52
noch möglich ist184. Mit dem Übergang von dem Freistellungsmonopol der Kommission zum System der Legalausnahme hat sich ein bedeutender dogmatischer
Wandel vollzogen, der die Beantwortung dieser Frage maßgeblich mitbestimmt.
Denn bislang führte erst eine Kommissionsentscheidung die Rechtsfolgen des Art.
81 Abs. 3 EG herbei. Erst der Erlass einer konstitutiven Freistellungsentscheidung
bewirkte eine Umgestaltung der Rechtslage. Dies erlaubte es, in den Entscheidungsprozess und damit in den Prozess der Rechtsgestaltung weitere Gesichtspunkte mit
einzubeziehen.
Unter dem Legalausnahmesystem hingegen treten die Rechtsfolgen des Art. 81
Abs. 3 EG bei Vorliegen seiner Voraussetzungen bereits ex lege ein, nicht erst durch
eine spätere Entscheidung, sei sie gerichtlich oder administrativ. Jede Entscheidung
über Art. 81 Abs. 3 EG kann nur darauf gerichtet sein, das festzustellen, was nach
der tatbestandlichen Aussage der Vorschrift ohnehin unmittelbar gilt185. Dies hat zur
Konsequenz, dass es nicht länger möglich ist, Umstände in die Anwendung des Art.
81 Abs. 3 EG mit einzubeziehen, die außerhalb seines Tatbestands liegen186. Andernfalls würde die Entscheidung nicht mit dem übereinstimmen, was nach Art. 81
Abs. 3 von Gesetzes wegen gilt. Für die Einbeziehung wettbewerbsfremder Aspekte
ist somit im Legalausnahmesystem insgesamt kein Raum187. Im Übrigen würde es
auch hier nicht der Stellung und Legitimation nationaler Behörden und Gerichte
entsprechen, derartige politische Beurteilungen vorzunehmen188. Es verbietet sich
daher auch unter diesem Gesichtspunkt, nationalen Gerichten die Einbeziehung
nichtwettbewerblicher Aspekte zu gestatten. In dieser Hinsicht besteht daher keine
Gefahr für eine einheitliche Rechtsanwendung.
III. Instrumente zur Gewährleistung genereller Einheitlichkeit der Rechtsanwendung
Während der abstrakte Rechtsrahmen bei der Anwendung der Art. 81 und 82 EG
zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten damit weitgehend übereinstimmt, und auch
bei der einzelfallbezogenen Anwendung keine nennenswerten Spielräume der Gerichte bestehen, stellt sich nunmehr die Frage, welche Instrumente zur Verfügung
stehen, um auch in der Praxis der Rechtsanwendung eine generelle Kohärenz sicherzustellen. Es versteht sich von selbst, dass hierfür vielfältige Faktoren eine Rolle
spielen können. Nicht zuletzt hängt die Anwendungskonvergenz von der wachsen-
184 Vgl. P. Goldschmidt/J. Thomsen, Eipascope 2003, S. 24 (28).
185 A.A. H. Quellmalz, WRP 2004, S. 461 (466 f.), der von der wenigstens theoretischen Möglichkeit ausgeht, dass die Kommission weiterhin nichtwettbewerbsrechtliche Aspekte berücksichtigt.
186 Vgl. J. Schwarze/A. Weitbrecht, Kartellverfahrensrecht, § 2, Rn. 17.
187 E.-J. Mestmäcker/H. Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, § 13, Rn. 77; R. Whish,
Competition Law, S. 155; vgl. weiterhin R. Wesseling, E.L.Rev. 26 (2001), S. 357 (373 f.).
188 O. Okeoghene, E.C.L.R. 2002, S. 17 (23 f.) m.w.N.; A. Fuchs, ZWeR 2005, S. 1 (17); R.
Wesseling, E.C.L.R. 1999, S. 420 (424 f.).
