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sozialistischen Partei gehört, verhindere Maastricht gerade ein unabhängiges politisches Europa, da die vorgesehene GASP zur Lähmung der Außenpolitik und zur
Anbindung an die Nato führe. Damit werde „der Aufbau einer wirklich europäischen
strategischen Autonomie“ unmöglich gemacht (Jean-Pierre Chevènement, 1061). Im
Unterschied zur Fouchet-Debatte weisen selbst die Kommunisten den Vorwurf der
Europhobie nun ausdrücklich zurück (Jacques Brunhes, 937) und sprechen sich für
eine Fortsetzung der Konstruktion Europas aus: „Wir teilen diese Ambition, Europa
zu bauen, ohne Frankreich zu zerstören“ (Georges Hage, 879).
Wie schon in der Fouchet-Debatte erweisen sich die häufig anzutreffenden aktiven Formulierungen wie „faire l’Europe“ als ein Indiz für die Initiativfunktion, die
Frankreich bei der Realisierung eines politischen Europas übernehmen soll. Explizit
formuliert es Jean-Marie Caro (UDF): „Wir haben […] die fundamentale Rolle, die
Kohäsion eines sich im Aufbau befindlichen Europas zu sichern, das nicht mehr nur
wirtschaftlicher Natur sein kann“ (849). Wiederholt wird auf die Verdienste Frankreichs im europäischen Integrationsprozess hingewiesen, der, wie es Jean-Marie
Daillet (UDF) ausdrückt, „französische Eltern“ habe (904). Seiner Motorrolle habe
Frankreich auch heute gerecht zu werden: „Frankreich war schon immer an der
Spitze der Konstruktion Europas, es muss nun diesen Willen und diese Mobilisierung bekräftigen“ (Gaston Rimarnix, PS, 977). Selbst ein eingefleischter Maastricht-
Gegner wie Seguin spricht vom „Willen, ein anderes Europa zu konstruieren“, und
fordert eine „nationale Wiederbelebung (redressement national)“, damit Frankreich
der „Motor Europas werden kann“ (876).
Mit Blick auf die Kommunisten, die ihre integrationsfeindliche Haltung aufgegeben haben, hat die Norm „Aktive Befürwortung des Aufbaus eines politischen Europas“ im Vergleich zur Fouchet-Fallstudie sogar noch an Kommunalität gewonnen;
sie wird von allen Parteien in der Nationalversammlung sowie von Gegnern und
Anhängern des Vertrages von Maastricht geteilt. Damit ist ein den Integrationsprozess gefährdendes außenpolitisches Handeln nicht möglich.
4.2.2 Das Identitätselement „Pro-aktiver Universalismus“
Angesichts des von Wagner und teilweise auch in der Parlamentsdebatte über die
Fouchet-Pläne beobachteten Phänomens (Wagner 2005: 70), dass allgemein geteilte
Wirklichkeitskonstruktionen – in diesem Fall die Identitätskonzeption – häufig nicht
eigens genannt werden, mag auf den ersten Blick überraschen, mit welcher Deutlichkeit das Identitätselement „Pro-aktiver Universalismus“ als argumentativer Ausgangspunkt für die konstatierte Norm zum Vorschein kommt. Es sind aber vor allem
Maastricht-Befürworter, welche ihr Plädoyer für den Vertrag aufgrund der Fortschritte in der politischen Integration identitär absichern und so dem harten Widerstand gerade national gesinnter Abgeordneter zu begegnen suchen. Mit dem Rückgriff auf das kollektive geteilte, das Selbstbild der Nation bestimmende Narrativ
„Pro-aktiver Universalismus“ kann die Zustimmung zum Vertrag zur patriotischen
Pflicht erhoben werden. In der Maastricht-Debatte bestätigen sich die in der Fallstudie zu den Fouchet-Plänen konstatierten Argumentationsmuster: Der Einigungspro-
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zess hin zu einem politischen Europa ist sowohl Teil der französischen historischen
Mission und dient zugleich als Mittel, um Frankreichs Werte in Europa und in der
Welt zu verbreiten. Mit einem politisch integrierten Europa bietet Frankreich der
Welt ein universales Modell an, so wie es die Revolutionäre von 1789 getan haben.
