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marktrecht erkennen, die noch zu erforschen sind.16 Die vorliegende Arbeit möchte
hierzu einen kleinen Beitrag leisten.
Im Rahmen dieser Arbeit sollen die Konzeption und die Strukturmerkmale der
Unternehmensgruppe im deutschen und europäischen Recht untersucht und dargestellt werden. Den Rechtsanwendern soll anhand der herauszuarbeitenden typisierten
Merkmale von Unternehmensgruppen die Identifizierung bestimmter Unternehmensverbindungen als Unternehmensgruppe im Sinne des EBRG erleichtert werden.
Die Arbeitnehmervertretungen (Betriebsräte) werden dadurch befähigt, bei der Geltendmachung des Auskunftsanspruchs (§ 5 EBRG), der Einsetzung eines besonderen
Verhandlungsgremiums (§ 9 I EBRG) sowie der Einsetzung eines Europäischen Betriebsrats (§ 22 EBRG), die für die Beurteilung der Unternehmensverbindung wesentlichen Informationen abzufragen und das herrschende Unternehmen, die zentrale
Leitung, als Pflichtenadressat und Anspruchsgegner „treffsicher“ zu identifizieren.
Gang der Untersuchung
EBR-Richtlinie und EBR-Gesetz definieren die Unternehmensgruppe, als Gruppe,
die aus (einem oder mehreren) herrschenden Unternehmen und von diesem abhängigen Unternehmen besteht17 und knüpfen damit gerade nicht an den im deutschen
Recht bekannten Konzerntatbestand (§ 18 AktG, § 54 BetrVG) an, sondern an den
Tatbestand der Abhängigkeit. Konzern und Unternehmensgruppe unterscheiden sich
strukturell von einander; beide Organisationsformen sind von einander abzugrenzen.
Für den Konzerntatbestand wird eine einheitliche Leitung vorausgesetzt, wohingegen für den Begriff der Unternehmensgruppe eine Abhängigkeitsbeziehung, gekennzeichnet durch die Möglichkeit zur Ausübung beherrschenden Einflusses, genügt.18 Einheitliche Leitung setzt eine konzernweite Planung, eine umfassende Steuerung der gesamten Unternehmenstätigkeit der konzernangehörigen Unternehmen
sowie eine Einflussnahme in institutionalisierter Form voraus. Für den Abhängigkeitsbegriff genügt bereits die Möglichkeit zur Ausübung beherrschenden Einflusses; eine planerische Einbeziehung der gesamten Unternehmenstätigkeit der gruppenangehörigen Unternehmen wird nicht gefordert. In der Unternehmenswirklichkeit haben sich in den letzten Jahren insbesondere vertragliche Formen der Anbindung eines Unternehmens entwickelt, die dem Vertragspartner eine punktuelle Nutzung einzelner Aspekte der Unternehmenstätigkeit des anderen Vertragspartners ermöglichen, die in die eigene Unternehmenstätigkeit eingepasst wird. Ein Beispiel
16 Hommelhoff, Konturen eines gemeinschaftsrechtlichen Unternehmensrecht, in: Müller-
Graff, Gemeinsames Privatrecht in der Europäischen Gemeinschaft, 2. A. 1999, S. 361,
383.
17 Vgl. § 6 I EBRG
18 So auch Windbichler, ZfA 1996, S. 1, 11; für den aktienrechtlichen Abhängigkeitsbegriff:
Rittner, DB 1976, 1465 ff.
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hierfür geben Just-in-Time-Zulieferbeziehungen in der Automobilindustrie.19 Vielfach kann sich die Einbeziehung in ein Konzerngesamtkonzept nicht nur als aufwendig, sondern auch als wenig flexibel und „zu statisch“ auswirken, so dass von
den Unternehmen mehr und mehr die Unternehmensgruppe als Zusammenarbeitsform präferiert wird.
Für die Definition des herrschenden Unternehmens gibt Art. 3 I EBR-Richtlinie
eine Generalklausel, die durch die Vermutungswirkung von Regelbeispielen in
Art. 3 II EBR-Richtlinie ergänzt wird. Das EBRG übernimmt diese Gesetzgebungstechnik: in § 6 I EBRG die Generalklausel und in § 6 II EBRG die Regelbeispiele.
