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Kapitel 3: Der Abhängigkeitsbegriff der Unternehmensgruppe nach § 6 EBRG und Art. 3 EBR-Richtlinie
A. Verhältnis § 6 I EBRG/Art. 3 I EBR-Richtlinie zu § 6 II EBRG/Art. 3 II EBR-
Richtlinie
Für die Definition des herrschenden Unternehmens gibt Art. 3 I EBR-Richtlinie eine
Generalklausel, die durch die Vermutungswirkung von Regelbeispielen in Art. 3 II
EBR-Richtlinie ergänzt wird. Das EBR-Gesetz übernimmt diese Doppelstruktur: in
§ 6 I EBRG die Generalklausel und in § 6 II EBRG die Regelbeispiele, die das Vorliegen einer beherrschenden Einflussnahmemöglichkeit – widerleglich - vermuten.191
In den Regelbeispielen des § 6 II EBRG gibt das Gesetz einzelne Beherrschungsmittel vor. Damit will der Gesetzgeber den vom ihm vorgestellten „sicheren“ Anwendungsbereich192 des EBR-Gesetzes abstecken. Die in § 6 II EBRG beispielhaft benannten Beherrschungsmittel sind darauf hin zu untersuchen, welche Anforderungen sie an Beherrschungsmittel enthalten. Diese Vorgehensweise erlaubt es,
den Begriffskern zu fixieren.
Die Generalklausel des § 6 I EBRG dient als Auffangtatbestand und Flexibilisierungsmoment. Ziel sollte eine möglichst lückenlose Erfassung von Unternehmensverbindungen sein, die dadurch gekennzeichnet sind, dass sie Einflussnahmemöglichkeiten gewähren und sich hierdurch die Entscheidungsprozesse verlagern.
Solche Einflussnahmemöglichkeiten und Unternehmensverbindungen sind sehr
vielgestaltig, entwickeln sich und entstehen neu. Eine abschließende gesetzliche
Aufzählung von Einflussgrundlagen bzw. Beherrschungsmitteln ist nicht möglich
und nicht gewollt. Die Unternehmensgruppe im Sinne des § 6 EBRG als Anknüpfungspunkt für die Rechte und Pflichten aus dem EBRG sollte daher möglichst lückenlos und daher über einen umfassenden und funktionalen Begriff erfasst werden.
Die Regelbeispiele des § 6 II EBRG können somit nur Indizien im Hinblick auf Intensität, Gegenstand und Wirkungsweise der Beherrschungsmittel liefern, bilden
191 Art. 3 II EBR-Richtlinie und § 6 II EBRG verzichteten darauf, den Regelbeispielen eine
Fiktion beizumessen, vgl. Oetker in: Kraft/Wiese/Kreutz/Oetker/Raab/Weber/Franzen, Betriebsverfassungsgesetz Gemeinschaftskommentar, 8. A. 2005, vor § 106 Rn. 53 m.w.N.
Im Gegensatz dazu findet sich in der parallelen Methodik für das Verhältnis von § 111 Satz
1 zu § 111 Satz 3 in Satz 3 eine Fiktion dieser Nachteile bei Vorliegen der dort genannten
Arten von Betriebsänderungen, während Satz 1 in Form einer Generalklausel für eine Betriebsänderung angibt, dass diese wesentliche Nachteile für den Belegschaft oder wesentliche Teile hiervon mit sich bringen muss; vgl. Fitting/Engels/Schmidt/Trebinger/Linsenmaier, Betriebsverfassungsgesetz, 23. A. 2006, § 111 Rn. 42 m.w.N.
192 Vgl. die methodologische Dreiteilung in: Begriffskern = sicherer Anwendungsbereich,
Begriffshof = Randbereich („Grauzone“) und außerhalb des Begriffes liegende Sachverhalte; hierzu: Wank, Juristische Begriffsbildung; S. 25.
