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IV. Das Verhältnis der Zivilgerichte zu den nationalen Kartellbehörden
Auch im Verhältnis zu nationalen Behörden sind widersprüchliche Entscheidungen
bei der tatbestandlichen Anwendung der Wettbewerbsregeln auf den gleichen Fall
zu vermeiden. In diesem Zusammenhang sind grundsätzlich die gleichen Gesichtspunkte von Bedeutung wie im Verhältnis zur Kommission. Es ist also fraglich, wie
sich die Zuständigkeitsverteilung zwischen Gerichten und Kartellbehörden darstellt
und inwiefern Entscheidungen jeweils gegenseitig beachtlich sind.
1. Zuständigkeitsverteilung
Auch im Verhältnis zu den nationalen Behörden besteht zwangsläufig eine parallele
Zuständigkeit. Zivilgerichte sind nach Art. 6 VO 1/2003, nationale Behörden nach
Art. 5 VO 1/2003 für die Anwendung der Wettbewerbsregeln zuständig, ohne dass
eine Zuständigkeitsabgrenzung in Betracht käme. Das folgt auch hier schon aus den
unterschiedlichen Zwecken von behördlichem Verfahren und Zivilprozess und dem
daraus resultierenden Nebeneinander von hoheitlichem Vollzug und Individualrechtsschutz. Die den jeweiligen Rechtsanwendern zufallenden Aufgaben können
auch hier nicht durch den jeweils anderen übernommen werden.
Eine parallele Anwendung mit den nationalen Kartellbehörden kommt freilich nur
in Betracht, soweit nicht die Kommission zu einem Fall selbst ein Verfahren einleitet. Sobald die Kommission von ihrem Evokationsrecht nach Art. 11 Abs. 6 VO
1/2003 Gebrauch macht und ein Verfahren nach Art. 2 Abs. 1 VO 773/2004 einleitet, entfällt die Zuständigkeit der nationalen Behörden. An deren Stelle tritt sodann
die Kommission.
2. Beachtlichkeit der Entscheidungen nationaler Behörden
Für die Frage, ob Gerichte die Entscheidungen nationaler Behörden zu dem gleichen
Fall zu beachten haben, ist zwischen Entscheidungen nationaler und ausländischer
Behörden zu unterscheiden.
a) Verhältnis zu Behörden des eigenen Mitgliedstaats
Die Verordnung trifft bislang keine Aussage über die Beachtlichkeit von Entscheidungen nationaler Behörden des gleichen Mitgliedstaates, etwa durch Ausweitung
der Pflicht gemäß Art. 16 Abs. 1 Satz 1 VO 1/2003 auf Entscheidungen nationaler
Kartellbehörden. Auch lassen sich die Grundsätze der Masterfoods-Rechtsprechung
nicht auf das Verhältnis der Zivilgerichte zu nationalen Kartellbehörden übertragen.
Denn der dieser Rechtsprechung zugrunde liegende Grundsatz der loyalen Zusam-
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menarbeit findet auf das Verhältnis von Gerichten und Behörden desselben Mitgliedstaates keine Anwendung. Die Mitgliedstaaten können somit grundsätzlich eine
autonome Regelung treffen. Allerdings macht die Kommission in ihrem Weißbuch
zu Schadensersatzklagen den Vorschlag, eine Art. 16 Abs. 1 Satz 1 VO 1/2003 entsprechende Regelung auch für nationale Behörden einzuführen572. Initiativen für die
Regelung eines Informationsaustauschs zwischen Gerichten und Behörden des eigenen oder eines anderen Mitgliedstaats gab es bislang nicht573
In Deutschland sieht § 33 Abs. 4 GWB für Entscheidungen von Kartellbehörden
vor, dass die Gerichte in zivilrechtlichen Verfahren an diese „gebunden“ sind. Für
das Vereinigte Königreich existiert mit dem durch den Enterprise Act 2002 neu
eingefügten section 58A des Competition Act eine vergleichbare Vorschrift. Die
Vorschrift des § 33 Abs. 4 GWB spricht nur Verbotsentscheidungen an. Darunter
sind sämtliche verwaltungs- und bußgeldrechtlichen Entscheidungen zu verstehen,
in denen ein Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht zum Ausdruck kommt574. Zu
Entscheidungen, durch die gemäß Art. 10 VO 1/2003 die Nichtanwendbarkeit der
Art. 81 und 82 EG festgestellt wird, sind die nationalen Behörden nicht befugt575.
