82
3. Instrumente der nationalen Kartellbehörden
Nach Art. 15 Abs. 3 Satz 1 VO 1/2003 steht auch den nationalen Behörden das
Recht zu, den Gerichten ihres Mitgliedstaats aus eigener Initiative351 Stellungnahmen zu übermitteln. Dieses Recht folgt unmittelbar aus Gemeinschaftsrecht und ist
somit unabhängig von einer entsprechenden nationalen Regelung. Die Kartellverfahrensverordnung bewirkt in diesem Punkt eine verfahrensrechtliche Harmonisierung.
Die Einzelheiten der Durchführung können jedoch wiederum unter den Vorbehalten
von Äquivalenz und Effektivität durch das nationale Recht geregelt werden. Art. 15
Abs. 4 VO 1/2003 stellt klar, dass nationale Regelungen, die umfassendere Befugnisse der nationalen Behörden vorsehen, nicht im Wege des Anwendungsvorrangs
verdrängt werden.
Im Unterschied zu der Befugnis der Kommission zur Erteilung von Stellungnahmen steht den nationalen Behörden diese Befugnis sogar vorbehaltlos zu. Eine Gefährdung der kohärenten Rechtsanwendung ist nicht erforderlich. Mit Erlaubnis der
Gerichte ist auch hier eine mündliche Stellungnahme möglich352. Genau wie die
Kommission können auch nationale Behörden zum Zwecke der Ausarbeitung ihrer
Stellungnahmen die Übermittlung sämtlicher erforderlichen Dokumente verlangen353. Wie dort gilt auch hier das Zweckentfremdungsverbot354, weshalb die übermittelten Schriftstücke in anderen Verfahren der Behörden nicht verwendet werden
dürfen. Freilich steht von vornherein fest, dass die dezentrale Steuerung auf nationaler Ebene gegenüber den zentralen Mechanismen auf Gemeinschaftsebene nur ergänzende Bedeutung haben kann.
Das Recht zur Stellungnahme nationaler Behörden gilt nur gegenüber den Gerichten des eigenen Mitgliedstaats, nicht jedoch gegenüber Gerichten anderer Mitgliedstaaten355. Damit trägt die VO 1/2003 einem traditionellen völkerrechtlichen Souveränitätsverständnis Rechnung, wonach die Mitgliedstaaten auf ihrem Staatsgebiet
Hoheitsrechte grundsätzlich exklusiv ausüben.
IV. Zusammenfassende Bewertung
Unmittelbare Anwendbarkeit und Anwendungsvorrang bilden die Grundvoraussetzungen für eine zivilgerichtliche Anwendung des europäischen Wettbewerbsrechts.
Die unmittelbare Anwendbarkeit bewirkt, dass es überhaupt zu einem Vollzug euro-
351 Der abweichende Wortlaut zwischen Satz 1 („von sich aus“) und Satz 3 („aus eigener Initiative“) ist als sprachliche Ungenauigkeit zu bemängeln, jedoch im Ergebnis nicht beachtlich.
Vgl. etwa die englische („acting on their/its own initiative“) und die französische („agissant
d'office”) Sprachfassungen.
352 Art. 15 Abs. 3 S. 2 VO 1/2003.
353 Art. 15 Abs. 3 S. 5 VO 1/2003.
354 S.o. B. III. 2. a) aa).
355 M. Sura, in: Langen/Bunte, Kartellrecht, Bd. 2, VO 1/2003, Art. 15, Rn. 14; A. Zuber, in:
Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, Kartellrecht Bd. 1, VO 1/2003, Art. 15, Rn. 22.
83
päischen Wettbewerbsrechts durch nationale Gerichte kommt. Indem die unmittelbare Anwendbarkeit auch im Horizontalverhältnis als Drittwirkung zwischen Individuen besteht, muss das europäische Wettbewerbsrecht auch in diesem Verhältnis,
also privatrechtlich, vollzogen werden. Der Anwendungsvorrang bewirkt darüber
hinaus, dass den gemeinschaftsrechtlichen Wettbewerbsregeln entgegenstehendes
nationales Recht verdrängt wird.