Nach Art. 3 I EBR-Richtlinie sowie § 6 I EBR-Gesetz ist herrschendes Unternehmen, welches (unmittelbar oder mittelbar) einen beherrschenden Einfluss auf ein
anderes Unternehmen (abhängiges Unternehmen) ausüben kann. Diese Formulierung ist bereits aus dem Aktienrecht § 17 I AktG bekannt. Jedoch kann die Begriffsauslegung, die sich in Bezug auf § 17 I AktG etabliert hat, nicht 1:1 übernommen werden, denn bei der Formulierung der Richtlinie sind Erwägungen und Intentionen supranationaler Institutionen (Europäische Kommission; Europäische Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen) in die Begriffsdefinition eingeflossen, die bei der Umsetzung und Auslegung zu beachten sind.20 Durch
die Aufnahme der Begriffsdefinition „beherrschende Einflussnahme“ in die Richtlinie21 ist sie Teil des Gemeinschaftsrechts geworden. Begriffe des supranationalen
Rechts sind eigenständig auszulegen. Das wiederum bietet hier die Chance einer
Loslösung von der Beschränkung auf gesellschaftsrechtlich vermittelte Einflussmöglichkeiten, die sich für die Auslegung von § 17 I AktG verfestigt hat, und eröffnet die Möglichkeit, für die Generalklausel einen eigenständigen Anwendungsbereich zu schaffen. Bei den zuvor benannten Just-in-Time-Zulieferbeziehungen der
Automobilindustrie zeigt sich, dass es beispielsweise für Unternehmen interessant
sein kann, nur Einzelaspekte der Unternehmenstätigkeit eines anderen Unternehmens zu nutzen. Die Integration dieser in die eigene Wertschöpfungskette ist die angestrebte optimale Nutzung. Mit dem Ziel einer „größtmöglichen Flexibilität“ erfolgt die Anbindung des „zu nutzenden“ Unternehmens nicht über den Erwerb einer
(Mehrheits-)Beteiligung, sondern über Verträge, über die unter anderem der Vertragspartner die Verpflichtung erhält, seine Produktionsorganisation zu verändern
oder spezifische Investitionen für ein speziell zu fertigendes Teil vorzunehmen. Diese organisatorische Einbindung eines Vertragspartners in die unternehmensübergreifende Organisation eines anderen, insbesondere wenn sie zu Änderungen in der betrieblichen Organisation führt, z.B. in Form der Umstrukturierung von Produktionsabläufen, beeinflusst die Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer und kann zu einem
Wirkungsverlust der Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmer führen. Unter dem
Schutzzweck von EBR-Richtlinie und EBRG, erscheint es geboten, diese Vertrags-
19 Näher hierzu in Kapitel 5.
20 Siehe hierzu Kapitel 3 B VI.
21 In der englischen Fassung: „dominant influence“.
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beziehungen auf ihre Einbeziehungsfähigkeit in den Begriff der Unternehmensgruppe zu untersuchen.
Neben diesen speziellen Vertragsformen haben sich in der Unternehmenswirklichkeit weitere Formen von Einflussnahmemöglichkeiten und der Partizipation an
der unternehmerischen Tätigkeit eines anderen Unternehmens entwickelt, die nicht
über die von Art. 3 II EBR-Richtlinie und § 6 II EBRG gegebenen Regelbeispiele
erfasst werden. Für diese Einflussnahmeformen, soweit sie nach dem Schutzzweck
von EBR-Richtlinie und EBRG in deren rechtliche Regelungen einzubeziehen sind,
muss ihre Einbeziehungsfähigkeit in den Abhängigkeitsbegriff der Unternehmensgruppe nach der Generalklausel (Art. 3 I EBR-Richtlinie, § 6 I EBRG) im Wege der
Auslegung geprüft werden. Um die rechtstatsächlich entstandenen Einflussnahmeformen möglichst breit zu erfassen, soll hier ein strukturell organisationsrechtlicher
Ansatz zu Grunde gelegt werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass EBR-Richtlinie
und EBRG den Regelbeispielen (Art. 3 II EBR-Richtlinie, § 6 II EBRG) eine Vermutungswirkung für das Vorliegen einer beherrschenden Einflussnahmemöglichkeit
(Art. 3 I EBR-Richtlinie, § 6 I EBRG) zumessen. Dass lässt vermuten, dass die über
die Generalklausel zu erfassenden Beherrschungsmittel, den Beherrschungsmitteln
der Regelbeispiele in Intensität und Wirkungsweise vergleichbar sein müssen. Daher
sind zunächst die in § 6 II EBRG gesetzlich geregelten Beherrschungsgrundlagen
auf ihre Wirkungsweise und Intensität hin zu untersuchen. Wenn das Gesetz über
eine Vermutungswirkung (Art. 3 II EBR-Richtlinie; § 6 II EBRG) für bestimmte
Beherrschungsmittel eine beherrschende Einflussnahme anerkennt, ist zu hinterfragen, in welcher Form eine Einflussnahme auf das abhängige Unternehmen erfolgen
kann und welche Befugnisse dem herrschenden Unternehmen eine Beeinflussung
der Geschäftspolitik des abhängigen Unternehmens ermöglichen. Diese kann nur aus
dem Blickwinkel des abhängigen Unternehmens sicher beurteilt werden. Da das abhängige Unternehmen jedoch in verschiedene Rechtsformen gekleidet sein kann und
damit Formen und Wirkungen der Einflussnahme unterschiedlich ausfallen, sind die
Untersuchungen zu Intensität und Wirkungsweise der Beherrschungsmittel für jede
der in Betracht kommenden Rechtsformen gesondert vorzunehmen. Aus den gewonnenen Erkenntnissen sind Anhaltspunkte für die Auslegung des Begriffs der beherrschenden Einflussnahme abzuleiten.