53
den wettbewerbsrechtlichen Fachkenntnis der nationalen Richter ab. Hierfür können
Maßnahmen nützlich sein, die auf den Ausbau der wettbewerbsrechtlichen Kompetenz abzielen. Die Gründung einer Association of European Competition Law Judges (AECLJ) stellt einen Schritt in diese Richtung dar. Zudem bemüht sich die
Kommission um die kontinuierliche Weiterbildung nationaler Richter im europäischen Wettbewerbsrecht189. Auch können Maßnahmen der nationalen Gerichtsorganisation, insbesondere die Konzentration kartellrechtlicher Zivilverfahren bei speziellen Kartellgerichten, die Herausbildung wettbewerbsrechtlicher Fachkenntnis
fördern190.
Die folgende Darstellung beschränkt sich auf die Untersuchung der rechtlichen
Instrumente, die das Gemeinschaftsrecht selbst bietet, um die einheitliche Anwendung des europäischen Wettbewerbsrechts sicherzustellen. Dabei sollen zunächst
Instrumente in den Blick genommen werden, die den Gemeinschaftsgerichten an die
Hand gegeben sind. Sodann sind die Möglichkeiten der Kommission zu untersuchen, auf eine einheitliche Anwendung hinzuwirken. Schließlich ist ein Blick auf die
Rolle der nationalen Kartellbehörden bei der Sicherstellung einer generellen Anwendungskonvergenz zu werfen.
1. Instrumente der Gemeinschaftsgerichte
Die allgemeine Aufgabenzuweisung des Art. 220 Abs. 1 EG, wonach EuGH und
EuG Auslegung und Anwendung des Rechts sichern, begründet die Bedeutung, die
der europäischen Gerichtsbarkeit bei der Sicherung der einheitlichen Rechtsanwendung des Gemeinschaftsrechts zukommt. Dem EuGH obliegt dabei die letztverbindliche Auslegung des Gemeinschaftsrechts191. Indem er abschließend bestimmt, welche Auslegung allein rechtmäßig ist, hat der EuGH eine tragende Bedeutung bei der
Sicherstellung einer einheitlichen Rechtsanwendung durch nationale Gerichte. Seine
Funktion verwirklicht er insbesondere durch das Vorabentscheidungsverfahren gemäß Art. 234 EG, in gewissem Umfang auch durch das Vertragsverletzungsverfahren gemäß Art. 226 EG192.
189 Vgl. etwa die jüngste Aufforderung zur Einreichung von Vorschlägen über die Schulung
einzelstaatlicher Richter im Europäischen Wettbewerbsrecht und justizielle Zusammenarbeit
zwischen einzelstaatlichen Richtern, ABl. Nr. C 251 vom 3.10.2008, S. 20.
190 Vgl. §§ 87 bis 89 und 91 bis 95 GWB; s. auch U. Böge, in: Ehlermann /Atanasiu, European
Competition Law Annual No. 5 (2000) – The Modernisation of EC Antitrust Policy, S. 55
(73); A. Geiger, EuZW 2000, S. 165 (169); D. Goyder, in: Ehlermann/Atanasiu, European
Competition Law Annual No. 5 (2000) – The Modernisation of EC Antitrust Policy, S. 571
(575 f.).
191 C. Koenig/M. Pechstein/C. Sander, EU-/EG-Prozessrecht, Rn. 755 f; I. Pernice/F. C. Mayer,
in: Grabitz/Hilf, Art. 220 EG, Rn. 21.
192 Vgl. E. Paulis, in: Ehlermann/Atanasiu, European Competition Law Annual No. 5 (2000) –
The Modernisation of EC Antitrust Policy, S. 399 (401 f.).
54
a) Vorlageverfahren gemäß Art. 234 EG
Die Wahrung einer einheitlichen Rechtsanwendung gehört zu den maßgeblichen
Funktionen des Vorabentscheidungsverfahrens193. Dieses Verfahren erlaubt es den
nationalen Gerichten, ausgehend von einem bei ihnen anhängigen Rechtsstreit, bei
Auslegungs- und Gültigkeitszweifeln dem EuGH Vorlagefragen zu unterbreiten.
Auf diese Weise kann der EuGH eine im nationalen Verfahren relevante gemeinschaftsrechtliche Frage entscheiden194. Zur Entscheidung des Rechtsstreits an sich
bleibt indessen das vorlegende Gericht zuständig. Daraus ergeben sich gewisse Einschränkungen für die Zugriffsmöglichkeiten des EuGH.