Die komplizierte und bislang umstrittene Frage des Anwendungsvorrangs von
Art. 81 Abs. 3 EG bereitet im System der Legalausnahme keine Schwierigkeiten.
Zudem regelt die VO 1/2003, wie der Grundsatz des Anwendungsvorrangs im Falle
des tatbestandlichen Nichtvorliegens von Art. 81 und 82 EG zu verstehen ist. Art. 3
VO 1/2003 zufolge hat auch das tatbestandliche Nichtvorliegen des Art. 81 EG
verdrängende Wirkung, sobald eine wettbewerbsrechtlich relevante Handlung und
eine Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels vorliegt. Gegenüber Art. 82
EG strengeres nationales Recht wird hingegen nicht verdrängt.
Das Gemeinschaftsrecht sieht mit den Art. 81 und 82 EG zwar selbst wettbewerbsrechtliche Vorschriften vor, regelt jedoch nicht deren Durchsetzung. Der Geltungsanspruch der Vorschriften geht über deren Norminhalt hinaus. Das Gemeinschaftsrecht ist insofern unvollständig, die Wettbewerbsregeln bedürfen zu ihrer
Durchsetzung des Rückgriffs auf nationales Recht. Dieses darf die Durchsetzung
von Gemeinschaftsrecht grundsätzlich autonom bestimmen, steht allerdings unter
den Vorbehalten des Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatzes sowie der allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts. Dabei trifft der EuGH keine Unterscheidung danach, ob es sich bei dem jeweiligen nationalen Recht um materielles
Recht oder Verfahrensrecht handelt. Er wendet die besagten Grundsätze vielmehr
an, ohne eine gemeinschaftsrechtlich definierte Unterscheidung zwischen materiellem Recht und Prozessrecht zu treffen oder entsprechenden nationalen Unterscheidungen Bedeutung zuzumessen.
Der Äquivalenzgrundsatz bereitet in seiner Anwendung keine besonderen
Schwierigkeiten. Er bewirkt lediglich, dass die Art. 81 und 82 EG entsprechendem
nationalen Recht gleichbehandelt werden müssen. So darf etwa eine Rechtsmittelfrist für eine Entscheidung, in der europäisches Wettbewerbsrecht zur Anwendung
gelangt, nicht kürzer sein als diejenige, die für die Anwendung nationalen Kartellrechts gilt, und ein Anspruch, der sich auf die Verletzung europäischen Wettbewerbsrechts stützt, darf nicht an höhere Voraussetzungen geknüpft werden als ein
Anspruch wegen der Verletzung entsprechenden nationalen Rechts.
Schwieriger und folgenschwerer ist die Anwendung des Effektivitätsgrundsatzes.
Angesichts der Bedeutung, die einer effektiven privatrechtlichen Durchsetzung des
europäischen Wettbewerbsrechts zugemessen wird, sind insbesondere im Bereich
des materiellen Rechts kaum nationale Regelungen denkbar, die über die Anforderungen hinausgehen, die der EuGH aus dem Effektivitätsgrundsatz folgert. Nach der
Jedermann-Rechtsprechung in der Sache Courage und nach der Manfredi-
Entscheidung zeichnet sich ein Rechtsverständnis ab, wonach sich im Grundsatz
schon dann Schadensersatzansprüche aus nationalem Recht ergeben müssen, wenn
eine Person durch ein wettbewerbsrechtlich zu beanstandendes Verhalten in irgend
84
einer Weise zu Schaden gekommen ist. Einschränkungen wie besondere Verschuldenserfordernisse oder die Beschränkung auf bestimmte anspruchsberechtigte Personenkreise lassen sich kaum aufrechterhalten. Indem mit der Jedermann-
Rechtsprechung somit Mindeststandards gesetzt werden, die sich kaum noch überbieten lassen, geht von dieser Rechtsprechung eine erhebliche vereinheitlichende
Wirkung im Bereich des Kartelldeliktsrechts aus. So ist anzunehmen, dass sich
sämtliche nationale Maßnahmen, die der Umsetzung dieser Rechtsprechung dienen,
mögen sie auf legislativem Weg erfolgen oder durch eine gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung bestehender Vorschriften, auf demselben hohen Mindestniveau
ansiedeln werden356. Damit stimmt der abstrakte Rechtsrahmen, auf dessen Grundlage die Entscheidungstätigkeit der nationalen Zivilgerichte erfolgt, weitgehend
überein.
