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D. Zusammenfassung
1) Die VO 1/2003 erklärt die Art. 81 und 82 EG insgesamt, also anders als bislang,
auch Art. 81 Abs. 3 EG, zum unmittelbar anwendbaren Recht. Damit wurde das
über vierzig Jahre lang geltende Freistellungsmonopol der Kommission aufgegeben
zugunsten eines Systems der Legalausnahme. Dass damit nationale Gerichte und
Behörden zur umfassenden Anwendung der Wettbewerbsregeln berufen sind, entspricht insgesamt einer Annäherung an den gemeinschaftsrechtlichen Normalzustand, da der indirekte Vollzug den Regelfall darstellt.
Für die nationalen Zivilgerichte folgt die Zuständigkeit zur Anwendung des europäischen Wettbewerbsrechts daraus, dass dieses unmittelbare Wirkung auch im
Horizontalverhältnis entfaltet, also zwischen Privaten gilt. Für die private Kartellrechtsdurchsetzung wurde mit dem Übergang zum Legalausnahmesystem ein wesentliches Hindernis aus dem Weg geräumt. Seit der Reform des Kartellverfahrensrechts ist ein deutlicher Anstieg von kartellrechtlichen Privatklagen zu verzeichnen.
Wie schon zuvor schließen diese sich in der Praxis indessen größtenteils an behördliche Kartellverfahren durch die Kommission oder die nationalen Kartellbehörden
an. Zur Förderung einer privaten Streitkultur in Kartellrechtssachen sind zudem
weitere Schritte nötig. Die Kommission schreitet mit ihren Reformbestrebungen
unbeirrt voran. Die formale Erweiterung der Anwendungsbefugnisse nationaler
Zivilgerichte und der damit intendierte Anstieg privater Kartellrechtsdurchsetzung
bewirken eine verstärkte Dezentralisierung. Gleichzeitig bewirkt die Reform als
Nebenfolge auch eine geringere Kenntnis der Kommission von den wettbewerbsrelevanten Vorgängen, da die Abschaffung des Anmeldesystems auch den Informationsfluss zwischen Kommission und Unternehmen beschneidet.
2) Die schiere Vielzahl der bei der privaten Kartellrechtsdurchsetzung auf dezentraler Ebene zuständigen Gerichte birgt die Gefahr einer nicht kohärenten Rechtsanwendung. Damit besteht zum einen die Gefahr genereller Anwendungsdivergenzen, das Risiko also, dass sich hinsichtlich der zivilgerichtlichen Anwendung der
Art. 81 und 82 EG in der Rechtsprechung verschiedener Mitgliedstaaten ein unterschiedliches Rechtsverständnis herausbildet. Dies würde bedeuten, dass, je nachdem, wo das entscheidende Gericht beheimatet ist, die Anwendungsergebnisse variierten.
a) Bevor danach gefragt werden kann, welche Mechanismen zur Verfügung stehen, um eine möglichst weitgehende Konvergenz der Anwendungsergebnisse zu
gewährleisten, ist zu klären, inwieweit nach dem gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts überhaupt eine Konvergenz des abstrakten rechtlichen Rahmens besteht. Dabei rücken zwei Aspekte ins Blickfeld. Zum einen ist fraglich, inwieweit
der Rechtsrahmen, der bei einer privatrechtlichen Anwendung des europäischen
Wettbewerbsrechts vorzufinden ist, übereinstimmt. Dies erscheint klärungsbedürftig
angesichts des Umstandes, dass nationale Gerichte die Art. 81 und 82 EG nicht
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isoliert anwenden, sondern dabei grundsätzlich auf ihre nationalen Verfahrensrechte
und ihr nationales materielles Zivilrecht zurückgreifen. Zum anderen stellt sich die
Frage, ob unterschiedliche Anwendungsergebnisse nicht schon deshalb hinzunehmen sind, weil den nationalen Gerichten zum einen ein wettbewerbsrechtsspezifischer Beurteilungsspielraum zusteht und zum anderen eine Abwägung mit anderen
Gemeinschaftspolitiken möglich ist.
Die Betrachtung beider Aspekte führt zu dem Ergebnis, dass die rechtlichen
Rahmenbedingungen grundsätzlich eine kohärente Rechtsanwendung zulassen.