In ihre Tradition stellt sich etwa Alain Lamassoure (UDF) in der Schlusspassage
seiner Rede: „Wir sind dabei einen Hafen des Friedens zu bauen, ein Modell ansteckender Brüderlichkeit, das Frankreich der Welt vorschlägt. Alle, die sich daran
beteiligen, tun es für ihre Ehre und für Frankreichs Ruhm“ (928). Wie damals geht
es um die Verbreitung von Brüderlichkeit, die der spätere Europaminister mit dem
starken Attribut „contagieux“ („ansteckend wie eine unaufhaltsame Epidemie“),
charakterisiert. Der Begriff „Brüderlichkeit“ ist dabei wiederum als Symbol für die
originär französischen (und in diesem Sinne universellen) Werte zu interpretieren.
Entsprechend stellt Lamassoure fest, dass Europa immer „französisch inspiriert“
bleiben werde (928). Diese Ansicht teilt auch sein Fraktionskollege Patrick Devedjian:
„In spiritueller Hinsicht ist Europa seit der Revolution französisch. Unsere Vorstellungen von
Demokratie und Menschenrechten wurden schon vor langer Zeit von unseren Partnern in der
Europäischen Gemeinschaft übernommen. Deswegen sollten wir die ersten sein, die sich engagieren“ (973).
Über den Multiplikator eines politischen Europas kann Frankreich getreu seiner
globalen Mission in der Welt wirken: „Ich sage ja [zum Vertrag von Maastricht],
weil es Zeit ist, dass Frankreich mittels Europa mit seinem ganzen Gewicht auf die
großen internationalen Fragen Einfluss nimmt“ (Pierre Lequiller, UDF, 1069). Sein
Fraktionskollege Jean Marie Daillet berichtet von einem Minister aus Lateinamerika, der ihm kürzlich versichert habe, dass ihn das europäische Beispiel sehr inspiriert habe, wie auch in Lateinamerika regionale Probleme in Zukunft gelöst werden
könnten. Gleichzeitig macht Daillet deutlich, dass das Modell der europäischen
Integration das Verdienst Frankreichs ist: „Ich bin stolz auf ein Land, das der Welt
hinsichtlich einer neuen internationalen Ordnung die fundamentale Innovation des
Jahrhunderts gebracht hat“ (905). Mit der missionarischen Formulierung „apporter
au monde“ hebt Daillet die aktiv französische Rolle hervor. Außerdem entscheide
Frankreich nicht nur für sich allein: „Wenn Frankreich heute das Schicksal zurückweisen würde, das sich ihm anbietet, müssten wir befürchten, dass sich die Geschichte davon nie mehr erholt“ (Patrick Devedjian, UDF, 973).