Wie bei Art. 16 VO 1/2003 ist Gegenstand des § 34 Abs. 4 GWB nur die Beurteilung über das Vorliegen eines Wettbewerbsrechtsverstoßes576. Die übrigen zivilrechtlichen Aspekte des Rechtsstreits werden hingegen nicht determiniert577.
Nach seinem Wortlaut geht § 33 Abs. 4 GWB über die in Art. 16 Abs. 1 VO
1/2003 bestimmte Verpflichtung hinaus. Während die gemeinschaftsrechtliche Regelung allein eine Pflicht zur Vermeidung widersprüchlicher Entscheidungen statuiert, bestimmt § 33 Abs. 4 GWB eine Bindung an Verwaltungsentscheidungen. Danach wäre von einer Tatbestandswirkung578 in der Weise auszugehen, dass nationale
Zivilgerichte eine wettbewerbsrechtliche Prüfung nicht mehr durchführen müssen,
sondern die vorangegangene Verwaltungsentscheidung der eigenen Entscheidung
zugrunde legen können. Ein gewisser Anhaltspunkt dafür, dass einem nationalen
Richter weiterhin eine eigene Prüfung gestattet ist und er die Verwaltungsentscheidung nicht zwangsläufig unbesehen seiner Entscheidung zugrunde legen muss, ergibt sich indessen aus dem Hinweis in § 33 Abs. 4 GWB auf die Vorlagemöglichkeit
nach Art. 234 EG. Zu Auslegungszweifeln579 des nationalen Richters, die zu einer
Vorlage Anlass geben können, kann es letztlich nur kommen, wenn dieser eine
wettbewerbsrechtliche Prüfung selbst durchführt. Im Unterschied zu der Regelung
572 S. 6 f.
573 Zu dieser Frage vgl. A. P. Komninos, EC Private Antitrust Enforcement, S. 93.
574 H. Kahlenberg/C. Haellmigk, BB 2004, S. 389 (394).
575 Art. 5 VO 1/2003 zählt diese Art von Entscheidungen nicht auf (vgl. etwa G.-K. de Bronett,
Art. 5 VO 1/2003, Rn. 3).
576 M. Sura, Langen/Bunte, Kartellrecht, Bd. 2, VO 1/2003, Art. 16, Rn. 6.
577 M. Meyer, GRUR 2006, S. 27 (30).
578 Begründung zum Regierungsentwurf zur siebten GWB-Novelle vom 12. 8. 2004, BTDrucks.
15/3640, S. 54; V. Emmerich, in: Immenga/Mestmäcker, GWB, § 33, Rn. 78.
579 Die Vorlage einer Gültigkeitsfrage kommt in Bezug auf eine nationale Verwaltungsentscheidung freilich nicht in Betracht.
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des Art. 16 Abs. 1 VO 1/2003 ist er nach dem Wortlaut des § 33 Abs. 4 GWB zu
einer wettbewerbsrechtlichen Prüfung jedoch nicht verpflichtet.
Ob diese inhaltliche Abweichung von Art. 16 Abs. 1 VO 1/2003 gewollt ist, kann
bezweifelt werden. Denn hinsichtlich der Beachtlichkeit von Kommissionsentscheidung soll die Bestimmung nach der Gesetzesbegründung nur klarstellende Wirkung
haben580. Für Entscheidungen der Kommission darf sich die Abweichung der Regelung in § 33 Abs. 4 GWB rechtlich nicht auswirken. Aufgrund des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts muss § 33 Abs. 4 GWB hinter Art. 16 VO 1/2003
zurückstehen581. Hier bleibt es bei der grundsätzlichen Verpflichtung zur wettbewerbsrechtlichen Prüfung582. Für die Entscheidungen nationaler Kartellbehörden an
dem Wortlaut festzuhalten und von einer strengen Bindungswirkung auszugehen,
würde bedeuten, dass solchen Entscheidungen im Ergebnis größere Autorität eingeräumt würde als Entscheidungen der Kommission. Dies spricht dafür, die Vorschrift
des § 33 Abs. 4 GWB gemeinschaftskonform auszulegen und im Sinne des Art. 16
Abs. 1 VO 1/2003 als eine Verpflichtung zu Vermeidung widersprüchlicher Entscheidungen zu verstehen.