Bei der konkreten Anwendung der Art. 81 und 82 EG besteht aufgrund deren tatbestandlicher Weite die Gefahr unterschiedlicher Anwendungsergebnisse. Ein weiter
Beurteilungsspielraum, der diese Gefahr noch erhöhen würde ist den nationalen
Gerichten indessen nicht zuzubilligen. Auch die Frage, ob hier aufgrund einer Abwägung mit konkurrierenden Zielen der Gemeinschaft weit reichende Abweichungen aufgrund unterschiedlicher Abwägungsergebnisse hinzunehmen sind, ist zu
verneinen. Eine Einbeziehung nichtwettbewerblicher Aspekte in die Anwendung des
Art. 81 Abs. 3 EG hat im System der Legalausnahme keinen Raum.
Die abstrakten Rahmenbedingungen erlauben damit grundsätzlich, mit geringen
Einschränkungen, eine generelle Einheitlichkeit der Rechtsanwendung. Im Interesse
der Rechtseinheit finden sich zudem im Gesamtsystem der Kartellverfahrensverordnung zahlreiche Mechanismen, die der Sicherstellung genereller Kohärenz in der
Praxis der Gerichte dienen. Diese gehen größtenteils weit über das hinaus, was in
der gemeinschaftsrechtlichen Gesamtschau als Normalfall gelten kann. Vor diesem
Hintergrund ist zu erwarten, dass trotz der Anwendungsschwierigkeiten im Bereich
des Kartellrechts eine einheitliche Rechtsanwendung durch die Zivilgerichte sichergestellt werden kann357.
Bei der Wahrung der Rechtseinheit spielt zunächst, wie in allen Bereichen des
Gemeinschaftsrechts, durch das Vorlageverfahren der EuGH eine bedeutende Rolle.
Daneben treten jedoch zahlreiche spezielle Mechanismen, mit deren Hilfe die Kommission auf eine generelle Rechtseinheit hinwirken kann. Die VO 1/2003 sieht zunächst die Möglichkeit vor, bei der Kommission sachdienliche Informationen unterschiedlichster Art zu erfragen. Allerdings steht der effektive Einsatz des Informationsübermittlungsverfahrens unter Vorbehalten. Dies gilt zum einen für den Fall,
dass die zu übermittelnden Informationen Geschäftsgeheimnisse enthalten, zu deren
Geheimhaltung die nationalen Gerichte verpflichtet sind. Eine Verwendung der
übermittelten Informationen wird hier regelmäßig daran scheitern, dass die Gerichte
dadurch zur Offenlegung gegenüber den Parteien verpflichtet wären und sie so ge-
356 Ein vermehrtes forum shopping aufgrund von Unterschiedlichkeiten des materiellen Rechts
ist daher nicht zu erwarten, a.A. P. Goldschmidt/J. Thomsen, Eipascope 2003, S. 24 (27 f.).
357 G. V. S. McCurdy, E.C.L.R. 2004, S. 509 (516).
85
gen ihre Geheimhaltungspflicht verstoßen würden. Zum anderen gedenkt die Kommission eine Übermittlung von Informationen ganz zu verweigern, sofern diese
durch eine Kronzeugenzusammenarbeit in ihren Besitz gelangt sind. Ob allerdings
den Parteien eines Rechtsstreits das Recht zusteht, auf der Grundlage der europäischen Transparenzverordnung sämtliche, auch aus einer Zusammenarbeit im Rahmen der Kronzeugenregelung stammende Dokumente, ihrerseits zu erlangen, kann
bislang nicht als geklärt gelten.
