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Umgekehrt verhält es sich in der Beziehung nationaler Zivilgerichte aus unterschiedlichen Mitgliedstaaten zueinander. Hier liegt ein Tätigwerden mehrerer
Rechtsanwender vor, die dieselbe Zielrichtung verfolgen. Sofern für die Behandlung
eines Falles mehrere Gerichte zuständig sind, besteht daher grundsätzlich das Bedürfnis, mehrfache Rechtsfolgen zu vermeiden. Es ist daher zu unterbinden, dass
mehrere Gerichte über die gleichen Rechtsfolgen befinden.
III. Das Verhältnis der Zivilgerichte zur Kommission
Zunächst soll das Verhältnis der Zivilgerichte zur Kommission in den Blick genommen werden. Dabei ist erst auf die Zuständigkeitsverteilung zwischen den Gerichten und der Kommission einzugehen. Daraufhin ist zu untersuchen, wie bei einer
Behandlung desselben Falles durch Zivilgerichte und Kommission auf die Vermeidung von Entscheidungswidersprüchen hingewirkt werden kann.
1. Zuständigkeitsverteilung
Ob zwischen nationalen Zivilgerichten und der Kommission hinsichtlich eines konkreten Falles eine Zuständigkeitsabgrenzung in Betracht kommt, beantwortet sich
aus den vorangeschickten Ausführungen. Die Zivilgerichte werden im Individualinteresse tätig. Ihre Zuständigkeit folgt aus der mit der unmittelbaren Anwendbarkeit
des Wettbewerbsrechts zusammenhängenden Pflicht, gemeinschaftsrechtlich begründete Individualrechte zu schützen. Die Kommission hingegen wird hoheitlich
im Allgemeininteresse tätig. Es besteht somit zwischen den Rechtsanwendern kein
Konkurrenzverhältnis. Die Kommission kann die Aufgabe der Zivilgerichte, also
den Schutz individueller Rechte im Horizontalverhältnis, gar nicht wahrnehmen. In
den Worten des EuGH würde eine Einschränkung der Zuständigkeit nationaler Zivilgerichte zugunsten der Kommission bedeuten, „dass den Einzelnen Rechte genommen würden, die ihnen aufgrund des Vertrages selbst zustehen“389. Eine Regelung i. S. d. Art. 11 Abs. 6 VO 1/2003, die die Zuständigkeit nationaler Behörden
unter den Vorbehalt einer Befassung der Kommission mit demselben Fall stellt,
kommt im Verhältnis von nationalen Gerichten und der Kommission nicht in Betracht390. Auch umgekehrt können die Zivilgerichte nicht die Tätigkeit der Kommission, den hoheitlichen Vollzug des Wettbewerbsrechts, ersetzen.
389 EuGH, Urteil vom 30.1.1974, Rs. 127/73 – BRT/SABAM I, Slg. 1974, 51, Rn. 18/23; vgl.
auch Rn. 15/17 des Urteils; vgl. auch R. Nazzini, EBLR 2005, S. 245 (255).
390 J. Schütz, in: Gemeinschaftskommentar, Einf. zu VO 1/2003, Rn. 21. Vgl. bereits K. P. Mailänder, Zuständigkeit und Entscheidungsfreiheit, S. 23 ff.; vgl. ferner I. Brinker, in: Schwarze/Müller-Graff, Europäische Rechtseinheit, S. 95 (97 f.); anders noch H. Ullrich, Recht der
Wettbewerbsbeschränkungen, S. 375 f.
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Zwar stellt die Kommission selbst einen gewissen Zusammenhang zwischen der
Tätigkeit nationaler Zivilgerichte und der Frage her, inwiefern sie von ihrer eigenen
Zuständigkeit Gebrauch macht. Es entspricht der Kommissionspraxis, bei der Entscheidung über die Eröffnung eines Verfahrens mit in Betracht zu ziehen, ob ein
Beschwerdeführer seine Rechte durch eine Klage vor einem einzelstaatlichen Gericht geltend zu machen in der Lage ist391. Diese Praxis ist jedoch nicht auf eine
etwaige Zuständigkeitsabgrenzung zurückzuführen. Unzutreffend wäre es auch, sie
als Ausdruck des Subsidiaritätsprinzips anzusehen392. Angesichts der unterschiedlichen Zwecke, die beide Stellen mit ihrem Tätigwerden verfolgen, geht es nicht um
Fragen der Subsidiarität, sondern der Opportunität393. Die Kommission berücksichtigt die Möglichkeit, Rechtsschutz vor nationalen Gerichten zu erlangen im Rahmen
ihres Aufgreifermessens, nicht unter zuständigkeitsrechtlichen Gesichtspunkten.