Sachlich nicht nachvollziehbar erscheint es, dass die Bindung der Gerichte an nationale Behördenentscheidungen nach dem Wortlaut des § 33 Abs. 4 GWB nur für
Verfahren bestimmt wird, in denen Schadensersatz begehrt wird. Denn es wäre
kaum zu rechtfertigen, warum die Gerichte im Falle deliktischer Klagen an eine
Behördenentscheidung gebunden sein sollten, im Falle einer vertraglichen Erfüllungsklage gleichwohl völlig frei entscheiden könnten583. Es bleibt abzuwarten, ob
dieser Unzulänglichkeit des nationalen deutschen Rechts durch eine Analogie abgeholfen wird.
b) Verhältnis zu Behörden anderer Mitgliedstaaten
Die VO 1/2003 behandelt die Beachtlichkeit von Entscheidungen durch Behörden
fremder Mitgliedstaaten an keiner Stelle584. Als Hoheitsakte entfalten Entscheidungen grundsätzlich lediglich Wirkung innerhalb des erlassenden Mitgliedstaates585.
580 Begründung zum Regierungsentwurf zur siebten GWB-Novelle vom 12. 8. 2004, BTDrucks.
15/3640, S. 54.
581 Vgl. auch M. Meyer, GRUR 2006, S. 27 (29).
582 S.o. C. III. 2. b) aa) (1) (c) (aa).
583 Vgl. dazu anschaulich Monopolkommission, Sondergutachten, Das allgemeine Wettbewerbsrecht in der Siebten GWB-Novelle, Rn. 45; s. auch V. Emmerich, in: Immenga/Mestmäcker,
GWB, § 33, Rn. 80.
584 Vgl. zu einer entsprechenden sekundärrechtlichen Regelung M. Siragusa, in: Ehlermann/Atanasiu, European Competition Law Annual No. 5 (2000) – The Modernisation of EC
Antitrust Policy, S. 443 (451 f.); vgl. auch J. Schütz, WuW 2000, S. 686 (693).
585 K. Lenaerts/D. Gerard, JWC 2004, S. 313 (328); S. Gierschmann, Dezentralisierungsmöglichkeiten, S. 231 ff.; Begründung zum Kommissionsvorschlag, S. 19. Vgl. T. Stein/C. von
Buttlar, Völkerrecht, Rn. 615.
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Der im Weißbuch zu Schadensersatzklagen gemachte Vorschlag der Ausweitung
des Art. 16 VO 1/2003 auf Kartellbehörden bezieht sich allerdings auch auf ausländische Behörden586. Anders als im Verhältnis von Gerichten und Behörden desselben Mitgliedstaates könnte hinsichtlich ausländischer Entscheidungen zudem argumentiert werden, auf der Grundlage des in der Rechtsprechung des EuGH anerkannten587 zwischenstaatlichen Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit ließe sich die
Masterfoods-Rechtsprechung auf dieses Verhältnis übertragen. Dann bestünde zwar
auch hier keine formelle Bindungswirkung, jedoch eine Pflicht, keine widersprüchliche Entscheidungen zu erlassen.
Allerdings besteht bei den nationalen Kartellbehörden im Vergleich zur Kommission ein entscheidender Unterschied. Für die nationalen Behörden existiert keine
Art. 85 EG vergleichbare Vorschrift, so dass diese nicht dieselbe herausgehobene
Stellung haben wie die Kommission. Nach der Rechtsprechung des EuGH in der
Sache Masterfoods ergab sich die Pflicht zur Vermeidung widersprüchlicher Entscheidungen aus Art. 10 EG gerade vor dem Hintergrund der besonderen Stellung
der Kommission nach Art. 85 EG588. Die Grundsätze der Masterfoods-
Rechtsprechung sind damit auf das Verhältnis zu den nationalen Kartellbehörden
nicht übertragbar589.
