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ternehmen gemeinsam einen beherrschenden Einfluss auf das abhängige Gemeinschaftsunternehmen ausüben können.773
C. Stellungnahme
Gegen einen Ausschluss der Gemeinschaftsunternehmen mit paritätischer Beteiligung spricht Folgendes: Die EBR-Richtlinie nimmt in Erwägungsgrund (9) ausdrücklich auf „joint ventures“ Bezug, so dass davon auszugehen ist, dass sie eine
Einbeziehung gemeinschaftlich ausgeübter Einflussnahme (Gemeinschaftsunternehmen) wünscht. Des Weiteren verhält sich der Ausschluss der Gemeinschaftsunternehmen mit paritätischer Beteiligung konträr zur etablierten konzern- und mitbestimmungsrechtlichen Rechtsprechung des BGH und BAG, die eine gemeinsame
beherrschende Einflussnahme auf die Geschäftspolitik des Gemeinschaftsunternehmens und eine gemeinschaftliche Ausübung beherrschenden Einflusses auch bei paritätischer Beteiligung der Mutterunternehmen anerkennen.774 Hinzu kommt, dass
kein sachlicher Grund ersichtlich ist für die unterschiedliche Behandlung von Gemeinschaftsunternehmen mit paritätischer Beteiligung und solchen an denen die
Mutterunternehmen disparitätisch beteiligt sind oder die gemeinsame Willensbildung unter den Müttern in Bezug auf eine Beeinflussung der Geschäftspolitik im
Gemeinschaftsunternehmen auf andere Art erfolgt. Es erscheint widersprüchlich, die
Möglichkeit gemeinsamer beherrschender Einflussnahme anzuerkennen, aber bestimmte Formen – hier die paritätische Beteiligung der Mütter – wieder auszuschlie-
ßen, obwohl deren Voraussetzungen (Bündelung der Einflusspotentiale durch Verständigung der Mütter über eine gemeinsame Willensbildung) und Wirkungen (geschäftspolitische Entscheidungen im Gemeinschaftsunternehmen werden fremdbestimmt) dieselben sind. Auch im Hinblick auf den Schutzzweck von EBR-Richtlinie
und EBRG verbietet sich ein Ausschluss der Gemeinschaftsunternehmen mit paritätischer Beteiligung, da die Arbeitnehmer in diesen Gemeinschaftsunternehmen
ebenso von den fremdbestimmten Entscheidungen betroffen sind und ihren Mitbestimmungsrechten ebenso ein Wirkungsverlust droht, als wenn die Beeinflussung
bzw. Fremdbestimmung der Entscheidungen durch nur ein herrschendes Mutterunternehmen oder durch zwei herrschende Mutterunternehmen mit z.B. disparitätischer
Beteiligung der Mütter erfolgt. Daher sind Gemeinschaftsunternehmen mit paritätischer Beteiligung, entgegen der Regierungsbegründung, in den Begriff der Unternehmensgruppe § 6 EBRG einzubeziehen.775
773 Ebenda.
774 Konzernrechtliche Rechtsprechung: BGHZ 62, 193, 196 = NJW 1974, 855 (Seitz); BGHZ
80,69 = NJW 1981, 1512, 1513 (Süssen); kartellrechtliche Entscheidung: BGHZ 74, 359,
367 (WAZ); Unternehmensmitbestimmung: BAG v. 18.6.1970, AP Nr. 20 zu § 76 BetrVG
1952 = DB 70, 1595 sowie LAG Hamm v. 17.8.1977, DB 1977, 2052; betriebliche Mitbestimmung: BAG v. 30.10.1986, AP Nr. 1 zu § 55 BetrVG 1972 = SAE 1988, S. 178.
