50
hinwegtäuschen173. Auch wenn sich im dogmatischen Ausgangspunkt nichts ändert,
so läuft doch die Nachdrücklichkeit, mit welcher der Effektivitätsgrundsatz ins Feld
geführt wird, auf eine weitgehende Konvergenz nationaler Schadensersatzansprüche
hinaus. Im Ergebnis lässt die Jedermann-Formel kaum Spielräume für nationale
Divergenzen. Ergänzend ist schließlich auch für den Bereich des materiellen Rechts
von der Anwendbarkeit der allgemeinen Rechtsgrundsätze auszugehen. Diese wirken somit auch hier in gewissem Umfang auf die Einheitlichkeit der Rechtsanwendung hin.
Freilich schlägt sich der Konvergenzdruck, dem die nationalen Rechtsordnungen
unterliegen, auch in der Gesetzgebungstätigkeit der Mitgliedsstaaten nieder. Aus
dem Blickwinkel der Rechtssicherheit ist es zu begrüßen, die Übereinstimmung mit
den gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben nicht durch eine Überformung des nationalen Haftungsregimes im Einzelfall zu erreichen, sondern durch entsprechende gesetzgeberische Anpassungen. Auch die Siebte GWB-Novelle sieht im Bereich des
Kartellzivilrechts zahlreiche Neuerungen vor, die sich an den Vorgaben der jüngeren
EuGH-Rechtsprechung orientieren174. Dies gilt zunächst für die Neufassung des § 33
GWB, von dem künftig auch Verstöße gegen die Art. 81 und 82 EG erfasst werden.
Bislang waren Schadensersatzansprüche nur über § 823 Abs. 2 BGB zu erlangen.
Um aber dem Äquivalenzgrundsatz zu genügen, war im Einzelfall die Vorschrift im
Sinne des § 33 GWB a. F. zu modifizieren. Dies bedurfte einigen dogmatischen
Begründungsaufwands175.
Weiterhin wurde in der Neufassung des § 33 GWB auf das Schutzgesetzerfordernis verzichtet. Schadensersatzberechtigt ist nunmehr jeder, der von einem wettbewerbsbeschränkenden Verhalten „betroffen“ ist, was jeden Marktteilnehmer mit
einschließt, der in irgendeiner Weise „durch den Verstoß beeinträchtigt ist“ (§ 33
Abs. 1 Satz 3 GWB). Mehr als das Schutzgesetzerfordernis dürfte sich das Kriterium
der „Betroffenheit“ dazu eignen, die weit reichenden Vorgaben, die aus der Jedermann-Rechtsprechung für den Kreis der anspruchsberechtigten Adressaten zu folgern sind, in das nationale Recht zu implementieren176. Ob an einem Verschuldenserfordernis festgehalten werden kann, ist, wie bereits erwähnt, fraglich.
2. Beurteilungsspielräume nationaler Zivilgerichte bei der Anwendung der Art. 81
und 82 EG
Neben der soeben behandelten Frage, inwieweit bei der zivilgerichtlichen Durchsetzung des europäischen Wettbewerbsrechts das zur Anwendung kommende nationale
173 Vgl. zur Bedeutung der Urteile Courage und Manfredi über den wettbewerbsrechtlichen
Kontext hinaus S. Drake, E.L.Rev. 2006, S. 841 ff.
174 Vgl. zum Ganzen auch R. Hempel, WuW 2004, S. 362 (367 ff.).
175 W.-H. Roth, in: Frankfurter Kommentar, Kartellrecht, § 33 GWB, Rn. 10 ff.
176 Vgl. zum Ganzen ausführlich J. Bornkamm, in: Langen/Bunte, Kartellrecht, Bd. 1, § 33
GWB, Rn. 16 ff.
51
Recht, sich von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterscheidet, ist es für die Frage
einheitlicher Anwendungsergebnisse weiterhin von Bedeutung, ob bei der Anwendung der Art. 81 und 82 EG selbst den nationalen Gerichten Beurteilungsspielräume
zuzuerkennen sind. Dies könnte zu einer erheblichen Uneinheitlichkeit der Rechtsanwendung führen.
