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Teil 4: Rechtspraktischer Teil
Kapitel 8: Rechtsanwendung
Die Regelungen der Umsetzungsgesetze zur EBR-Richtlinie, hierunter das EBRG,
finden Anwendung auf gemeinschaftsweit tätige Unternehmen oder gemeinschaftsweit tätige Unternehmensgruppen. In Unternehmensgruppen ist das herrschende Unternehmen der Gruppe, die zentrale Leitung (§ 1 III EBRG), Normadressat für die
Pflichten aus den Umsetzungsgesetzen zur Richtlinie,929 wie z.B. der Auskunftspflicht § 5 EBRG, der Pflicht ein besonderes Verhandlungsgremium (BVG) zu bilden (§ 9 I EBRG), der Pflicht, mit dem BVG über eine Vereinbarung zur grenzüberschreitenden Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer zu verhandeln (§ 17
EBRG) sowie der Pflicht zur Unterrichtung und Anhörung entsprechend den in
§§ 32, 33 EBRG genannten Gegenständen. In den vorangegangenen Kapiteln wurde
herausgearbeitet, welche Beherrschungsmittel geeignet sind, den in der Definitionsnorm § 6 I EBRG verwendeten Begriff der beherrschenden Einflussnahme auszufüllen, um feststellen zu können, wann ein Beherrschungsverhältnis gegeben ist und
welches Unternehmen als herrschendes Unternehmen einer Gruppe – und damit als
Pflichtenadressat – angesehen werden kann.
A. Der Fall „Bofrost“
Der Sachverhalt, der der Bofrost-Entscheidung des EuGH930 zugrunde lag, bietet
sich an, die in den vorangegangenen Kapiteln erarbeiteten Erkenntnisse zu den Beherrschungsmitteln in praxi zu überprüfen. Im Einzelnen stellt sich der Sachverhalt
wie folgt dar:
Zwischen den in Deutschland ansässigen Unternehmen der Bofrost-Gruppe (fünf
Gesellschaften in der Rechtsform der GmbH & Co. KG sowie eine GmbH) besteht
ein nationaler Gleichordnungsvertrag, der die Einrichtung gemeinsamer Gremien,
eines Lenkungsausschusses (LA) sowie eines Gesellschafterbeirates (GB) vorsieht.
929 Das EBRG statuiert diese Pflichten gegenüber dem herrschenden Unternehmen einer Gruppe, das seinen Sitz in der Bundesrepublik Deutschland hat, § 2 I EBRG.
930 EuGH Rechtssache C-62/99: Slg. 2001 I-2579 = AP EWG-Richtlinie Nr. 94/45 Nr. 2 =
EzA EG-Vertrag 1999, Richtlinie 94/45 EG Nr. 2 = NZA 2001, 506 = ArbuR 2002, 28 =
EuZW 2001, 275, auch zu finden unter: www.curia.eu.int sowie Beschluss des Bundesarbeitsgerichts v. 30.03.2004, 1 ABR 61/01 zur EuGH-Entscheidung C-62/99 (bofrost): NZA
2004, 863 = ZIP 2004, 1468 = DB 2004, 1997 auch zu finden unter:
www.bundesarbeitsgericht.de.
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Diese bilden die einheitliche Leitung i. S. d. § 18 AktG. Der Firmengründer J.B. ist
neben seinen Kindern an den GmbH & Co. Kommanditgesellschaften mit einem
85 %igen Kapitalanteil als Kommanditist beteiligt; seine Kinder sind zudem Gesellschafter der Komplementär-GmbHs. Im Gleichordnungsvertrag ist die Kompetenz
des LA zur Festlegung der Geschäftspolitik, ein Zustimmungserfordernis des LA zu
bestimmten Geschäften und Maßnahmen sowie ein Weisungsrecht des LA gegen-
über den Geschäftsführern festgeschrieben. Ebenso sieht der Vertrag vor, dass der
LA zu bestimmten Geschäften und Maßnahmen, z.B. der Änderung der Geschäftszweige und Vertriebswege, dem Investitions- und Kostenbudget sowie der Einsetzung von Führungskräften der vorherigen Zustimmung des GB, bestehend aus J.B.
und H., wobei J.B. als Vorsitzendem ein Zweitstimmrecht zukommt, bedarf; Weisungen an den LA sind nicht ausgeschlossen.