Für dieses Ergebnis spricht auch die jüngere Rechtsprechung des EuGH, derzufolge eine abweichende Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch eine ausländische
Verwaltungsbehörde unter Umständen nicht einmal ein Hindernis darstellt, um von
einem acte claire im Sinne der C.I.L.F.I.T.-Rechtsprechung590 auszugehen591. Solange eine Bindung an kartellbehördliche Entscheidungen nicht sekundärrechtlich
festgeschrieben ist, ist daher eine spätere abweichende Gerichtsentscheidung grundsätzlich möglich592.
De lege lata muss somit, soweit es um die Koordination der Entscheidungen nationaler Gerichte mit solchen drittstaatlicher Behörden geht, das Schwergewicht auf
den präventiven Mechanismen liegen, die die Kommission in die Lage versetzen,
bereits bei der Entscheidungsfindung zu assistieren. Es kann somit eine Einflussnahme im vertikalen Verhältnis zwischen der Kommission und den Behörden einer-
586 S. 7.
587 EuGH, Urteil vom 10.7.1980, Rs. 32/79 – Kommission/Vereinigtes Königreich, Slg. 1980,
2403, Rn. 46 ff.; Urteil vom 22.3.1983, Rs. 42/82 – Kommission/Frankreich, Slg. 1983, 1013,
Rn. 36; Urteil vom 27.9.1988, Rs. 235/87 – Matteucci/Communauté française de Belgique,
Slg. 1988, 5589, Rn. 19; Urteil vom 11.6.1991, Rs. C-251/89 – Athanasopoulos u.a./Bundesanstalt für Arbeit, Slg. 1991, I-2797, Rn. 57.
588 EuGH, Urteil vom 14.12.2000, Rs. C-344/98 – Masterfoods/HB, Slg. 2000, S. I-11412, Rn.
46.
589 Vgl. auch Vgl. A. P. Komninos, CML Rev. 2007, S. 1387 (1396 f.).
590 EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1982, Rs. 283/81 – C.I.L.F.I.T./Ministero della Sanita, Slg.
1982, 3415, Rn. 17.
591 EuGH, Urteil vom 15. September 2005, Rs. C-495/03 – Intermodal Transports/ Staatssecretaris van Financiën, Slg. 2005, I-8151, Rn. 39.
592 Allgemein zur Möglichkeit der Anerkennung aufgrund von Gemeinschaftsrecht: T. C. W.
Beyer, EWS 1999, S. 12 (13 ff.).
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seits (Art. 11 VO 1/2003) und der Kommission und den Gerichten andererseits (Art.
15 VO 1/2003) stattfinden. Eine horizontale Abstimmung ist bislang nicht vorgesehen593.
Einer widerspruchsfreien Rechtsanwendung ist es freilich zuträglich, wenn nationale Regelungen von der Beachtlichkeit ausländischer Behördenentscheidungen
ausgehen594. In diesem Sinne erstreckt sich § 33 Abs. 4 GWB auch auf ausländische
Entscheidungen595. Hinsichtlich des Wortlauts, der auch für drittstaatliche Behördenentscheidungen eine strenge Bindungswirkung vorsieht, gilt das in Bezug auf
Entscheidungen deutscher Kartellbehörden Gesagte596. Die Vorschrift ist ebenfalls
im Sinne von Art. 16 Abs. 1 Satz 1 VO 1/2003 auszulegen als Pflicht, keine abweichenden Entscheidungen zu treffen. Auch aus Gesichtspunkten der richterlichen
Unabhängigkeit verbietet es sich, von einer strengen Bindung auszugehen. Denn es
besteht keine Möglichkeit sicherzustellen, dass die Rechtsordnung, aus der die Entscheidung stammt, eine ausreichende richterliche Kontrolle vorsieht597.
c) Folgen der gerichtlichen Anfechtung einer nationalen Behördenentscheidungen
Auch für das Verhältnis nationaler Zivilgerichte zu den Verwaltungsgerichten, die
mit der Überprüfung der Behördenentscheidung befasst sind, lassen sich aus der VO
593 C. D. Ehlermann, CML Rev. 2000, S. 537 (572) weist auf die Möglichkeit hin, eine gegenseitige Beachtung von nationalen Behördenentscheidungen durch ein Übereinkommen zu regeln.