Eine erste Einschränkung liegt darin, dass es von der Vorlagebereitschaft und etwaigen strategischen Überlegungen der nationalen Gerichte abhängig ist195. Weiterhin wird die Ansicht vertreten, der Einfluss des EuGH sei dadurch beschränkt, dass
er im Vorabentscheidungsverfahren grundsätzlich nur abstrakte Rechtsfragen beantworte und somit die Anwendung auf den Einzelfall weiterhin dem nationalen
Richter obliege196. Allerdings mag dies zwar der theoretischen Konzeption des Verfahrens entsprechen197. Tatsächlich sind die Entscheidungen des EuGH jedoch in
hohem Maße auf den jeweiligen Einzelfall zugeschnitten198, was die genannten Bedenken erheblich relativiert. Diese Beobachtung kommt in einer nüchternen Feststellung Mancinis und Keelings zum Ausdruck, in der es heißt: „[the Court] enters into
the heart of the conflict submitted to its attention, but it takes the precaution of rendering it abstract, that is to say it presents it as a conflict between Community law
and a hypothetical national provision having the nature of the provision in issue
before the national court”199. Größere Probleme ergeben sich daraus, dass die Entscheidung des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren davon beeinflusst wird, was
ihm das nationale Gericht an Fakten präsentiert200.
193 EuGH, Urteil vom 16.1.1974, Rs. 166/73 – Rheinmühlen/Einfuhr- und Vorratsstelle, Slg.
1974, 33, Rn. 2; zuletzt Urteil vom 10.1.2006, Rs. C-344/04 – IATA/Department for Transport, Slg. 2006, I-403, Rn. 27; Urteil vom 6.12.2005, Rs. C-461/03, Gaston Schul/Minister
van Landbouw, Slg. 2005, I-10513, Rn. 21.
194 Zur Bedeutung des Vorlageverfahrens für den Bereich des europäischen Wettbewerbsrechts
vgl. die umfassende Studie von B. J. Rodger, Article 234 and Competition Law.
195 Dazu ausführlich U. Haltern, Europarecht, S. 175 ff.; S. A. Nyikos, European Journal of
Political Research, 45 (2006), S. 527 ff.
196 A. Deringer, EuZW 2000, S. 5 (9).
197 Vgl. EuGH, Urteil vom 12.2.1998, Rs. C-366/96 – Cordelle/ONP, Slg. 1998, I-583, Rn. 9.
198 Vgl. hierzu M. Dauses, in: Due/Lutter/Schwarze, Festschrift für Ulrich Everling, Bd. 1, S.
223 (230 ff.); K. Lenaerts, in: Curtin/Heukels, Institutional Dynamics of European Integration
– Essays in Honour of Henry G. Schermers, Bd. II, 1994, 355, 358 m.w.N. Ein anschauliches
Beispiel liefert die Entscheidung EuGH, Urteil vom 10.4.2003, Rs. C-276/01 – Steffensen,
Slg. 2003, I-3735, Rn. 64 ff.
199 G. F. Mancini/D. T. Keeling, Yearbook of European Law, Bd. 11 (1991), S. 1 (9).
200 K. Lenaerts/D. Gerard, World Competition 2004, S. 313 (339 f.); vgl. auch J. Hamer, EWS
2003, S. 415 (418).
55
Weiterhin gilt die Vorlagepflicht der nationalen Gerichte nicht uneingeschränkt.
Während nicht-letztinstanzliche Gerichte grundsätzlich ohnehin keine Pflicht zur
Vorlage haben201, erfährt auch die Vorlagepflicht letztinstanzlicher Gerichte Einschränkungen. So besteht nach der Rechtsprechung des EuGH keine Pflicht zur
Vorlage, wenn eine Rechtsfrage „bereits in einem gleichgelagerten Fall Gegenstand
einer Vorabentscheidung gewesen ist“202, „selbst dann, wenn die strittigen Fragen
nicht vollkommen identisch sind“203. Die präjudizielle Wirkung führt zu einer größeren Eigenverantwortlichkeit nationaler Gerichte und ermöglicht eine gänzlich dezentrale gerichtliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts ohne inzidente Beteiligung
des EuGH durch das Vorabentscheidungsverfahren. Hinzutritt der Spielraum, der
den nationalen Gerichten durch die acte-claire-Doktrin des EuGH eingeräumt wird.