Von erheblicher Bedeutung für eine generelle Kohärenz der Rechtsanwendung ist
die Frage, inwieweit nationale Gerichte in rechtlichen Fragen Hinweise oder Vorgaben von der Kommission erhalten. Bloß unverbindliche rechtliche Hinweise ergeben
sich aus den Stellungnahmen, die gegenüber den Gerichten auf deren Ersuchen oder
unabhängig hiervon von Amts wegen abgegeben werden können. Dieses Recht steht
nicht nur der Kommission, sondern auch nationalen Behörden des gleichen Mitgliedstaats zu. Die VO 1/2003 macht somit nicht davor Halt, das Verhältnis nationaler Behörden und Gerichte sekundärrechtlich auszugestalten. Angesichts ihrer herausgehobenen Stellung kann freilich kein Zweifel bestehen, dass die Stellungnahmen der Kommission gegenüber denjenigen der nationalen Behörden bei der
Gewährleistung einer kohärenten Rechtsanwendung weitaus größere Bedeutung
haben. Die dezentrale Steuerung auf nationaler Ebene kann gegenüber den zentralen
Mechanismen auf Gemeinschaftsebene nur ergänzende Bedeutung haben. Die
Kommission hat durch das Instrument rechtlicher Stellungnahmen eine äußerst effiziente Möglichkeit, auf nationale Rechtsentwicklungen Einfluss zu nehmen.
Neben das einzelfallbezogene Instrumentarium zur Gewährleistung einer einheitlichen Rechtsanwendung treten abstrakt-generelle Mechanismen. Dazu zählt auf der
einen Seite die Möglichkeit der Kommission, nach entsprechender Ermächtigung
Gruppenfreistellungsverordnungen zu erlassen, die neben Art. 81 Abs. 3 EG weitere
Legalausnahmen zum Kartellverbot des Art. 81 Abs. 1 EG darstellen. Da sie in ihrer
tatbestandlichen Formulierung eine konkretere Fassung erlauben als Art. 81 Abs. 3
EG vorsieht, sind sie geeignet, einen Beitrag zu einer einheitlichen Anwendung des
europäischen Wettbewerbsrechts zu leisten. Auf der anderen Seite bieten neben den
rechtlich verbindlichen Gruppenfreistellungsverordnungen auch die von der Kommission erlassenen unverbindlichen Bekanntmachungen die Möglichkeit, in unterschiedlichen Bereichen des europäischen Wettbewerbsrechts die Anwendung durch
die nationalen Zivilgerichte zu erleichtern.
Wie die vorangegangene Untersuchung zeigt, wird die Sicherstellung einer einheitlichen Anwendung der Art. 81 und 82 EG durch die nationalen Gerichte somit
zu einem gewissen Teil durch den EuGH, im weit überwiegenden Teil jedoch schon
aus Kapazitätsgründen durch die Kommission erfolgen. Dabei steht der Kommission
als normativer Steuerungsmechanismus in einigen Bereichen die Möglichkeit zum
Erlass von Gruppenfreistellungsverordnungen zur Verfügung. Daneben bestehen
86
Möglichkeiten der nicht-normativen Steuerung358, zu denen einerseits Stellungnahmen andererseits Bekanntmachungen zählen.
Gerade das Vorhandensein dieser unverbindlichen Steuerungsmechanismen verschafft der Kommission im Bereich des Wettbewerbsrechts im Vergleich zum sonstigen Gemeinschaftsrecht einen erheblichen Einfluss359, durch den sie bisweilen in
kritische Nähe zu den Funktionsbereichen anderer Gemeinschaftsorgane gerät. Zunächst hat das Instrument unverbindlicher Stellungnahmen Implikationen für die
Rolle des EuGH. Denn zwar unterscheidet sich die Möglichkeit, bei der Kommission Stellungnahmen zu rechtlichen Aspekten der Kartellrechtsanwendung zu erfragen, grundsätzlich von der Möglichkeit, den EuGH um Vorabentscheidungen zu
ersuchen. Entscheidungen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren gehen zunächst inhaltlich über rechtliche Stellungnahmen der Kommission hinaus. Stellungnahmen der Kommission beziehen sich allein auf wettbewerbsrechtliche Aspekte,
während sich der EuGH mit sämtlichen Aspekten des Gemeinschaftsrechts befasst.