Beurteilungsspielräume kämen zunächst bei der tatbestandlichen Beurteilung der
Voraussetzungen der Art. 81 und 82 EG in Betracht. Angesichts der tatbestandlichen
Unbestimmtheit des Art. 81 Abs. 3 EG ging der EuGH von einem weiten Beurteilungsspielraum der Kommission aus, der eine eingeschränkte gerichtliche Prüfung
von Kommissionsentscheidungen zur Folge hatte177. Die Rücknahme richterlicher
Kontrolldichte, die durch die europäischen Gerichte gegenüber der Kommission
praktiziert wurde, ist mit dem Legalausnahmesystem nicht per se unvereinbar178. Es
wird jedoch bezweifelt, ob sie in einem Legalausnahmesystem überhaupt noch angemessen erscheint179. Jedenfalls sind Beurteilungsspielräume der Kommission nur
mit deren herausgehobenen Stellung auf der Grundlage von Art. 85 EG zu rechtfertigen. Dieser Begründungsansatz lässt sich auf die Gerichte freilich nicht übertragen.
Diesen kann ein weiter Beurteilungsspielraum bei der Anwendung des Art. 81 Abs.
3 EG nicht zuerkannt werden180.
Unabhängig von dem Spielraum bei der Beurteilung der einzelnen Tatbestandsmerkmale des Art. 81 Abs. 3 EG selbst, wurde der Kommission bislang weiterhin
zugestanden auch außerhalb der Vorschrift liegende, wettbewerbsfremde Aspekte in
ihre Beurteilung miteinzubeziehen181. Zu den relevanten nichtwettbewerblichen
Aspekten zählten etwa die Erhaltung von Arbeitsplätzen in Zeiten schlechter Konjunktur, der Umweltschutz, die Förderung der Volksgesundheit, Fragen der Energieversorgung oder Verkehrsanbindung182. Eine weit reichende Möglichkeit zur Einbeziehung anderer Politiken boten dabei die sog. Querschnittsklauseln183. Könnten in
Zukunft nationale Gerichte ebenso vorgehen, wären ebenfalls stark divergierende
Anwendungsergebnisse zu erwarten.
Fraglich ist allerdings, ob nach nunmehr geltender Rechtslage eine Einbeziehung
nichtwettbewerblicher Aspekte bei der Anwendung des Art. 81 Abs. 3 EG überhaupt
177 EuGH, Urteil vom 13.7.1966, verb. Rs. 56/64 u.a. – Grundig und Consten/Kommission, Slg.
1966, 321, 396; Urteil vom 15.5.1975, Rs. 71/74 – FRUBO/Kommission, Slg. 1975, 563, Rn.
43; Urteil vom 25.10.1977, Rs. 26/76 – Metro/Kommission, Slg. 1977, 1875, Rn. 50; Urteil
vom 17.1.1984, verb. Rs. 43/82 u.a. – VBVB u.a./Kommission, Slg. 1984, 19, Rn. 58.
178 J. Schwarze/A. Weitbrecht, Grundzüge, § 2, Rn. 22.
179 A. Deringer, EuZW 2000, S. 5 (8); C. D. Ehlermann, CML Rev. 2000, S. 537 (559); A.
Weitbrecht, EuZW 2003, S. 69 (70).
180 Skeptisch auch: J. Schwarze/A. Weitbrecht, Kartellverfahrensrecht, § 2, Rn. 22; a.A. W.
Jaeger, WuW 2000, S. 1062 (1074).
181 Vgl. A. Fuchs, ZWeR 2005, S. 1 (16 f.); Mestmäcker/Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, § 13, Rn. 77.
182 Vgl. die Nachweise bei Mestmäcker/Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, § 13, Rn.
75; vgl. weiterhin G. Monti, CML Rev. 2002, S. 1057 (1069 ff.).
183 J. Faull/A. Nikpay, EC Competition Law, Rn. 2.14 ff.
52
noch möglich ist184. Mit dem Übergang von dem Freistellungsmonopol der Kommission zum System der Legalausnahme hat sich ein bedeutender dogmatischer
Wandel vollzogen, der die Beantwortung dieser Frage maßgeblich mitbestimmt.
Denn bislang führte erst eine Kommissionsentscheidung die Rechtsfolgen des Art.
81 Abs. 3 EG herbei. Erst der Erlass einer konstitutiven Freistellungsentscheidung
bewirkte eine Umgestaltung der Rechtslage. Dies erlaubte es, in den Entscheidungsprozess und damit in den Prozess der Rechtsgestaltung weitere Gesichtspunkte mit
einzubeziehen.