594 Weniger weit reichende Regelungen sind denkbar, etwa die Behandlung der ausländischen
Entscheidung als prima facie Beweis einer Wettbewerbsrechtsverletzung (K. Lenaerts/D. Gerard, JWC 2004, S. 313 [328]), was auch im Hinblick auf Art. 2 VO 1/2003 als zulässig zu
erachten sein dürfte.
595 Vgl. für eine eingehende Analyse der Wirkungen dieser Vorschrift auch unter Rechtsschutzgesichtspunkten R. Bechtold, in: Bechtold, Kartellgesetz, § 33 GWB, Rn. 36 ff.
596 S.o. C.III.2.a).
597 Vgl. insofern unter C.III.2.b) aa) (3); s. auch V. Emmerich, in: Immenga/Mestmäcker, GWB,
§ 33, Rn. 81; vgl. weiterhin Monopolkommission, Sondergutachten, Das allgemeine Wettbewerbsrecht in der Siebten GWB-Novelle, Rn. 53 f., die im Übrigen davon ausgeht, ein Vergleich mit den Anerkennungsregeln für Gerichtsurteile nach den Art. 32 ff. Brüssel I-VO,
wonach ebenfalls gewisse Anerkennungshindernisse zu beachten seien, führe zu dem Schluss,
eine vorbehaltlose Anerkennung von Entscheidungen ausländischer Kartellbehörden, in denen die Art. 81 und 82 EG zur Anwendung gelangen, sei gemeinschaftsrechtswidrig. Aus der
Rechtsprechung des EuGH in der Sache Krombach (EuGH, Urteil vom 28.3.2000, Rs. C-7/98
– Krombach/Bamberski, Slg. 2000, I-1935) folge eine Pflicht der Mitgliedstaaten zur Anerkennungsverweigerung im Falle von Grundrechtsverletzungen (Rn. 40). Aus der Rechtsprechung des EuGH im Falle Krombach lässt sich diese Schlussfolgerung indessen nicht ziehen.
Bei der Auslegung der Grenzen des ordre public-Begriffs kommt der EuGH lediglich zu dem
Ergebnis, dass eine offensichtliche Verletzung der Gemeinschaftsgrundrechte den Anerkennungsstaat zu einer Anerkennungsverweigerung „berechtigt“ (EuGH, Urteil vom 28.3.2000,
Rs. C-7/98 – Krombach/Bamberski, Slg. 2000, I-1935, Rn. 40) beziehungsweise dass eine
solche in entsprechenden „Ausnahmefällen für zulässig zu erachten“ (aaO. Rn. 44) sei. Von
einer Verpflichtung ist nicht die Rede.
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1/2003 keine Vorgaben entnehmen. Es ist danach Sache der nationalen Rechtsordnungen, ob sie von der Beachtlichkeit einer solchen Rechtshängigkeit ausgehen, und
gegebenenfalls eine Aussetzungspflicht bestimmen598. Auch die Wirkung einer verwaltungsgerichtlichen Entscheidung wird durch die Kartellverfahrensverordnung
nicht geregelt. § 33 Abs. 4 Satz 2 GWB bestimmt indessen eine Bindungswirkung
für derartige Entscheidungen, sofern sie in Rechtskraft erwachsen.