Weiterhin hat nur der EuGH das Recht zur authentischen Auslegung des Gemeinschaftsrechts.
Dennoch tritt die Möglichkeit, bei der Kommission rechtliche Stellungnahmen zu
erfragen, in gewisser Hinsicht in Konkurrenz zu der Möglichkeit der Vorlage beim
EuGH360. Sowohl die Beantwortung einer Vorlagefrage als auch eine Stellungnahme
geben dem Richter Auskunft über wettbewerbsrechtliche Fragen. Wie Vorlagefragen
kann das Ersuchen um eine Stellungnahme die rechtliche Auslegung des Gemeinschaftsrechts betreffen. Die Möglichkeit, bei der Kommission Stellungnahmen zu
erfragen, bezeichnet Zuber plakativ als „kleines Vorlageverfahren“361.
Angesichts des Auslegungsmonopols des EuGH kann bei Auslegungszweifeln eine Stellungnahme der Kommission eine Vorlage in rechtlicher Hinsicht grundsätzlich nicht ersetzen. Es besteht jedoch die Gefahr, dass es zu einer faktischen Substitution von Vorlageverfahren durch Stellungnahmeersuchen kommt. Denn für den
nationalen Richter mag es in der Entscheidungssituation nicht so sehr auf die
Rechtsnatur der ihm an die Hand gegebenen Entscheidungshilfe ankommen. Es
bestehen große Anreize, die Kommission zu konsultieren, statt sich an den EuGH zu
wenden362. Während die Kommission angekündigt hat, Stellungnahmen innerhalb
358 Unter nicht-normativer Steuerung wird hier die Einwirkung auf einen Anderen mit dem Ziel
der Verhaltensbeeinflussung verstanden, ohne dass hierbei formal rechtliche Verbindlichkeit
erzeugt wird (vgl. J. Oebbecke, in: Ders., Nicht-normative Steuerung in dezentralen Systemen, S. 7 [12]).
359 J. H. J. Bourgeois/C. Humpe, E.C.L.R. 2002, S. 43 (46).
360 Vgl. auch K. Holmes, World Competition 2000, S. 51 (64 ff.).
361 A. Zuber, Die Kommission als amicus curiae, S. 119 f.
362 Irritierend daher die Nichterwähnung des Vorabentscheidungsverfahrens neben den Instrumenten der Kommission bei M. Monti, in: Hawk, Fordham Corp. L. Inst. 2003, S. 403 (406
ff.).
87
von vier Monaten zu übermitteln363, liegt die durchschnittliche Verfahrensdauer bei
Vorabentscheidungsverfahren derzeit ungefähr bei dem Fünffachen364.
In rechtlicher Hinsicht müsste es bei letztinstanzlichen Gerichten für eine Ausnahme von der Vorlagepflicht zwar bei den in der C.I.L.F.I.T.-Entscheidung entwickelten Kriterien bleiben365. Es müssten also, um etwa einen acte claire anzunehmen, nach der Stellungnahme der Kommission sämtliche Zweifel an der rechtlichen
Auslegung ausgeräumt sein. Dies kann nicht schon allein deshalb gelten, weil die
Kommission ein bestimmtes rechtliches Verständnis zum Ausdruck gebracht hat.
Sonst wäre im Ergebnis allein die Stellungnahme der Kommission maßgeblich, um
von einem acte claire auszugehen. Das würde wiederum bedeuten, dass tatsächlich
die authentische Auslegung von der Kommission übernommen würde. Es kann aber
vermutet werden, dass sich ein Gericht nach einer Stellungnahme der Kommission
nicht mehr veranlasst sieht, ein langwieriges Vorlageverfahren anzustrengen. Dies
gilt in besonderem Maße für unterinstanzliche Gerichte, für die grundsätzlich keine
Vorlagepflicht besteht. Es besteht also die zumindest theoretische Gefahr, dass der
EuGH in tatsächlicher Hinsicht zunehmend aus seiner Rolle, die rechtliche Letztentscheidung zu treffen, verdrängt wird.