Zwar greifen die Mitgliedstaaten bei der Anwendung der Art. 81 und 82 EG auf
nationale Verfahrensrechte und nationales materielles Recht zurück. Jedoch steht
dabei nationales Recht unter den Vorbehalten von Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatz. In der Rechtsprechung des EuGH werden, insbesondere gestützt auf letzteren Grundsatz, weit reichende Vorgaben gemacht, so dass kaum noch Raum für
nationale Unterschiede verbleibt. Es ist damit von einer weitgehenden Übereinstimmung des rechtlichen Rahmens auszugehen. Ein weiter Beurteilungsspielraum bei
der Anwendung des europäischen Wettbewerbsrechts entspricht nicht der Stellung
der nationalen Gerichte und ist daher zu verneinen. Weiterhin ist in einem System
der Legalausnahme mangels konstitutiver Freistellungsentscheidungen im Zuge der
Anwendung des Art. 81 Abs. 3 EG schon generell kein Raum mehr für die Einbeziehung wettbewerbsfremder Aspekte.
b) Damit lassen die rechtlichen Rahmenbedingungen eine einheitliche Anwendung grundsätzlich zu. Selbstverständlich bedarf es jedoch effektiver Mechanismen,
um auf eine tatsächliche Übereinstimmung der Anwendungspraxis hinzuwirken.
Hier findet sich ein umfangreiches Instrumentarium, welches weit über das hinausgeht was in der gemeinschaftsrechtlichen Gesamtschau als Normalfall gelten kann.
Es ist zu erwarten, dass mithilfe der vorgesehenen Mechanismen eine generelle
Kohärenz der Rechtsanwendung zu gewährleisten ist.
Eine letztverbindliche Entscheidung über wettbewerbsrechtliche Fragen kann
freilich nur vom EuGH getroffen werden. Verfahrensmäßig verwirklicht sich die
Einflussnahme des EuGH im Wege des Vorlageverfahrens. Damit kommt die prominenteste Funktion des Verfahrens zum Tragen: die Gewährleistung einer einheitlichen Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts. Nur in Ausnahmefällen
erscheint es realistisch, dass gegen nationale Gerichtsentscheidungen das Vertragsverletzungsverfahren gemäß Art. 226 EG zum Einsatz gebracht wird. Sinnvoll wäre
dies etwa, wenn eine generelle Fehlentwicklung der Rechtsprechung eines Mitgliedstaates unter beharrlicher Missachtung der Vorlagepflicht eingedämmt werden soll.
Die VO 1/2003 sieht selbst Beteiligungsmöglichkeiten mitgliedstaatlicher Behörden an nationalen Gerichtsverfahren vor und gestaltet mithin das Verhältnis zwischen Behörden und Gerichten in einzelnen Punkten unmittelbar. Daran wird deutlich, dass die VO 1/2003 den nationalen Behörden eine aktive Rolle bei der Sicherstellung einer einheitlichen Anwendung des europäischen Wettbewerbsrechts auf
dezentraler Ebene zuschreibt.
Eine weitaus bedeutendere Stellung nimmt freilich die Europäische Kommission
ein. Sie unterstützt die nationalen Gerichte bei der Anwendung der europäischen
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Wettbewerbsregeln in weitem Umfang durch die Übermittlung von Informationen
und Stellungnahmen. Wenngleich das Auslegungsmonopol auch für das europäische
Wettbewerbsrecht zweifelsohne bei der Gemeinschaftsgerichtsbarkeit liegt, tritt die
Kommission, soweit sie rechtliche Stellungnahmen abgibt, potentiell in Konkurrenz
zum EuGH. Zwar bestehen im Ausgangspunkt tief greifende Unterschiede zwischen
Vorlageentscheidungen des EuGH und rechtlichen Stellungnahmen der Kommission. Während Entscheidungen im Vorabentscheidungsverfahren sich auf sämtliche
Fragen des Gemeinschaftsrechts beziehen können und verbindlich sind, beschränken
sich rechtliche Stellungnahmen der Kommission auf die Anwendung der Art. 81 und
82 EG. Sie sind zudem unverbindlich.
Dennoch ist die Gefahr nicht von der Hand zu weisen, dass aus Sicht der nationalen Gerichte die Möglichkeit, eine Stellungnahme bei der Kommission zu erfragen,
als attraktive Alternative zur Vorlage an den EuGH empfunden wird. Dafür könnte
die wesentlich geringere Dauer ausschlaggebend sein, die bei einer Stellungnahme
der Kommission zu erwarten ist. Wenngleich es schon angesichts des Arbeitsanfalls
beim EuGH begrüßenswert ist, dass nicht in übertriebenem Maße auf das Vorlageverfahren zurückgegriffen wird, muss doch sichergestellt werden, dass Stellungnahmen der Kommission Vorlagen zum EuGH im Bereich des Wettbewerbsrechts
nicht faktisch ersetzen.
