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3. Instrumente der nationalen Kartellbehörden
Nach Art. 15 Abs. 3 Satz 1 VO 1/2003 steht auch den nationalen Behörden das
Recht zu, den Gerichten ihres Mitgliedstaats aus eigener Initiative351 Stellungnahmen zu übermitteln. Dieses Recht folgt unmittelbar aus Gemeinschaftsrecht und ist
somit unabhängig von einer entsprechenden nationalen Regelung. Die Kartellverfahrensverordnung bewirkt in diesem Punkt eine verfahrensrechtliche Harmonisierung.
Die Einzelheiten der Durchführung können jedoch wiederum unter den Vorbehalten
von Äquivalenz und Effektivität durch das nationale Recht geregelt werden. Art. 15
Abs. 4 VO 1/2003 stellt klar, dass nationale Regelungen, die umfassendere Befugnisse der nationalen Behörden vorsehen, nicht im Wege des Anwendungsvorrangs
verdrängt werden.
Im Unterschied zu der Befugnis der Kommission zur Erteilung von Stellungnahmen steht den nationalen Behörden diese Befugnis sogar vorbehaltlos zu. Eine Gefährdung der kohärenten Rechtsanwendung ist nicht erforderlich. Mit Erlaubnis der
Gerichte ist auch hier eine mündliche Stellungnahme möglich352. Genau wie die
Kommission können auch nationale Behörden zum Zwecke der Ausarbeitung ihrer
Stellungnahmen die Übermittlung sämtlicher erforderlichen Dokumente verlangen353. Wie dort gilt auch hier das Zweckentfremdungsverbot354, weshalb die übermittelten Schriftstücke in anderen Verfahren der Behörden nicht verwendet werden
dürfen. Freilich steht von vornherein fest, dass die dezentrale Steuerung auf nationaler Ebene gegenüber den zentralen Mechanismen auf Gemeinschaftsebene nur ergänzende Bedeutung haben kann.
Das Recht zur Stellungnahme nationaler Behörden gilt nur gegenüber den Gerichten des eigenen Mitgliedstaats, nicht jedoch gegenüber Gerichten anderer Mitgliedstaaten355. Damit trägt die VO 1/2003 einem traditionellen völkerrechtlichen Souveränitätsverständnis Rechnung, wonach die Mitgliedstaaten auf ihrem Staatsgebiet
Hoheitsrechte grundsätzlich exklusiv ausüben.
IV. Zusammenfassende Bewertung
Unmittelbare Anwendbarkeit und Anwendungsvorrang bilden die Grundvoraussetzungen für eine zivilgerichtliche Anwendung des europäischen Wettbewerbsrechts.
Die unmittelbare Anwendbarkeit bewirkt, dass es überhaupt zu einem Vollzug euro-
351 Der abweichende Wortlaut zwischen Satz 1 („von sich aus“) und Satz 3 („aus eigener Initiative“) ist als sprachliche Ungenauigkeit zu bemängeln, jedoch im Ergebnis nicht beachtlich.
Vgl. etwa die englische („acting on their/its own initiative“) und die französische („agissant
d'office”) Sprachfassungen.
352 Art. 15 Abs. 3 S. 2 VO 1/2003.
353 Art. 15 Abs. 3 S. 5 VO 1/2003.
354 S.o. B. III. 2. a) aa).
355 M. Sura, in: Langen/Bunte, Kartellrecht, Bd. 2, VO 1/2003, Art. 15, Rn. 14; A. Zuber, in:
Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, Kartellrecht Bd. 1, VO 1/2003, Art. 15, Rn. 22.
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References
Zusammenfassung
Der Erlass der EG-Verordnung 1/2003 hat einen Systemwechsel im Bereich des europäischen Kartellverfahrens bewirkt und den Weg für eine verstärkte private Kartellrechtsdurchsetzung geebnet. Auf der politischen Agenda der Europäischen Kommission hat die Stärkung des private enforcement weiterhin höchste Priorität. Die ersten spektakulären kartellrechtlichen Schadensersatzprozesse und die Entstehung eines kartellprivatrechtlichen Klagegewerbes in Europa markieren den Anfang einer nachhaltigen Entwicklung.
Durch die mit der Einbeziehung der Zivilgerichte verbundene Dezentralisierung des Kartellrechtsvollzugs entsteht auch das vermehrte Bedürfnis, eine einheitliche Rechtsanwendung durch die beteiligten Akteure sicherzustellen.
Das vorliegende Werk untersucht die gemeinschaftsrechtlichen Mechanismen, die der Sicherung einer einheitlichen Anwendungspraxis zwischen den Zivilgerichtsbarkeiten der einzelnen Mitgliedstaaten und der Vermeidung von Entscheidungswidersprüchen zwischen den am Kartellrechtsvollzug beteiligten Akteuren im konkreten Anwendungsfall dienen.
Der Autor ist als Rechtsanwalt im Bereich des Kartellrechts in einer Sozietät in Stuttgart tätig.