Danach besteht eine Vorlagepflicht auch dann nicht, wenn die richtige Anwendung
des Gemeinschaftsrechts offenkundig ist204. Daraus folgt, dass der EuGH als zentrale Instanz somit nicht jede Rechtsfrage des Gemeinschaftsrechts zu entscheiden hat
und nicht durchweg die Einheitlichkeit nationaler Entscheidungen sicherstellen
kann205.
Auch in tatsächlicher Hinsicht stößt der EuGH bei seinen Bemühungen, mithilfe
des Vorlageverfahrens auf die einheitliche Rechtsanwendung hinzuwirken, an Grenzen. Es darf nicht übersehen werden, dass der EuGH bereits jetzt unter einer erheblichen Verfahrenslast leidet, die hauptsächlich aus der Zahl der Vorlagefragen resultiert206. Die Einbeziehung der nationalen Gerichte in die Anwendung des Art. 81
Abs. 3 EG könnte zu einer weiteren Zunahme an Vorlageersuchen führen207. Für den
EuGH bedeutet der Übergang zum Legalausnahmesystem, dass er sich zudem erstmals im Rahmen des Vorlageverfahrens auch mit Art. 81 Abs. 3 EG zu befassen
hat208.
Vor diesem Hintergrund mehren sich die Stimmen im Schrifttum, die sich dafür
aussprechen, von der mit dem Vertrag von Nizza eingeführten Möglichkeit des Art.
225 Abs. 3 EG Gebrauch zu machen und für den Bereich der Art. 81 und 82 EG die
Zuständigkeit für das Vorlageverfahren auf das EuG zu übertragen209. Hiergegen
201 Zur ausnahmsweisen Vorlagepflicht s. EuGH, Urteil vom 22.10.1987, Rs. 314/85 – Foto-
Frost/Hauptzollamt Lübeck, Slg. 1987, 4199, Rn. 11 ff.
202 EuGH, Urteil vom 27.3.1963, verb. Rs. 28/62 u.a. – da Costa/Administratie der Belastingen,
Slg. 1963, 60 (80).
203 EuGH, Urteil vom 6.10.1982, Rs. 283/81 – C.I.L.F.I.T./Ministero della Sanita, Slg. 1982,
3415, Rn. 14.
204 EuGH, Urteil vom 6.10.1982, Rs. 283/81 – C.I.L.F.I.T./Ministero della Sanita, Slg. 1982,
3415, Rn. 16; vgl. dazu B. Hess, ZZP 108 (1995), S. 59 (79 ff.).
205 Zum Ganzen vgl. U. Haltern, Europarecht, S. 208 ff.
206 M. Holm-Hadulla/N. Nohlen, StudZR 2006, S. 495 (496 ff.) m.w.N.
207 K. Lenaerts/D. Gerard, JWC 2004, S. 313 (341).
208 K. Schmidt, in: Gottwald/Roth, Festschrift für Ekkehard Schumann, S. 405 (414 f.).
209 C.-D. Ehlermann/I. Atanasiu, E.C.L.R. 2002, S. 72 (78 ff.); G. Hirsch, ZWeR 2003, S. 233
(249); ders., in: Schwarze, Instrumente zur Durchsetzung des europäischen Wettbewerbsrechts, S. 135 (146 f.); C.-O. Lenz, in: Schwarze, Europäisches Wettbewerbsrecht im Zeichen
56
bestehen jedoch erhebliche Bedenken. In wettbewerbsrechtlichen Ausgangsstreitigkeiten spielen zumeist auch Rechtsfragen aus anderen Bereichen des Gemeinschaftsrechts eine Rolle210. Das theoretische Modell, wonach das EuG für einzelne Bereiche die Zuständigkeit für Vorabentscheidungen erhält, lässt sich in der Realität nicht
umsetzen, da Sachverhalte in der Mehrzahl der Fälle Beziehungen zu mehreren
Sachgebieten aufweisen. Sofern das EuG über diese Aspekte mit zu entscheiden
hätte, würde es nunmehr mit dem EuGH über die gleichen Rechtsfragen entscheiden. Damit würde die letztverbindliche Auslegung in verschiedene Hände gelegt,
was einer einheitlichen Rechtsanwendung zuwiderliefe211.