Für die nationalen Gerichte heißt dies, dass sie trotz der Möglichkeit, sich an die
Kommission zu wenden, das Vorlageverfahren weiterhin in Anspruch nehmen müssen. Dies erfordert die eingehende Beschäftigung der Gerichte mit den wettbewerbsrechtlichen Gesichtspunkten des zur Entscheidung stehenden Falls und die eigenverantwortliche Einleitung des Vorlageverfahrens in Zweifelsfällen, unabhängig von
einer etwaigen Stellungnahme der Kommission. Insbesondere liegt die Verantwortung aber bei der Kommission, Stellungnahmen nur in Fällen abzugeben, in denen
eine Vorlage letztlich überflüssig ist, da die Rechtslage eindeutig ist, oder sich bei
Zweifelsfragen mit einer abschließenden rechtlichen Aussage zurückzuhalten, ggf.
die rechtlich kritischen Aspekte herauszuarbeiten und die Gerichte auf das Vorlageverfahren zu verweisen. Nur so kann gewährleistet werden, dass das Verfahren der
Zusammenarbeit nicht in einem Eindringen der Kommission in den Funktionsbereich der europäischen Gerichtsbarkeit resultiert. Die bisherige Praxis der Kommission bei der Abgabe von Stellungnahmen gibt in dieser Hinsicht keinerlei Anlass zu
Beanstandungen.
Zusätzlich zu den einzelfallbezogenen Möglichkeiten der Kommission zur Einflussnahme stehen ihr abstrakt-generelle Mechanismen zur Verfügung. Dabei handelt es sich einerseits um die Befugnis der Kommission, nach entsprechender Ermächtigung rechtlich verbindliche Gruppenfreistellungsverordnungen zu erlassen,
die neben Art. 81 Abs. 3 EG weitere Legalausnahmen zum Kartellverbot des Art. 81
Abs. 1 EG darstellen. Andererseits erlässt die Kommission in großem Umfang unverbindliche Bekanntmachungen, die die Anwendung durch die nationalen Zivilgerichte erleichtern. Auch hier muss eine Verschiebung von Funktionsgrenzen vermieden werden. Die Kommission darf sich nicht ohne entsprechende Kompetenz und
ohne Beachtung des Gesetzgebungsverfahrens faktisch Gesetzgebungsbefugnisse
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anmaßen, was bedeutet, dass sich auch Bekanntmachungen ihrem Inhalt nach auf
eine Erläuterung weitgehend gesicherter Rechtserkenntnisse beschränken müssen.
3) Neben der Gefahr genereller Rechtsanwendungsdivergenzen zwischen den unterschiedlichen mitgliedstaatlichen Zivilgerichtsbarkeiten besteht die Gefahr von
Entscheidungswidersprüchen bei der Behandlung eines konkreten Falles durch mehrere Stellen. Ausgehend von dem Fokus dieser Arbeit können dabei drei Verhältnisse unterschieden werden, in denen eine mehrfache gleich- oder nachzeitige Befassung mit einem Fall in Betracht kommt: Das Verhältnis der Zivilgerichte zur Kommission, zu den nationalen Kartellbehörden und zu anderen nationalen Gerichten.
a) Zwischen dem Verhältnis zur Kommission und den nationalen Kartellbehörden
einerseits und anderen Zivilgerichten andererseits besteht ein grundlegender Unterschied. Während erstere im Allgemeininteresse tätig werden und damit gegenüber
den im Individualinteresse handelnden Zivilgerichten grundsätzlich zu unterscheidende Aufgaben wahrnehmen, handeln Zivilgerichte untereinander mit dem gleichen
Rechtsschutzauftrag. Bei der Vermeidung von Entscheidungswidersprüchen ergibt
sich damit eine unterschiedliche Ausgangslage. Während es gegenüber den im hoheitlichen Vollzug handelnden Stellen nur um die Vermeidung von Widersprüchen
bei der tatbestandlichen Anwendung der Art. 81 und 82 EG gehen kann, besteht im
Verhältnis der Zivilgerichte untereinander die Gefahr, dass diese über dieselben
Rechtsfolgen entscheiden. Damit besteht nicht nur das Risiko, dass es zu einer tatbestandlich unterschiedlichen Anwendung der Art. 81 und 82 EG kommt. Es ist
auch zu vermeiden, dass mehrfach über die gleichen Rechtsfolgen entschieden wird.