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aber keine abschließende Aufzählung aller beeinflussungsgeeigneten - eine beherrschende Einflussnahme gewährenden - Tatbestände.193
Ziel der Arbeit ist, die Einflussgrundlagen, die über die Regelbeispiele des § 6 II
EBRG hinausgehen, zu erfassen und zu typisieren und so einen eigenständigen Anwendungsbereich der Generalklausel § 6 I EBRG zu erarbeiten.194 Dazu soll zunächst der Wortlaut des § 6 I EBRG auf allgemeine Anforderungen zu Gegenstand
und Adressaten der Einflussnahme untersucht werden, umso den Rahmen abzustecken. Da die gesetzlich geregelten Beherrschungsgrundlagen in § 6 II EBRG den
„sicheren“ Anwendungsbereich markieren und ihnen eine Vermutungswirkung im
Hinblick auf das Vorliegen einer beherrschenden Einflussnahme im Sinne des § 6 I
EBRG zukommt, sind sie daraufhin zu analysieren, in welcher Form eine Einflussnahme auf das abhängige Unternehmen erfolgen kann und welche Befugnisse dem
herrschenden Unternehmen eine Beeinflussung der Geschäftspolitik des abhängigen
Unternehmens ermöglichen. Die gesetzlich geregelten Einflussgrundlagen in § 6 II
EBRG stellen somit Mindestanforderungen hinsichtlich Intensität und Wirkungsweise auf, mit denen die unter § 6 I EBRG zu fassenden Beherrschungsgrundlagen
vergleichbar sein müssen. Daran anschließend sollen unter Rückgriff auf die Kasuistik der europäischen Fusionskontrolle verschiedene Unternehmensverbindungen auf
ihre Einbeziehungsfähigkeit in den Gruppenbegriff des § 6 EBRG geprüft werden.
B. Rahmen für die beherrschende Einflussnahme aus dem Wortlaut der Generalklausel § 6 I EBRG/Art. 3 I EBR-Richtlinie
Nach § 6 I EBRG ist ein Unternehmen ein herrschendes Unternehmen, wenn es unmittelbar oder mittelbar einen beherrschenden Einfluss auf ein anderes Unternehmen
(abhängiges Unternehmen) ausüben kann. Die Möglichkeit beherrschender Einflussnahme auf ein anderes Unternehmen ist der Anknüpfungspunkt, wenn es darum
geht, zu bestimmen, welche Unternehmen zu einer Gruppe verbunden sind.
Die zentralen Merkmale der Abhängigkeitsbeziehungen innerhalb einer Unternehmensgruppe sind somit eine beherrschende Einflussnahme, deren Potentialität,
193 Ebenso stellt für die parallele Problematik bei § 111 Satz 1 und 3 BetrVG nach zutreffender, wenn auch nicht unumstrittener Auffassung, § 111 Satz 3 keine abschließende Aufzählung dar, so dass mitbestimmungspflichtige Betriebsänderungen denkbar sind, die nicht unter Satz 3, sondern allein über § 111 Satz 1 erfasst werden. Vgl. hierzu: Fitting/Engels/Schmidt/Trebinger/Linsenmaier, Betriebsverfassungsgesetz, 23. A. 2006, § 111
Rn. 44 m.w.N.; Oetker in: Kraft/Wiese/Kreutz/Oetker/Raab/Weber/Franzen, Betriebsverfassungsgesetz Gemeinschaftskommentar, 8. A. 2005, § 111 Rn. 35 f. m.w.N.
194 Das BAG hat in seiner Bofrost-Entscheidung erstmals einen Sachverhalt vorgelegt bekommen, bei dem die Bildung der Unternehmensgruppe nicht auf einen in den Regelbeispielen § 6 II EBRG fixierten Beherrschungstatbestand gestützt werden konnte, sondern
unter die Generalklausel des § 6 I EBRG subsumiert wurde; BAG v. 30.03.2004 – 1 ABR
61/01- NZA 2004, S. 863, 868.
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References
Zusammenfassung
Europaweit agierende Unternehmen bevorzugen zunehmend Formen der Einflussnahme auf andere Gesellschaften, die sich nicht mehr nur über die Kategorien Austauschvertrag und Konzern erfassen lassen. Um diese einer rechtlichen Regelung zuführen zu können, müssen sie strukturell erfasst und einem Rechtsbegriff zugeordnet werden.
Ausgehend von dem in der EBR-Richtlinie verwendeten Begriff der Unternehmensgruppe werden in dieser Studie vielfältige Abhängigkeitsbeziehungen untersucht. Über die bisher vom deutschen Konzernrecht betrachteten gesellschaftsrechtlich vermittelten Beherrschungsgrundlagen hinausgehend, gelingt die strukturelle Erfassung von organisationsvertraglichen Einflussnahmeformen. Die entwickelten Strukturelemente von Unternehmensgruppen sind auch für andere Bereiche des europäischen Rechts der Unternehmensverbindungen von größtem Interesse.