b) Vertragsverletzungsverfahren gemäß Art. 226 f. EG
Sofern es zu einer unzutreffenden Anwendung des gemeinschaftlichen Wettbewerbsrechts kommt, ist es denkbar, dass die Kommission gemäß Art. 226 EG oder
ein anderer Mitgliedstaat gemäß Art. 227 EG ein Vertragsverletzungsverfahren
initiieren. Die Entscheidung des EuGH in der Sache Kommission/Italien212 aus dem
Jahre 2003 lässt sich in der Weise verstehen, dass auch nationale Gerichtsentscheidungen Gegenstand einer Entscheidung im Vertragsverletzungsverfahren sein können213.
Damit besteht zwar die theoretische Möglichkeit, durch nachträgliche gerichtliche
Kontrolle gegen die fehlerhafte Anwendung der Art. 81 und 82 EG vorzugehen.
Gleichwohl ist das Vertragsverletzungsverfahren für die Gewährleistung einer einheitlichen Anwendung nur von sehr eingeschränktem Nutzen. Das Urteil im Vertragsverletzungsverfahren ist ein bloßes Feststellungsurteil, das den Vertragsverstoß
nicht beseitigt (Art. 228 Abs. 1 Hs. 1 EG). Zwar besteht eine Pflicht der Mitgliedstaaten, die Vertragsverletzung abzustellen (Art. 228 Abs. 1 Hs. 2 EG). Inwieweit
diese auch rückwirkend gilt, ist allerdings nicht geklärt. Sie wird jedenfalls nicht so
weit gehen dürfen, dass Mitgliedstaaten von sich aus rechtskräftige Gerichtsentder Globalisierung, S. 127 (138); Vgl. weiterhin W. Bartels, Kohärente Rechtsanwendung, S.
146 ff.
210 J. Azizi, in: Pernice/Kokott/Saunders, The Future of the European Judicial System in a Comparative Perspective, S. 241 (246 ff.); vgl. auch K. Lenaerts, in: Dony/Bribosia, L’avenir du
système juridictionnel de l’Union européenne, S. 49 (61 ff.).
211 Vgl. dazu ausführlich M. Holm-Hadulla/N. Nohlen, S. 495 (499 ff.).
212 EuGH, Urteil vom 9.12.2003, Rs. C-129/00 – Kommission/Italienische Republik, Slg. 2003,
I-14637.
213 B. Hofstötter, Non-Compliance, S. 183 ff.; a.A. M. Breuer, EuZW 2004, S. 199 ff. Der Wortlaut des Urteils ist uneindeutig. Zwar beziehen sich die Entscheidungsgründe ausschließlich
auf gerichtliches Fehlverhalten. Jedoch trifft der EuGH am Ende die rechtliche Feststellung,
„dass die Italienische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus dem EG-Vertrag verstoßen hat, dass sie Artikel 29 Absatz 2 des Gesetzes Nr. 428/1990 […] nicht ändert“, was ein
legislatives Fehlverhalten – durch Unterlassen – impliziert (vgl. auch W. Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 3. Auflage, München 2007, Art. 226, Rn. 28; U. Haltern, Europarecht, S. 346).
57
scheidungen aufheben müssten, gegen die kein Rechtsmittel eingelegt wurde oder
vorhanden ist. Ein Urteil im Vertragsverletzungsverfahren kann daher nur den Sinn
haben, die Gerichte für die Zukunft von der fehlerhaften Rechtsprechung abzubringen. Angesichts der Aufwändigkeit des Verfahrens erscheint dies allerdings nur
sinnvoll, sofern sich eine grundlegend falsche Rechtsprechungslinie herausbildet
und ein Mitgliedstaat beharrlich seine Vorlagepflicht verletzt. Für die einzelfallbezogene Steuerung der nationalen Rechtsprechung eignet sich das Verfahren hingegen nicht214.