Die ausländischen Gesellschaften der Bofrost-Unternehmensgruppe931 sind verbunden über eine Mehrheitsbeteiligung der Bofrost Vertrieb International GmbH &
Co. KG932 sowie einem internationalen Gleichordnungsvertrag mit den gemeinsamen Gremien: Lenkungsausschuss (LA) und Gesellschafterbeirat (GB) mit derselben Zusammensetzung und demselben System an Zustimmungserfordernissen und
Weisungsmöglichkeiten wie auf nationaler Ebene.
Die bestehenden Gleichordnungsverträge mit eingerichteten gemeinsamen Gremien (LA und GB) erwecken zunächst den Anschein, es handle sich hier um einen
Fall der wechselseitigen oder zumindest einer fehlenden einseitigen Abhängigkeit,
aber bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass die Gremien (LA und GB) vielmehr
dem Firmengründer J.B. als „Einflussnahme-Plattform“ dienen. Das System der Zustimmungserfordernisse und Weisungsrechte verschafft J.B. eine Einflussnahmemöglichkeit auf die wesentlichen unternehmerischen Entscheidungsbereiche, hier
insbesondere in den Bereichen Finanzen/Investitionen und Personal, in sämtlichen
gruppenangehörigen Gesellschaften. Hierbei wirken die vertraglich geschaffenen
Zustimmungs- und Weisungsrechte, als Beherrschungsmittel auf der Grundlage von
§ 6 I EBRG intensiver, da sie J.B. eine direkte Einwirkungsmöglichkeit auf die wesentlichen unternehmerischen Entscheidungen verschaffen, so dass die mehrheitliche Kapitalbeteiligung von J.B. in den deutschen Gesellschaften (entsprechend dem
Regelbeispiel des § 6 II Nr. 3 EBRG) bzw. die mittelbare Mehrheitsbeteiligung (entsprechend dem Regelbeispiel des § 6 II Nr. 2 EBRG) in den ausländischen Gesellschaften, die nur eine indirekte Einflussmöglichkeit schaffen, hier hinter dem intensiver wirkenden Beherrschungsmittel der vertraglichen Zustimmungs- und Weisungsrechte, die unter § 6 I EBRG zu subsumieren sind, zurücktreten.
Fazit: Dies zeigt, dass das Vorliegen eines Gleichordnungsvertrages keineswegs
ein Beherrschungsverhältnis ausschließt. Zu prüfen bleibt in jedem Fall, ob nicht zusätzlich Beherrschungsstrukturen gegeben sind, wie hier die vertraglichen Zustimmungs- und Weisungsrechte, die einem anderen Unternehmen eine einseitig gerich-
931 In Italien, Spanien, Frankreich, den Niederlanden, Österreich, Griechenland, Luxemburg,
Großbritannien.