Um die Unternehmenswirklichkeit möglichst genau abzubilden, sollen Unternehmensverbindungen aus der Praxis betrachtet werden, die eine Beeinflussung unternehmenswesentlicher Entscheidungen ermöglichen. Das hierfür benötigte Fallmaterial, soll der Entscheidungspraxis der Europäischen Wettbewerbskommission zur
Zusammenschlusskontrolle nach Art. 3 Fusionskontrollverordnung22 entnommen
22 Verordnung 139/2004/EG, ABl. EG 2004 L 24/1 vom 29.01.2004; diese ersetzt die Verordnung Nr. 4064/89/EWG über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen vom
21.12.1989.
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werden.23 Die Entscheidungen der EU-Wettbewerbskommission zur europäischen
Fusionskontrolle bieten aufgrund der Betrachtung länderübergreifender Zusammenschlüsse einen supranationalen Ansatz und einen europäischen Blickwinkel, der für
die Auslegung des Begriffs der ebenfalls transnational angelegten Unternehmensgruppe nach EBR-Richtlinie und EBRG nutzbar gemacht werden kann. Zudem ergibt sich eine Vergleichbarkeit im Hinblick auf die Strukturen von Unternehmensverbindungen, die über Art. 3 EBR-Richtlinie und § 6 EBRG erfasst werden sollen
und denen, die von der europäischen Zusammenschlusskontrolle (Art. 3 FKVO) betrachtet werden. Denn sowohl der fusionsrechtliche Begriff der Kontrolle (die Möglichkeit, die strategischen Entscheidungen in einem anderen Unternehmen zu
bestimmen) als auch der Abhängigkeitsbegriff der Unternehmensgruppe nach Art. 3
EBR-Richtlinie und § 6 EBRG (die Möglichkeit beherrschender Einflussnahme) basieren auf einer Verschiebung der Entscheidungsebenen zu Gunsten des kontrollierenden bzw. herrschenden Unternehmens.24
Damit setzt die Bearbeitung an drei Punkten an: Die in § 6 I EBRG umschriebenen Modalitäten der Einflussnahme stecken den Rahmen ab. Die unter § 6 I EBRG
zu subsumierenden Beherrschungsgrundlagen müssen in Intensität und Wirkungsweise den Beherrschungsmitteln der Regelbeispiele in § 6 II EBRG vergleichbar
sein; diese sind daher auf ihre Intensität und Wirkungsweise hin zu analysieren. Die
Kasuistik zur europäischen Fusionskontrolle stellt das Fallmaterial, anhand dessen
Gruppenstrukturen betrachtet und auf ihre Eignung zur Ausfüllung des Abhängigkeitsbegriffs der Unternehmensgruppe in § 6 I EBRG geprüft werden. Damit kann
für § 6 I EBRG ein eigenständiger Anwendungsbereich abgesteckt werden. Die Darstellung der Beherrschungsgrundlagen erfolgt anhand struktureller Merkmale.
23 Kapitel 4.
24 Näher hierzu in Kapitel 4.
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References
Zusammenfassung
Europaweit agierende Unternehmen bevorzugen zunehmend Formen der Einflussnahme auf andere Gesellschaften, die sich nicht mehr nur über die Kategorien Austauschvertrag und Konzern erfassen lassen. Um diese einer rechtlichen Regelung zuführen zu können, müssen sie strukturell erfasst und einem Rechtsbegriff zugeordnet werden.
Ausgehend von dem in der EBR-Richtlinie verwendeten Begriff der Unternehmensgruppe werden in dieser Studie vielfältige Abhängigkeitsbeziehungen untersucht. Über die bisher vom deutschen Konzernrecht betrachteten gesellschaftsrechtlich vermittelten Beherrschungsgrundlagen hinausgehend, gelingt die strukturelle Erfassung von organisationsvertraglichen Einflussnahmeformen. Die entwickelten Strukturelemente von Unternehmensgruppen sind auch für andere Bereiche des europäischen Rechts der Unternehmensverbindungen von größtem Interesse.