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reibungslosen Funktionieren des Binnenmarktes abträglich sind.301 Neben der Gewährleistung unverfälschter Wettbewerbsbedingungen können dabei auch Gemeinwohlinteressen außerhalb des Freihandels berücksichtigt werden.302 Prinzipiell kann
jeder Regelungsgegenstand unter die Kompetenznorm des Art. 95 EGV subsumiert
werden,303 auch die Medien.304
8.3.2. Vielfaltsicherung als Angleichungsmaßnahme
Wegen des eingangs erwähnten Lex-Specialis-Grundsatzes ist ein Rückgriff auf Art.
95 EGV nur dann erforderlich, wenn der EGV keine speziellere Kompetenzzuweisung für eine bestimmte Materie kennt.305 Da konzentrationsrechtliche Maßnahmen in erster Linie auf die Niederlassungsfreiheit der Medienunternehmen und
deren Dienstleistungsfreiheit im Bereich der audiovisuellen Medien abzielen, ist das
Heranziehen von Art. 95 Abs. 1 S. 2 EGV streng genommen nur im Bereich der
Warenverkehrsfreiheit erforderlich, also hauptsächlich beim Vertrieb körperlicher
Printmedien.306 Dessen ungeachtet hat sich die Europäische Kommission beim Vorschlag einer Richtlinie über den Zugang zu Medieneigentum von 1997 ausdrücklich
auch auf Art. 95 EGV berufen.307 Dies ist jedoch insofern entbehrlich, als sich beispielsweise Marktanteilsbeschränkungen im Bereich der Medien nach der Schwerpunktlehre der Rechtsprechung besser auf Art. 47 Abs. 2 EGV i. V. m. Art. 55 EGV
stützen lassen.308
8.4. Qualitative Anforderungen an Koordinierungs- bzw. Angleichungsmaßnahmen
der Gemeinschaft
Da ein zu großzügiger Umgang mit den Koordinierungs- bzw. Angleichungskompetenzen die Gefahr einer uferlosen Allzuständigkeit der Gemeinschaft in sich
birgt,309 hat der EuGH qualitative Einschränkungen entwickelt, die dem Prinzip der
begrenzten Einzelermächtigung Rechnung tragen sollen. Sie gelten gleichermaßen
301 Siehe Fischer, in: Lenz/Borchardt, EUV/EGV, Art. 95 EGV Rdnr. 4.
302 Tietje, in: Grabitz/Hilf, Recht der Europäischen Union, Art. 95 EGV Rdnr. 17.
303 Fischer, in: Lenz/Borchardt, EUV/EGV, Art. 95 EGV Rdnr. 4.
304 Iliopoulos-Strangas, in: Stern/Prütting, Kultur- und Medienpolitik im Kontext des Entwurfs
einer europäischen Verfassung, 29 (88).
305 Ein Überblick findet sich beispielsweise bei Pipkorn/Bardenhewer-Rating/Taschner, in: v. d.
Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 95 Rdnr. 14.
306 Schwarze, ZUM 2002, 89 (90); Schüll, Schutz der Meinungsvielfalt im Rundfunkbereich
durch das europäische Recht, S. 137 ff.
307 Hierzu bereits Ress/Bröhmer, Europäische Gemeinschaft und Medienvielfalt, S. 28.
308 Kritisch Ress/Bröhmer, Europäische Gemeinschaft und Meinungsvielfalt, S. 30 f.
309 Hierzu insb. Ress/Bröhmer, Europäische Gemeinschaft und Meinungsvielfalt, S. 34.
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References
Zusammenfassung
Meinungsvielfalt ist für die Demokratie in der Informationsgesellschaft unverzichtbar. Bedroht wird sie durch eine zunehmende Uniformität der Berichterstattung und Medienkonzentration. Zwar haben sich die meisten Mitgliedstaaten der EU zur Schaffung antikonzentrationsrechtlicher Bestimmungen entschieden, diese beschränken sich aber auf die Erfassung nationaler Meinungsmacht. Grenzüberschreitendes Engagement von Medienkonzernen wird regulatorisch kaum berücksichtigt.
Es stellt sich daher die Frage, ob und in welcher Weise die Europäische Gemeinschaft Pluralismussicherung betreiben soll. Dabei geht es zunächst darum, welchen Gefahren die Meinungsvielfalt in der Informationsgesellschaft ausgesetzt ist und welche Mediensektoren von einer Pluralismussicherung erfasst sein sollten. Weitere Schwerpunkte liegen auf der europarechtlichen Legitimation der Materie sowie auf der kontrovers diskutierten Frage, ob sich die Gemeinschaft auf ihre Koordinierungsbefugnis aus Art. 47 Abs. 2 und Art. 55 EGV berufen kann oder Kompetenzausübungsschranken entgegenstehen. Die Publikation richtet sich an Medien- und Europarechtler sowie Kommunikations- und Politikwissenschaftler.