2. Wechselseitige Beachtlichkeit des Vorgehens von Kommission und Zivilgerichten
Da sich mangels Zuständigkeitsabgrenzung Kommission und Zivilgerichte grundsätzlich mit dem identischen Fall befassen können, ist der Vermeidung von Anwendungsdivergenzen eine erhebliche Bedeutung beizumessen. Dabei sind unterschiedliche zeitliche Konstellationen denkbar, in denen sich Kommission und Zivilgerichte
mit dem gleichen Fall befassen können.
Bevor auf diese Konstellationen im Einzelnen eingegangen wird, ist zu klären,
inwieweit überhaupt gewährleistet ist, dass Kommission und Gerichte auf der identischen Tatsachengrundlage über ein und denselben Fall entscheiden. Dabei geht es
um die Frage, inwiefern widersprüchliche Entscheidungen schon allein daraus resultieren können, dass Kommission und Zivilgerichte nicht notwendigerweise über
einen kongruenten Informationsstand verfügen.
a) Gesteigerte Gefahr widersprüchlicher Entscheidungen aufgrund ungleicher
Informationsverteilung
Unabhängig von der Möglichkeit einer unterschiedlichen Rechtsauffassung besteht
das Risiko, dass die Kommission und ein Zivilgericht über einen bestimmten Fall
391 Vgl. EuG, Urteil vom 18.9.1992, Rs. T-24/90 – Automec/Kommission, Slg. 1992, II-2223,
Rn. 87; Bekanntmachung über die Behandlung von Beschwerden durch die Kommission gemäß Art. 81 und 82 EG, ABl. Nr. C 101 vom 27.4.2004, S. 65 (im Folgenden: Bekanntmachung über die Behandlung von Beschwerden), Rn. 46 1. Spiegelstrich.
392 So aber die Kommission in ihrem XXII. Bericht über die Wettbewerbspolitik, 1992, Rn. 120
ff.
393 P. Behrens, in: Due/Lutter/Schwarze, Festschrift für Ulrich Everling, Bd. 1, S. 83 (92 ff.)
m.w.N.; vgl. weiterhin P. Lässig, Dezentrale Anwendung, S. 39 f.
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References
Zusammenfassung
Der Erlass der EG-Verordnung 1/2003 hat einen Systemwechsel im Bereich des europäischen Kartellverfahrens bewirkt und den Weg für eine verstärkte private Kartellrechtsdurchsetzung geebnet. Auf der politischen Agenda der Europäischen Kommission hat die Stärkung des private enforcement weiterhin höchste Priorität. Die ersten spektakulären kartellrechtlichen Schadensersatzprozesse und die Entstehung eines kartellprivatrechtlichen Klagegewerbes in Europa markieren den Anfang einer nachhaltigen Entwicklung.
Durch die mit der Einbeziehung der Zivilgerichte verbundene Dezentralisierung des Kartellrechtsvollzugs entsteht auch das vermehrte Bedürfnis, eine einheitliche Rechtsanwendung durch die beteiligten Akteure sicherzustellen.
Das vorliegende Werk untersucht die gemeinschaftsrechtlichen Mechanismen, die der Sicherung einer einheitlichen Anwendungspraxis zwischen den Zivilgerichtsbarkeiten der einzelnen Mitgliedstaaten und der Vermeidung von Entscheidungswidersprüchen zwischen den am Kartellrechtsvollzug beteiligten Akteuren im konkreten Anwendungsfall dienen.
Der Autor ist als Rechtsanwalt im Bereich des Kartellrechts in einer Sozietät in Stuttgart tätig.