Gleichzeitig sind angesichts der erheblichen Verfahrenslast beim EuGH Möglichkeiten einer Entlastung grundsätzlich zu begrüßen366. Es entspricht zudem der
Rolle der Kommission, als Hüterin der Verträge für die Anwendung des Gemeinschaftsrechts Sorge zu tragen. Dabei erscheint es wenig sinnvoll diese Rolle auf die
nachträgliche Überwachung zu reduzieren. Präventive Mittel sind grundsätzlich
wünschenswert367. Es liegt in der Hand der Kommission, von der Möglichkeit rechtlicher Stellungnahmen in einer Weise Gebrauch zu machen, die ein Eindringen in
den Funktionsbereich des EuGH vermeidet. Eine dementsprechende Verpflichtung
lässt sich aus dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit herleiten, der auch die
Organe der EG untereinander bindet368. Zudem begrenzt Art. 7 Abs. 1 EG den
Handlungsbereich der Organe auf den ihnen zugewiesenen Aufgabenbereich369.
Um zu gewährleisten, dass die Tätigkeit der Kommission präventive Überwachungstätigkeit bleibt und nicht in Konkurrenz tritt mit der Rechtsauslegung des
EuGH, kommt es maßgeblich auf den Inhalt der jeweiligen Stellungnahmen an370. In
der Rechtsprechung des EuGH ist es anerkannt, dass allein der Umstand, dass einem
Akt die bindende Wirkung fehlt, nicht ausreicht, um einem Organ die Zuständigkeit
zu seiner Billigung zu verleihen. Vielmehr müssten „für die Festlegung der Bedin-
363 S.o. B. III. 2. a) bb) (2).
364 S. dazu die offiziellen Rechtsprechungsstatistiken des EuGH aus dem Jahre 2007 unter
http://curia.europa.eu/de/instit/presentationfr/rapport/stat/07_cour_stat.pdf, S. 98.
365 S. auch unter C. II. 2. b) aa) (1) (c) (aa).
366 Vgl. auch J. Schwarze/A. Weitbrecht, Kartellverfahrensrecht, § 11, Rn. 48.
367 H. Schmitt von Sydow, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann, Art. 155 EGV, Rn. 12.
368 EuGH, Urteil vom 27.9.1988, Rs. 204/86 – Griechenland/Rat, Slg. 1988, 5323, Rn. 16; Urteil
vom 30.3.1995, Rs. C-65/93 – Parlament/Rat, Slg. 1995, I-643, Rn. 25.
369 L. Senden, Utrecht Law Review 2005, S. 79 (84).
370 Vgl. L. Senden, Utrecht Law Review 2005, S. 79 (95).
88
gungen, unter denen die Billigung eines solchen Aktes erfolgen kann, die Zuständigkeitsverteilung und das institutionelle Gleichgewicht, die durch den Vertrag [...]
festgelegt worden sind, angemessen berücksichtigt werden“371. Für den vorliegenden
Zusammenhang bedeutet dies, dass die Kommission, um nicht in den Funktionsbereich der europäischen Gerichte einzudringen, keine abschließenden rechtlichen
Stellungnahmen zu Rechtsfragen abgeben darf, die ungeklärt und rechtlich umstritten sind. Wenn das im Ausgangsfall mit der Anwendung des gemeinschaftlichen
Kartellrechts betraute Zivilgericht über eine noch nicht geklärte Rechtsfrage zu
befinden hat, deren Beantwortung nicht auf der Hand liegt, so muss die Kommission
sich mit einer rechtlichen Stellungnahme zurückhalten und es bei einem Hinweis auf
die Möglichkeit zur Vorlage beim EuGH belassen.