V. Das Verhältnis zwischen Zivilgerichten unterschiedlicher Mitgliedstaaten
Das Bedürfnis, widersprüchliche Entscheidungen zu vermeiden, besteht auch im
Verhältnis von Zivilgerichten unterschiedlicher Mitgliedstaaten599. Dabei ist die
Ausgangslage im Verhältnis verschiedener Zivilgerichte untereinander eine grundsätzlich andere als im Verhältnis der Zivilgerichte zur Kommission und den nationalen Kartellbehörden. Während zivilgerichtlicher und hoheitlicher Kartellrechtsvollzug unterschiedlichen Zwecken dient600, geht es im vorliegenden Zusammenhang
um die grundsätzlich gleiche Zweckverfolgung, nämlich die Entscheidung über
zivilrechtliche Ansprüche. Das Bedürfnis, Entscheidungswidersprüche zu vermeiden, erscheint hier in anderem Licht. Während Kommission und nationale Behörden
über unterschiedliche Rechtsfolgen entscheiden als Zivilgerichte und es bei der
Vermeidung von Entscheidungswidersprüchen nur darum geht, die unterschiedliche
tatbestandliche Anwendung der Art. 81 und 82 EG zu verhindern, entscheiden Zivilgerichte potentiell über die gleichen Rechtsfolgen.
Sofern es um die Entscheidung des identischen Rechtsstreits601 geht, gilt es eine
mehrfache Entscheidung über die Rechtsfolgen selbst, nicht nur eine widersprüchliche tatbestandliche Auslegung der Art. 81 und 82 EG, zu verhindern602. Diesem
Zwecke dienen Regeln über die anderweitige Rechtshängigkeit bzw. Rechtskraftwirkungen.
Auch im Verhältnis der Zivilgerichte untereinander kann es jedoch zu Konstellationen kommen, in denen es, wie im Verhältnis zu Kommission und nationalen Behörden, um eine unterschiedliche tatbestandliche Beurteilung des gleichen Falles
anhand der Art. 81 und 82 EG geht. Dies ist der Fall, wenn zwar der gleiche Ausgangsfall zu beurteilen ist, jedoch gleichwohl von einem unterschiedlichen zivilpro-
598 Da es sich bei verwaltungsgerichtlichen Verfahren nicht um eine „Zivil- und Handelssache“
gemäß Art. 1 Abs. 1 Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über
die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen
in Zivil- und Handelssachen, ABl. Nr. L 12 vom 16.1.2001, S. 1 (im Folgenden: Brüssel I-
VO) handelt, finden die Regeln über die anderweitige Rechtshängigkeit nach Art. 27 f Brüssel I-VO jedenfalls keine Anwendung (vgl. dazu unter C. V. 2. a)).
599 Mechanismen zur Vermeidung widersprüchlicher Entscheidungen von Gerichten des gleichen
Mitgliedstaats, bleiben vorliegend außer Betracht.
600 S.o. C. II.
601 S. dazu im Einzelnen unter C. V. 2. a) aa).
602 Vgl. R. Geimer, Internationales Zivilprozessrecht, Rn. 101.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Der Erlass der EG-Verordnung 1/2003 hat einen Systemwechsel im Bereich des europäischen Kartellverfahrens bewirkt und den Weg für eine verstärkte private Kartellrechtsdurchsetzung geebnet. Auf der politischen Agenda der Europäischen Kommission hat die Stärkung des private enforcement weiterhin höchste Priorität. Die ersten spektakulären kartellrechtlichen Schadensersatzprozesse und die Entstehung eines kartellprivatrechtlichen Klagegewerbes in Europa markieren den Anfang einer nachhaltigen Entwicklung.
Durch die mit der Einbeziehung der Zivilgerichte verbundene Dezentralisierung des Kartellrechtsvollzugs entsteht auch das vermehrte Bedürfnis, eine einheitliche Rechtsanwendung durch die beteiligten Akteure sicherzustellen.
Das vorliegende Werk untersucht die gemeinschaftsrechtlichen Mechanismen, die der Sicherung einer einheitlichen Anwendungspraxis zwischen den Zivilgerichtsbarkeiten der einzelnen Mitgliedstaaten und der Vermeidung von Entscheidungswidersprüchen zwischen den am Kartellrechtsvollzug beteiligten Akteuren im konkreten Anwendungsfall dienen.
Der Autor ist als Rechtsanwalt im Bereich des Kartellrechts in einer Sozietät in Stuttgart tätig.