2. Instrumente der Kommission
Art. 211 EG weist der Kommission die Rolle als Hüterin der Verträge zu. Diese
Funktion der Kommission konkretisiert Art. 85 EG und verleiht ihr für den Bereich
des Wettbewerbsrechts eine herausgehobene Stellung215. Die Instrumente, die der
Kommission eine Einflussnahme auf die einheitliche Rechtsanwendung erlauben,
lassen sich in zwei Gruppen einteilen. Einerseits kann die Kommission auf die
Rechtsanwendung im konkreten Einzelfall Einfluss nehmen. Die dabei zur Verfügung stehenden Handlungsmöglichkeiten regelt Art. 15 VO 1/2003. Sie werden mit
dem weitläufigen Begriff der „Zusammenarbeit“ umschrieben216. Davon sind andererseits abstrakt-generelle Steuerungsmechanismen zu unterscheiden, die es der
Kommission erlauben, ausdifferenzierte Vorgaben für die allgemein gefassten wettbewerbsrechtlichen Tatbestände, insbesondere Art. 81 Abs. 3 EG zu machen und so
die Wahrscheinlichkeit einer einheitlichen Anwendung zu erhöhen.
a) Die Zusammenarbeit der Kommission mit den nationalen Gerichten gemäß Art.
15 VO 1/2003
Die Zusammenarbeit zwischen Kommission und Zivilgerichten umfasst im Wesentlichen die Übermittlung von Informationen einerseits und die Möglichkeit rechtlicher Stellungnahmen andererseits. Ergänzend sieht die Verordnung eine Pflicht zur
Übermittlung von nationalen Urteilen mit wettbewerbsrechtlichem Gegenstand vor.
214 So auch J. Schütz, WuW 2000, S. 686 (692).
215 EuGH, Urteil vom 6.4.1962, Rs. 13/61 – de Geus/Bosch u.a., Slg. 1962, 99, 112; vgl. C.
Stadler, in: Langen/Bunte, Kartellrecht, Bd. 2, Art. 85, Rn. 1; D.-H. Sturhahn, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, Kartellrecht Bd. 1, Art. 85, Rn. 1.
216 Vgl. die Überschrift zu Kapitel IV der VO 1/2003 und Erwägungsgrund (21) der VO 1/2003.
Zur Möglichkeit der Zusammenarbeit der Kommission mit Schiedsgerichten vgl. C. Nisser,
E.C.L.R. 2006, S. 174 ff.; vgl. allgemein zur Anwendung des europäischen Wettbewerbsrechts in Schiedsverfahren M. Beutelmann /C. Steinle, in: Zuberbühler /Oetiker, Practical
Aspects of Arbitrating EC Competition Law, S. 59 ff.; W. Bosch, in: Brinker/Scheuing/Stockmann, Recht und Wettbewerb – Festschrift für Rainer Bechtold zum 65.
Geburtstag, S. 59 ff.; A. P. Komninos, World Competition 2001, S. 211 ff.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Der Erlass der EG-Verordnung 1/2003 hat einen Systemwechsel im Bereich des europäischen Kartellverfahrens bewirkt und den Weg für eine verstärkte private Kartellrechtsdurchsetzung geebnet. Auf der politischen Agenda der Europäischen Kommission hat die Stärkung des private enforcement weiterhin höchste Priorität. Die ersten spektakulären kartellrechtlichen Schadensersatzprozesse und die Entstehung eines kartellprivatrechtlichen Klagegewerbes in Europa markieren den Anfang einer nachhaltigen Entwicklung.
Durch die mit der Einbeziehung der Zivilgerichte verbundene Dezentralisierung des Kartellrechtsvollzugs entsteht auch das vermehrte Bedürfnis, eine einheitliche Rechtsanwendung durch die beteiligten Akteure sicherzustellen.
Das vorliegende Werk untersucht die gemeinschaftsrechtlichen Mechanismen, die der Sicherung einer einheitlichen Anwendungspraxis zwischen den Zivilgerichtsbarkeiten der einzelnen Mitgliedstaaten und der Vermeidung von Entscheidungswidersprüchen zwischen den am Kartellrechtsvollzug beteiligten Akteuren im konkreten Anwendungsfall dienen.
Der Autor ist als Rechtsanwalt im Bereich des Kartellrechts in einer Sozietät in Stuttgart tätig.