In diesem Sinne vorbildlich verhielt sich die Kommission dem Wettbewerbsbericht aus dem Jahre 1997 zufolge auf die Anfrage eines nationalen Gerichts hin, das
nach der Rechtmäßigkeit eines Remailingverbots fragte. Dem Bericht zufolge ließ
der zuständige Generaldirektor bei der Kommission das Gericht wissen, „da[ss] die
Remailingprobleme ohne Zweifel auf höchster gerichtlicher Ebene der Gemeinschaft in einem Musterverfahren geprüft werden müssen. Ob die Kommission in
dieser Hinsicht initiativ werde, stehe allerdings noch nicht fest. Es sei Sache des
zuständigen Richters, dem Europäischen Gerichtshof ein Vorabentscheidungsersuchen vorzulegen, wenn er dies für zweckmäßig halte“372. Auch die unter Geltung der
VO 1/2003 übermittelten Stellungnahmen zeichnen sich durch eine große Zurückhaltung aus. Zumeist gibt die Kommission nur abstrakte Hilfestellungen und erläutert die wesentlichen Prüfungsschritte, die sie für angebracht hält. Soweit als möglich verweist sie auf die einschlägige Rechtsprechung des EuGH und regt bisweilen
die Einleitung eines Vorlageverfahrens an373.
Bedenken ergeben sich weiterhin im Hinblick auf Bekanntmachungen der Kommission374. Die Kommission macht in ihren Bekanntmachungen abstrakt-generelle
Aussagen. Wären die Bekanntmachungen formal bindend, läge daher eine klare
Umgehung des Gesetzgebungsverfahrens vor. Nach der Intention der Kommission
371 EuGH, Urteil vom 23.3.2004, Rs. C-233/02 – Frankreich/Kommission, Slg. I-2759, Rn. 40.
372 Kommission, XXVII. Bericht über die Wettbewerbspolitik 1997, S. 397.
373 Vgl. Kommission, XXXIV. Bericht über die Wettbewerbspolitik 2004, Rn. 112; XXXV.
Bericht über die Wettbewerbspolitik 2005, Rn. 225 ff.; XXXVI. Bericht über die Wettbewerbspolitik 2006, Rn. 70 und 72; XXXVII. Bericht über die Wettbewerbspolitik 2007, Rn.
90 und 92; sowie die beispielhaft veröffentlichten Stellungnahmen in den nationalen Verfahren Wallonie Expo SA/FEBIAC (http: // ec. europa. eu/ comm/ competition/ court/ febiac.pdf),
SABAM Productions and Marketing (http: // ec. europa. eu/ comm/ competition/ court/ sabam.pdf) und Laurent Emond Brasserie Haacht (http: // ec. europa. eu/ comm/ competition/
court/ brasserie_haacht.pdf).
374 Vgl. auch L. Senden, Utrecht Law Review 2005, S. 79 (82). Eine ausdrückliche Kompetenz
der Kommission zum Erlass der Bekanntmachungen besteht nicht (vgl. G. Pampel, Leitlinien,
S. 123 ff.). Hieraus wird teilweise schon auf deren Unzulässigkeit geschlossen (G. Pampel,
Leitlinien, S. 125 f.). Jedoch ist anerkannt, dass über die in Art. 249 EG genannten Rechtsakte hinaus sog. ungekennzeichnete Rechtsakte zulässig sind (vgl. nur T. Oppermann, Europarecht, § 6, Rn. 105), weshalb diese Schlussfolgerung nicht zwingend ist.