Auf die historische, über Frankreich selbst hinausgehende Bedeutung der europäischen Integration bezieht sich auch der sozialistische Premierminister Bérégovoy,
wenn er von einem „Rendezvous mit Europa, einem Rendezvous mit der Geschichte“ spricht, das Frankreich nicht verpassen dürfe (840). Dass der Kommunist
Jacques Brunhes (938) und der UDF-Abgeordnete Alain Lamassoure (926) nahezu
wortgleich die „historische Notwendigkeit“ der Konstruktion Europas akzentuieren,
zeigt, wie über alle politischen Lager hinweg aus dem nationalen Selbstverständnis
heraus, eine schicksalhafte Mission in der Weltgeschichte erfüllen zu müssen, eine
aktive Rolle Frankreichs im Integrationsprozess abgeleitet wird. Genauso wie Frankreich vor 200 Jahren die Republik erfunden habe, erfinde es jetzt, zusammen mit
seinen Partnern, die europäische Gemeinschaft (Alain Lamassoure, 926). Der Be-
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richterstatter des Auswärtigen Ausschusses, Jean-Marie Caro (UDF), verwendet die
bereits bei de Gaulle beobachtete Formulierung „accomplir la mission de la France“
und fordert mit Verweis auf Robert Schuman, der die Einigung Europas als unerlässlich für den Weltfrieden erachtet habe: „Ungeachtet der geopolitischen Veränderungen, steht Frankreich, heute mehr denn je, vor der gleichen Mission, die es zu
erfüllen gilt: […] An der Spitze derjenigen zu sein, die Europa bauen“ (849). Nach
Ansicht Charles Millon (UDF) hat Frankreich gerade für die benachteiligten Regionen der Erde eine Vorbild- und Führungsfunktion zu erfüllen: „Die Länder des Südens und des Ostens schauen auf uns und erwarten von uns, uns Franzosen, starke
Gesten. Sie wünschen sich, dass wir weiterhin der Motor der Europäischen Gemeinschaft sind und weiterhin unsere Werte vertreten“ (881). Auch hier wird deutlich:
Frankreich ist der Akteur, an den die Erwartungen der Welt gerichtet sind. Millon
appelliert direkt an den Maastricht-Gegner Philippe Seguin um der „exception
française“ willen die Konstruktion Europas nicht zu gefährden:
„Ich wünsche, wie Du, dass Frankreich weiterhin seine Mission wahrnehmen kann, dass es
weiterhin leuchten kann, dass es sich den Ländern des Südens und des Osten zuwenden kann.
[…] Sie [Schuman, de Gaulle, Giscard d’Estaing, Pompidou und alle französischen Staatsmänner bis heute] hatten, sie haben die gleichen Werte wie wir! Sie haben die gleiche Liebe
zur französischen Nation wie wir! Aber sie haben verstanden, […] dass eine Gemeinschaft
notwendig ist, um unsere Ziele in der heutigen Welt zu verfolgen“ (880).
Dass sich gerade in den Redebeiträgen pro-Maastricht gesinnter UDF-
Abgeordneter die argumentative Verbindung der Norm mit dem Identitätselement
und damit zu einer kollektiv geteilten Wirklichkeitskonstruktion besonders explizit
zeigt, überrascht nicht. Da sie als Teil der Opposition in einer innenpolitisch angespannten Lage einem von der sozialistischen Regierung ausgehandelten Vertrag
zustimmen, stehen sie unter besonders großem Rechtfertigungsdruck. Aber auch die
Vertreter der Sozialistischen Partei verknüpfen französischen Universalismus und
europäische Integration: „Die Zukunft der ‚exception française‘ und die Zukunft der
sozialen Errungenschaften funktionieren mittels einer europäischen Konzeption.
[…] Lasst uns verstehen, dass heute, für die Kräfte des Fortschritts, für die Werte,
welche die Republik repräsentiert, Europa eine Notwendigkeit ist“ (Julien Dray,
979). Noch ausführlicher stellt diesen Zusammenhang Europaministerin Elisabeth
Gigou am Ende ihrer Rede her:
„Wir müssen verstehen, dass unser Land nichts in der Konstruktion Europas zu verlieren, sondern alles zu gewinnen hat, indem es sich entschlossen in einer Bewegung engagiert, der es
von Anfang an seinen Stempel aufgedrückt hat und wo sich gerade die ‚exception française‘
seit 45 Jahren manifestiert und sich weiterhin manifestieren wird. […] Über Europa gewinnt
Frankreich eine neue Dimension, um die Entfaltung der Werte, die es verteidigt, und der Ideale, von denen es seit jeher inspiriert wird, zu sichern. […] Ich wiederhole mit André Malraux,
dass unser Land nie so groß ist, als wenn es zu allen Menschen spricht, dass Frankreich nie so
groß ist, als wenn es Projekte und Werte vertritt, die über seine Grenzen hinausgehen. Es hat
die Möglichkeit, im Herzen der Zwölf zu sein!“ (943).