Unter dem Legalausnahmesystem hingegen treten die Rechtsfolgen des Art. 81
Abs. 3 EG bei Vorliegen seiner Voraussetzungen bereits ex lege ein, nicht erst durch
eine spätere Entscheidung, sei sie gerichtlich oder administrativ. Jede Entscheidung
über Art. 81 Abs. 3 EG kann nur darauf gerichtet sein, das festzustellen, was nach
der tatbestandlichen Aussage der Vorschrift ohnehin unmittelbar gilt185. Dies hat zur
Konsequenz, dass es nicht länger möglich ist, Umstände in die Anwendung des Art.
81 Abs. 3 EG mit einzubeziehen, die außerhalb seines Tatbestands liegen186. Andernfalls würde die Entscheidung nicht mit dem übereinstimmen, was nach Art. 81
Abs. 3 von Gesetzes wegen gilt. Für die Einbeziehung wettbewerbsfremder Aspekte
ist somit im Legalausnahmesystem insgesamt kein Raum187. Im Übrigen würde es
auch hier nicht der Stellung und Legitimation nationaler Behörden und Gerichte
entsprechen, derartige politische Beurteilungen vorzunehmen188. Es verbietet sich
daher auch unter diesem Gesichtspunkt, nationalen Gerichten die Einbeziehung
nichtwettbewerblicher Aspekte zu gestatten. In dieser Hinsicht besteht daher keine
Gefahr für eine einheitliche Rechtsanwendung.
III. Instrumente zur Gewährleistung genereller Einheitlichkeit der Rechtsanwendung
Während der abstrakte Rechtsrahmen bei der Anwendung der Art. 81 und 82 EG
zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten damit weitgehend übereinstimmt, und auch
bei der einzelfallbezogenen Anwendung keine nennenswerten Spielräume der Gerichte bestehen, stellt sich nunmehr die Frage, welche Instrumente zur Verfügung
stehen, um auch in der Praxis der Rechtsanwendung eine generelle Kohärenz sicherzustellen. Es versteht sich von selbst, dass hierfür vielfältige Faktoren eine Rolle
spielen können. Nicht zuletzt hängt die Anwendungskonvergenz von der wachsen-
184 Vgl. P. Goldschmidt/J. Thomsen, Eipascope 2003, S. 24 (28).
185 A.A. H. Quellmalz, WRP 2004, S. 461 (466 f.), der von der wenigstens theoretischen Möglichkeit ausgeht, dass die Kommission weiterhin nichtwettbewerbsrechtliche Aspekte berücksichtigt.
186 Vgl. J. Schwarze/A. Weitbrecht, Kartellverfahrensrecht, § 2, Rn. 17.
187 E.-J. Mestmäcker/H. Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, § 13, Rn. 77; R. Whish,
Competition Law, S. 155; vgl. weiterhin R. Wesseling, E.L.Rev. 26 (2001), S. 357 (373 f.).
188 O. Okeoghene, E.C.L.R. 2002, S. 17 (23 f.) m.w.N.; A. Fuchs, ZWeR 2005, S. 1 (17); R.
Wesseling, E.C.L.R. 1999, S. 420 (424 f.).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Der Erlass der EG-Verordnung 1/2003 hat einen Systemwechsel im Bereich des europäischen Kartellverfahrens bewirkt und den Weg für eine verstärkte private Kartellrechtsdurchsetzung geebnet. Auf der politischen Agenda der Europäischen Kommission hat die Stärkung des private enforcement weiterhin höchste Priorität. Die ersten spektakulären kartellrechtlichen Schadensersatzprozesse und die Entstehung eines kartellprivatrechtlichen Klagegewerbes in Europa markieren den Anfang einer nachhaltigen Entwicklung.
Durch die mit der Einbeziehung der Zivilgerichte verbundene Dezentralisierung des Kartellrechtsvollzugs entsteht auch das vermehrte Bedürfnis, eine einheitliche Rechtsanwendung durch die beteiligten Akteure sicherzustellen.
Das vorliegende Werk untersucht die gemeinschaftsrechtlichen Mechanismen, die der Sicherung einer einheitlichen Anwendungspraxis zwischen den Zivilgerichtsbarkeiten der einzelnen Mitgliedstaaten und der Vermeidung von Entscheidungswidersprüchen zwischen den am Kartellrechtsvollzug beteiligten Akteuren im konkreten Anwendungsfall dienen.
Der Autor ist als Rechtsanwalt im Bereich des Kartellrechts in einer Sozietät in Stuttgart tätig.