die die von
§ 6 I EBRG vorausgesetzte beherrschende Einflussnahme ermöglichen. Die Beherrschungsmittel der Regelbeispiele sind auf ihre Intensität und Wirkungsweise hin zu
untersuchen, um Rückschlüsse auf die Intensität und Wirkungsweise der von Art. 3 I
EBR-Richtlinie sowie § 6 I EBRG umfassten Einflussnahmemittel ziehen zu können.
117 Näher hierzu in Kapitel 3 B VI.
118 Dies wird näher in Kapitel 4 entwickelt.
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References
Zusammenfassung
Europaweit agierende Unternehmen bevorzugen zunehmend Formen der Einflussnahme auf andere Gesellschaften, die sich nicht mehr nur über die Kategorien Austauschvertrag und Konzern erfassen lassen. Um diese einer rechtlichen Regelung zuführen zu können, müssen sie strukturell erfasst und einem Rechtsbegriff zugeordnet werden.
Ausgehend von dem in der EBR-Richtlinie verwendeten Begriff der Unternehmensgruppe werden in dieser Studie vielfältige Abhängigkeitsbeziehungen untersucht. Über die bisher vom deutschen Konzernrecht betrachteten gesellschaftsrechtlich vermittelten Beherrschungsgrundlagen hinausgehend, gelingt die strukturelle Erfassung von organisationsvertraglichen Einflussnahmeformen. Die entwickelten Strukturelemente von Unternehmensgruppen sind auch für andere Bereiche des europäischen Rechts der Unternehmensverbindungen von größtem Interesse.