Dabei ist zu beachten, dass es sich hier nicht um einen europäisierten Universalismus handelt, sondern dass sich Frankreichs republikanischer Universalismus der
europäischen Integration bedient. Über den Einigungsprozess werden die französischen Werte in Europa verbreitet und ein politisch geeintes Europa kann als Träger
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und Verstärker dieser Werte wirken. Es ist ein französischer Universalismus, der als
Identitätselement die Stärke und hohe Kommunalität der Norm „Aktive Befürwortung des Aufbaus eines politischen Europas“ ermöglicht. Diese Diskursstruktur
zeigt, dass sich die aus einer realistischen Perspektive vorstellbare Reaktion Frankreichs auf 1989/90, den Einigungsprozess zu stoppen und den deutschen Machtzuwachs über eine klassische Gegenmachtpolitik auszubalancieren, außerhalb des
identitär-normativen Handlungsspielraums befand. Ein Abbruch des Integrationsprozesses wäre dem identitätsstiftenden französischen Universalismus zuwider gelaufen, der sich in den Willen zur politischen Einigung übersetzt. Das erste in der
Verhaltensanalyse identifizierte Kontinuitätsrätsel ist damit gelöst.
4.3 Die Verfassungsdebatte
In der dritten Fallstudie, der Debatte über den Europäischen Verfassungsvertrag
(EVV), bleibt die Norm, die politische Integration Europas voranzutreiben, stabil
und weist ein äußerst hohes Maß an Kommunalität auf.
Selbst wenn die Entscheidung über das Ratifikationsgesetz mittels Referendum
stattfinden sollte, wurde der Verfassungsvertrag – einer seit 1995 geltenden Bestimmung folgend, wonach eine dem Volk vorgelegte Frage vorab in beiden Kammern der Legislative behandelt werden muss – auch in der Nationalversammlung
diskutiert.28 Dort verfügten die Neogaullisten, die sich anlässlich der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2002 in der bürgerlichen Sammelbewegung UMP
(anfangs „Union pour une Majorité Présidentielle“, ab Herbst 2002 „Union pour un
Mouvement Populaire“) neu formiert hatten, über eine absolute Mehrheit. Wichtigste Oppositionspartei waren die Sozialisten (PS), die etwas über ein Viertel der
Stimmen erreicht hatten. Die kommunistische Partei (PCF) sowie die Zentristen,
welche sich als „Nouvelle UDF“ unter der Führung von François Bayrou dem Zusammenschluss mit der UMP verweigert hatten, waren mit jeweils knapp fünf Prozent der Stimmen in die Nationalversammlung eingezogen.
4.3.1 Die außenpolitische Norm „Aktive Befürwortung des Aufbaus eines politischen Europas“
Das Voranschreiten im Aufbau eines politischen Europas ist eines der wichtigsten
Argumente der Befürworter des Vertrages. So unterstreicht Premierminister Jean-
Pierre Raffarin in seiner Regierungserklärung, dass der Verfassungsvertrag, insbesondere durch die Schaffung eines europäischen Außenministers und den Ausbau
der gemeinsamen Verteidigung, die politische bzw. sicherheitspolitische Dimension
der EU stärke: „Die Franzosen wollen ein Europa, das auf der Weltbühne gehört und
28 Die Mitschrift der Debatte vom 5. April 2005 ist im „Journal Officiel de la République
française – Assemblée nationale“ (Nr. 32 vom 6.3.2005) abgedruckt.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Ist Frankreich Motor oder Bremse der europäischen Einigung? Die vorliegende Studie arbeitet anhand dreier Vertragsverhandlungen (Fouchet-Pläne, Vertrag von Maastricht, Europäische Verfassung) die französische Position zur politischen Integration Europas systematisch heraus. Über eine Analyse des Diskurses der politischen Elite werden die Vorstellungen von der Identität Frankreichs ermittelt, die den Entwicklungslinien und Widersprüchen der französischen Europapolitik zugrunde liegen. Heute dominiert eine Identitätskonzeption, bei der die Nation vom Staat entkoppelt und zugleich mit einem unvermindert französischen Universalismus ausgestattet ist. Daraus werden Prognosen abgeleitet und anhand der Europapolitik Sarkozys überprüft.