775 So auch: Blanke, EBR-Gesetz, 2. A. 2006, § 6 Rn. 13; Kohte, EuroAS 1996, S. 115, 116;
Kohte, RdA 1992, 302, 306 (zum gemeinsamen Betrieb); Kittner in: Däub-
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Die Ablehnung der Einbeziehung von Gemeinschaftsunternehmen mit paritätischer Beteiligung der Mütter in den Gruppenbegriff durch die Regierungsbegründung steht im Widerspruch zur Richtlinie, bei der aufgrund der Erwähnung der
„joint ventures“ in Erwägungsgrund (9) davon auszugehen ist, dass sie eine Einbeziehung der Formen gemeinsamer Einflussnahme wünscht ohne Gemeinschaftsunternehmen mit paritätischer Beteiligung der Mütter hiervon auszunehmen sowie zur
etablierten konzern- und mitbestimmungsrechtlichen Rechtsprechung des BGH und
BAG, die ebenfalls eine gemeinsame Beherrschung anerkennen für alle Formen der
Willensbildung und Abstimmung zwischen den Mutterunternehmen ohne für Gemeinschaftsunternehmen mit paritätischer Beteiligung eine Ausnahme zu statuieren.
Diese Widersprüchlichkeit soll im Folgenden anhand einer richtlinienkonformen
Auslegung der Norm des § 6 EBRG erhärtet werden.
D. Richtlinienkonforme Auslegung des § 6 EBRG
I. Methodik
Das EBRG ist die Umsetzung der Richtlinie 94/45/EG (EBR-Richtlinie) ins nationale (deutsche) Recht. Die Umsetzungspflicht an die Mitgliedstaaten führte zur Entstehung neuen nationalen Rechts. Grund und Ursprung des EBR-Gesetzes ist das
europäische Recht der ihm zugrunde liegenden EBR-Richtlinie.776 Die Richtlinie
stellt somit Grund und Anlass, die causa, der nationalen Regelung.777 Mit der von
Lutter778 verwendeten Bezeichnung „angeglichenes nationales Recht“ kommt zum
Ausdruck, dass das europäische Recht nationales Recht neu schafft oder bestehendes
nationales Recht verändert779 und dieses einheitlich im Lichte des gesamten Gemeinschaftsrechts auszulegen ist.780
Das Primärrecht des Vertrages und die Verordnungen des Sekundärrechts haben
Anwendungsvorrang vor dem nationalen Recht und verdrängen entgegenstehendes
nationales Recht.781 Die Richtlinien des Sekundärrechts sind gemäß Art. 249 Abs. 3
ler/Kittner/Klebe, Kommentar zum Betriebsverfassungsgesetz, 8. A. 2002, § 6 EBRG, Rn.
7; Fiedler, ArbuR 1996, S. 180, 182; Sandmann, WiB 1997, S. 393, 394; Däubler/Klebe,
AiB 1995, S. 563; Rademacher, Der Europäische Betriebsrat, S. 88; Bachner/Kunz, AuR
1996, S. 81, 84; uneinheitlich: Lerche, Der Europäische Betriebsrat und der deutsche Wirtschaftsausschuss, S. 174 f., irrt über den Charakter der Leitungsvermutung des § 18 I S. 3
AktG.
776 Lutter, Die Auslegung angeglichenen Rechts, JZ 1992, S. 593, 594.
777 Lutter, Die Auslegung angeglichenen Rechts, JZ 1992, S. 593, 598.
778 Ebenda, S. 594.
779 Ebenda.
780 Colneric, Auslegung des Gemeinschaftsrechts und gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung, ZEuP 2005, S. 225, 227.
781 Lutter, Die Auslegung angeglichenen Rechts, JZ 1992, S. 593, 596.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Europaweit agierende Unternehmen bevorzugen zunehmend Formen der Einflussnahme auf andere Gesellschaften, die sich nicht mehr nur über die Kategorien Austauschvertrag und Konzern erfassen lassen. Um diese einer rechtlichen Regelung zuführen zu können, müssen sie strukturell erfasst und einem Rechtsbegriff zugeordnet werden.
Ausgehend von dem in der EBR-Richtlinie verwendeten Begriff der Unternehmensgruppe werden in dieser Studie vielfältige Abhängigkeitsbeziehungen untersucht. Über die bisher vom deutschen Konzernrecht betrachteten gesellschaftsrechtlich vermittelten Beherrschungsgrundlagen hinausgehend, gelingt die strukturelle Erfassung von organisationsvertraglichen Einflussnahmeformen. Die entwickelten Strukturelemente von Unternehmensgruppen sind auch für andere Bereiche des europäischen Rechts der Unternehmensverbindungen von größtem Interesse.