89
soll eine solche formale Bindung jedoch gerade nicht bestehen. Angesichts der faktischen Bindungswirkung von Bekanntmachungen besteht jedoch auch im legislativen
Bereich die Gefahr, dass Funktionsgrenzen überschritten werden, indem die Kommission in Bereiche der Legislative vordringt. Auch hier folgt aus der Pflicht zur
loyalen Zusammenarbeit sowie aus Art. 7 Abs. 1 EG, dass die Kommission beim
Erlass von Bekanntmachungen gegenüber dem Gemeinschaftsgesetzgeber Zurückhaltung üben muss375. Die Kommission darf sich keine faktischen Alleingesetzgebungsbefugnisse anmaßen, wo sie sonst allenfalls Initiativbefugnisse hätte. Erneut
kommt es maßgeblich auf den Inhalt der Bekanntmachungen an. In einem Fall, in
dem die Kommission, nur wenige Tage nachdem sie einen Richtlinienvorschlag
wegen des Scheiterns der Verhandlungen mit den Mitgliedstaaten im Rat zurückgezogen hatte, eine im Wesentlichen inhaltsgleiche Mitteilung veröffentlichte, kam der
EuGH zu der Feststellung, die Mitteilung stelle eine Handlung dar, „die eigene
Rechtswirkungen erzeugen soll, die sich von denjenigen unterscheiden, die bereits in
den Bestimmungen des [EG-]Vertrages [...] vorgesehen sind“. Für den Gegenstand
dieses faktischen Legislativsakts stehe der Kommission indessen keine Kompetenz
zu. Die Kommission habe somit als unzuständiges Organ gehandelt376.
Eine abstrakte Aussage über den zulässigen Inhalt einer Bekanntmachung ist dabei kaum möglich. Es ist im jeweiligen Kontext zu ermitteln, inwieweit sich die
Kommission durch den Erlass von Bekanntmachungen zumindest faktisch in die
Position des Gesetzgebers begibt. Unbedenklich erscheint es jedenfalls, ähnlich wie
bei rechtlichen Stellungnahmen, wenn die Kommission in ihren Bekanntmachungen
unstreitige Rechtsfragen erläutert oder gar im Wesentlichen nur die Rechtsprechung
des EuGH wiedergibt. Auch ist der Inhalt von Bekanntmachungen unbedenklich,
wenn er sich auf Regelungen bezieht, die wie Gruppenfreistellungsverordnungen
von der Kommission selbst kompetenzgerecht erlassen wurden377.
375 Von einer dahingehenden Verpflichtung gegenüber den Mitgliedstaaten geht G. Pampel,
EuZW 2005, S. 11 (13) aus.
376 EuGH, Urteil vom 20.3.1997, Rs. C-57/95 – Frankreich/Kommission, Slg. I-1627, Rn. 20 ff.
377 Vgl. in diesem Sinne zahlreiche Regelungen der Bekanntmachung der Kommission – Leitlinien für vertikale Beschränkungen, ABl. (EG) Nr. C 291 vom 13.10.2000, S. 1 und der Bekanntmachung der Kommission – Leitlinien zur Anwendbarkeit von Artikel 81 EG-Vertrag
auf Vereinbarungen über horizontale Zusammenarbeit, ABI. (EG) Nr. C 3 vom 6.1.2001, S.
2.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Der Erlass der EG-Verordnung 1/2003 hat einen Systemwechsel im Bereich des europäischen Kartellverfahrens bewirkt und den Weg für eine verstärkte private Kartellrechtsdurchsetzung geebnet. Auf der politischen Agenda der Europäischen Kommission hat die Stärkung des private enforcement weiterhin höchste Priorität. Die ersten spektakulären kartellrechtlichen Schadensersatzprozesse und die Entstehung eines kartellprivatrechtlichen Klagegewerbes in Europa markieren den Anfang einer nachhaltigen Entwicklung.
Durch die mit der Einbeziehung der Zivilgerichte verbundene Dezentralisierung des Kartellrechtsvollzugs entsteht auch das vermehrte Bedürfnis, eine einheitliche Rechtsanwendung durch die beteiligten Akteure sicherzustellen.
Das vorliegende Werk untersucht die gemeinschaftsrechtlichen Mechanismen, die der Sicherung einer einheitlichen Anwendungspraxis zwischen den Zivilgerichtsbarkeiten der einzelnen Mitgliedstaaten und der Vermeidung von Entscheidungswidersprüchen zwischen den am Kartellrechtsvollzug beteiligten Akteuren im konkreten Anwendungsfall dienen.
Der Autor ist als Rechtsanwalt im Bereich des Kartellrechts in einer Sozietät in Stuttgart tätig.