Im Verhältnis zu den hoheitlich handelnden Stellen werden in diesem Zusammenhang zwei Besonderheiten deutlich. Zunächst besteht im Bereich des europäischen Wettbewerbsrechts ein Fall des direkten Vollzugs durch die Kommission, was
bereits eine Ausnahme zum gemeinschaftsrechtlichen Normalfall bedeutet. Der
direkte Vollzug besteht weiterhin neben dem indirekten Vollzug durch nationale
Behörden, was eine Ausnahme innerhalb der Ausnahme darstellt. Damit stehen den
Zivilgerichten nicht nur die Kommission, sondern auch nationale Behörden gegen-
über.
b) Im Verhältnis zur Kommission kann angesichts der unterschiedlichen Zielrichtung ihres Tätigwerdens keine Zuständigkeitsabgrenzung erfolgen. Ein paralleles
Tätigwerden ist daher hinzunehmen. Die VO 1/2003 behandelt das Problem widersprüchlicher Entscheidungen, indem sie den nationalen Gerichten die Pflicht auferlegt, keine Entscheidungen zu erlassen, die einer bereits ergangenen Kommissionsentscheidung zuwiderlaufen. Darin ist keine Bindungswirkung zu sehen, die die
Gerichte verpflichtet, eine bereits ergangene Kommissionsentscheidung der eigenen
Entscheidung unbesehen zugrunde zu legen. Sie bleiben vielmehr weiterhin zur
eigenen wettbewerbsrechtlichen Prüfung verpflichtet. Allerdings bleibt im Falle
einer abweichenden Rechtsauffassung nur die Möglichkeit, ein Vorlageverfahren
beim EuGH einzuleiten. Erst bei gerichtlicher Bestätigung durch den EuGH im
Vorlageverfahren, oder soweit ein solches aufgrund eines zuvor möglichen, aber
nicht wahrgenommenen Rechtsbehelfs ausgeschlossen ist, wirkt die Entscheidung
der Kommission autoritativ.
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Auch bei einer gleichzeitigen Behandlung eines Falles durch Kommission und
nationale Gerichte haben letztere widersprüchliche Entscheidungen zu vermeiden.
Dies ist zumeist unproblematisch durch eine Verfahrensaussetzung zu erreichen. Als
problematisch erweist es sich hingegen, wenn eine Gerichtsentscheidung schon
ergangen ist und die Kommission erst im Anschluss hieran einen Fall aufgreift und
eine Entscheidung erlässt. Hier sind der Verwirklichung des Zielzustands einer vollständigen Konvergenz von Kommissions- und Gerichtsentscheidungen Grenzen
gesetzt. Sofern die Möglichkeit von Korrekturen im Rechtsmittelverfahren oder im
Vollstreckungsrecht, Möglichkeiten der Wiederaufnahme oder ähnliche verfahrensrechtliche Möglichkeiten nach nationalem Recht nicht in Betracht kommen, muss
der nach nationalem Recht eingetretenen Rechtskraftwirkung Rechnung getragen
werden.
Insgesamt als unbefriedigend erweist es sich, dass Gerichte und Kommission bei
der Behandlung eines konkreten Falles einen unterschiedlichen Informationsstand
haben können, so dass sie ihrer Entscheidung mithin einen unterschiedlichen Sachverhalt zugrunde legen. Der vom Beibringungsgrundsatz geprägte Zivilprozess
zeichnet sich gegenüber dem behördlichen Verfahren zumeist durch eine deutlich
geringere Sachverhaltsaufklärung aus. Hierin liegt der wesentliche Grund, weshalb
sich schon bislang Zivilklagen hauptsächlich an behördliche Verfahren anschließen,
und nicht an deren Stelle treten. Das Ziel eines möglichst umfassenden Entscheidungseinklangs gerät in Konflikt mit dem Ziel, dem Zivilverfahren zu einer eigenständigen Bedeutung bei der Durchsetzung des europäischen Kartellrechts zu verhelfen. Letzteres würde bedeuten, dass Entscheidungsdivergenzen hinsichtlich identischer Ausgangsfälle hingenommen werden müssten, die aus den unterschiedlichen
Wegen der Sachverhaltsaufklärung resultieren. Eine größtmögliche Entscheidungskonvergenz ließe sich demgegenüber durch eine echte Tatbestandswirkung von
Behördenentscheidungen erzielen. Dadurch würde das Zivilverfahren jedoch zum
bloßen Annex des Behördenverfahrens, weshalb ihm seine eigenständige Bedeutung
als Durchsetzungsinstrument des Kartellrechts genommen würde.
c) Für die Frage der gegenseitigen Beachtlichkeit von Entscheidungen von Zivilgerichten und nationalen Kartellbehörden sieht die VO 1/2003 selbst keine Regelung
vor. Es liegt somit an den Mitgliedstaaten, dieses Verhältnis selbst auszugestalten.