932 Bzw. der bofrost International Beteiligungs-GmbH im Hinblick auf die bofrost Italia S.p.A.
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tete Einwirkungsmöglichkeit gewähren, mit dem Ergebnis, dass somit eine Abhängigkeitsbeziehung – hier in Form der einfachen Abhängigkeit, alleinigen Kontrolle
(sole control) – vorliegt. Ein Vertrag, der ein Zustimmungserfordernis und/oder
Weisungsrechte schafft, ändert die gesellschaftsinterne Zuständigkeitsverteilung –
welches zugleich eine Strukturänderung darstellt – zu Gunsten des Inhabers dieser
Rechte und kann daher als Organisationsvertrag qualifiziert werden.933
B. Einsetzung eines Europäischen Betriebsrats oder Verfahren zur Unterrichtung
und Anhörung
Leitende Grundsätze der EBR-Richtlinie bei der Einrichtung Europäischer Betriebsräte oder von Verfahren zur Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer sind die
Verhandlungs- und Gestaltungsfreiheit. Dies gewährt u. a. Flexibilität. Rahmenbedingung hierfür ist eine gemeinschaftsweite Tätigkeit des Unternehmens bzw. der
Unternehmensgruppe im Sinne des § 3 EBRG.934
Die Arbeitnehmervertretung ist gemäß § 5 EBRG berechtigt, von der zentralen
Leitung die erforderlichen Fakten zur Feststellung des Vorliegens dieser Voraussetzungen zu erfragen.935 Sind die Voraussetzungen erfüllt, können die Arbeitnehmer
oder ihre Vertretung gemäß § 9 I EBRG bei der zentralen Leitung die Bildung eines
besonderen Verhandlungsgremiums (BVG) beantragen. Die zentrale Leitung kann
auch selbständig die Bildung des BVG initiieren. Aufgabe des BVG ist es, mit der
zentralen Leitung eine Vereinbarung über die grenzüberschreitende Unterrichtung
und Anhörung der Arbeitnehmer zu schließen, § 8 I EBRG. Dabei können die Verhandlungspartner frei vereinbaren, wie sie die Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer ausgestalten wollen, § 17 EBRG. Die Vereinbarung muss sich auf alle in
den Mitgliedstaaten beschäftigten Arbeitnehmer erstrecken (§ 17 EBRG). § 1 II
EBRG ist zu entnehmen, dass sie auch einen erweiterten Geltungsbereich haben
kann. Vertragliche Gestaltungsalternativen sind die Vereinbarung eines Verfahrens
zur Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer (§ 19 EBRG) oder die Vereinbarung der Einsetzung eines Europäischen Betriebsrates (Europäischer Betriebsrat
kraft Vereinbarung, § 18 EBRG), wobei die Verfahrensmodalitäten ebenfalls individuell vereinbart werden können. Soll ein Europäischer Betriebsrat kraft Vereinbarung errichtet werden, dienen die Angaben in § 18 S. 2 EBRG als „Institutionalisierungshilfe“. Die Möglichkeit der Einsetzung eines Europäischen Betriebsrats kraft
933 Siehe dazu Kapitel 7 B.
934 Ein Unternehmen ist gemäß § 3 I EBRG gemeinschaftsweit tätig, wenn es mindestens 1000
Arbeitnehmer in den Mitgliedstaaten und davon jeweils mindestens 150 in zwei verschiedenen Mitgliedstaaten beschäftigt. Eine Unternehmensgruppe ist gemeinschaftsweit tätig
im Sinne von § 3 II EBRG, wenn sie mindestens 1000 Arbeitnehmer in den Mitgliedstaaten beschäftigt und ihr mindestens zwei Unternehmen mit Sitz in verschiedenen Mitgliedstaaten angehören, die mindestens je 150 Arbeitnehmer in verschiedenen Mitgliedstaaten
beschäftigen.
935 Näher zum Auskunftsanspruch unter C.
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References
Zusammenfassung
Europaweit agierende Unternehmen bevorzugen zunehmend Formen der Einflussnahme auf andere Gesellschaften, die sich nicht mehr nur über die Kategorien Austauschvertrag und Konzern erfassen lassen. Um diese einer rechtlichen Regelung zuführen zu können, müssen sie strukturell erfasst und einem Rechtsbegriff zugeordnet werden.
Ausgehend von dem in der EBR-Richtlinie verwendeten Begriff der Unternehmensgruppe werden in dieser Studie vielfältige Abhängigkeitsbeziehungen untersucht. Über die bisher vom deutschen Konzernrecht betrachteten gesellschaftsrechtlich vermittelten Beherrschungsgrundlagen hinausgehend, gelingt die strukturelle Erfassung von organisationsvertraglichen Einflussnahmeformen. Die entwickelten Strukturelemente von Unternehmensgruppen sind auch für andere Bereiche des europäischen Rechts der Unternehmensverbindungen von größtem Interesse.