Das GWB hält mit § 33 Abs. 4 eine äußerst weitgehende Vorschrift bereit, die, zumindest für Schadensersatzklagen, von der Beachtlichkeit nicht nur von Entscheidungen deutscher, sondern auch sonstiger mitgliedstaatlicher Kartellbehörden ausgeht.
d) Im Verhältnis nationaler Zivilgerichte unterschiedlicher Mitgliedstaaten zueinander besteht zum einen die Gefahr, dass unterschiedliche Gerichte über identische
Streitgegenstände mehrfach entscheiden. Ebenso ist es aber möglich, dass nationale
Gerichte bei der Befassung mit im Wesentlichen übereinstimmenden Sachverhalten
über unterschiedliche Streitgegenstände befinden. Dies kann etwa der Fall sein,
wenn zwar über die gleiche wettbewerbsrechtswidrige Vereinbarung entschieden
wird, an dem Rechtsstreit jedoch andere Kartellteilnehmer beteiligt sind. In diesem
Fall geht es nicht um die Vermeidung mehrfacher Entscheidungen, sondern, wie im
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Verhältnis zu den Behörden und der Kommission, um die Vermeidung einer widersprüchlichen tatbestandlichen Anwendung des europäischen Kartellrechts.
Der Gefahr mehrfacher Entscheidungen über gleiche Rechtsfolgen trägt zunächst
die Regelung des Art. 27 Brüssel I-VO über die anderweitige Rechtshängigkeit
Rechnung. Bei Klagen wegen desselben Anspruchs zwischen denselben Parteien,
hat sich danach ein später angerufenes Gericht für unzuständig zu erklären, sofern
die Zuständigkeit des erstangerufenen Gerichts feststeht. Die Vorschrift ist weit
genug gefasst, um mehrfache Rechtsfolgenaussprüche auszuschließen. Weiterhin
sind nach Art. 33 Brüssel I-VO in fremden Mitgliedstaaten ergangene Entscheidungen anzuerkennen. Eine erneute und widersprüchliche Entscheidung ist nach den
Grundsätzen der entgegenstehenden Rechtskraft ausgeschlossen.
Sofern es um die Vermeidung einer widersprüchlichen tatbestandlichen Anwendung geht also sofern nicht über identische sondern nur ähnliche Gegenstände entschieden wird, bietet die Vorschrift des Art. 28 Brüssel I-VO eine flexible Möglichkeit, widersprüchliche Entscheidungen zu vermeiden. Danach bestehen zwei Möglichkeiten im Falle von im Zusammenhang stehender Verfahren, Entscheidungswidersprüche zu vermeiden. Zum einen kommt eine Aussetzung des Verfahrens bis
zur Entscheidung des Erstgerichts in Betracht. Zum anderen besteht die Möglichkeit
des später angerufenen Gerichts, sich für unzuständig zu erklären. Letztere Möglichkeit ist aus Rechtsschutzgesichtspunkten allerdings nicht unbedenklich, da hiermit keine bindende Verweisung des Rechtsstreits verbunden ist und das Gericht, zu
dessen Gunsten die Unzuständigerklärung erfolgt, seinerseits seine Zuständigkeit
verneinen kann.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Der Erlass der EG-Verordnung 1/2003 hat einen Systemwechsel im Bereich des europäischen Kartellverfahrens bewirkt und den Weg für eine verstärkte private Kartellrechtsdurchsetzung geebnet. Auf der politischen Agenda der Europäischen Kommission hat die Stärkung des private enforcement weiterhin höchste Priorität. Die ersten spektakulären kartellrechtlichen Schadensersatzprozesse und die Entstehung eines kartellprivatrechtlichen Klagegewerbes in Europa markieren den Anfang einer nachhaltigen Entwicklung.
Durch die mit der Einbeziehung der Zivilgerichte verbundene Dezentralisierung des Kartellrechtsvollzugs entsteht auch das vermehrte Bedürfnis, eine einheitliche Rechtsanwendung durch die beteiligten Akteure sicherzustellen.
Das vorliegende Werk untersucht die gemeinschaftsrechtlichen Mechanismen, die der Sicherung einer einheitlichen Anwendungspraxis zwischen den Zivilgerichtsbarkeiten der einzelnen Mitgliedstaaten und der Vermeidung von Entscheidungswidersprüchen zwischen den am Kartellrechtsvollzug beteiligten Akteuren im konkreten Anwendungsfall dienen.
Der Autor ist als Rechtsanwalt im Bereich des Kartellrechts in einer Sozietät in Stuttgart tätig.