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französischen Nation wird die Pflicht auferlegt, ihre universellen Werte weltweit zu
verbreiten.
Der Begriff „Nationalstaat“ wird in der Regel als „territoriale Übereinstimmung
von Nation und Politische[m] System“ definiert (Nohlen/Schulze 2005: 601). Als
„Nationalstaatsbewusstsein“ soll dementsprechend eine Identitätskonzeption bezeichnet werden, in welcher Staat und Nation eine unauflösliche Verbindung eingehen und immer zusammen gedacht werden: „Wir sind eine Nation plus ein Staat!“ 17
3.5 Die Erhebungsmethode: „Reading what?“
Auf die Frage, welche und wie viele Texte für eine Diskursanalyse gelesen werden
sollten, lautet Wævers augenzwinkernde Antwort: „Any text, as long as you read for
long enough“ (Wæver 2005: 40). Wenn diskursive Strukturen im politischen Raum
eine bedeutende Rolle spielten, müssten sie sich bei ausreichender Abstrahierung
prinzipiell in jedem einschlägigen Text finden lassen. Aus einer theoretischen Perspektive mag dieses Argument überzeugen. Ein nicht limitierter Textkorpus gefährdet jedoch die Nachvollziehbarkeit des Forschungsprozesses und lädt zum Vorwurf
des „anything goes“ geradezu ein, dass dann jedes Verhalten mit Bezug zu irgendeiner irgendwo gefundenen Norm erklärt werden könne (siehe Kowert/Legro 1996:
487).
Solcher Kritik setzt sich beispielsweise die Studie von Thomas Risse et al. (1999)
aus, in welcher der Einfluss von Identitätskonzeptionen auf die Haltung zur Euro-
Einführung der politischen Eliten in Deutschland, Großbritannien und Frankreich
untersucht wird. Als Indikatoren für die Identitätskonzeption der politischen Elite
werden dort „elite statements“ über die Vorstellungen vom Nationalstaat und seinem
Verhältnis zu Europa und zur Besonderheit der eigenen Nation, über „concepts of
‚others’“ und über „visions of political order“ herangezogen (Risse et al. 1999: 156).
Auf eine weitere Einschränkung und Charakterisierung des Textmaterials oder auf
eine substanzielle Begründung für die Selektion der zitierten Belege wird verzichtet.
So führen Risse et al. eine Aussage Mitterrands, in der Europa als „unser Vaterland“
bezeichnet wird, als zentralen Nachweis für die Europäisierung der französischen
Nationalstaatsidentiät ins Feld (Risse et al. 1999: 171). Allerdings handelt es sich bei
der Quelle nicht um einen Teil des politischen Diskurses im engeren Sinne, sondern
um eine Bemerkung in einer sehr feuilletonistisch und mehr autobiografisch geprägten ausführlichen Einleitung Mitterrands für einen Sammelband seiner Reden.18
17 Für die nähere inhaltliche Bestimmung dieser Analysekategorien, die sich aus der Diskursanalyse ergibt, siehe die diesbezügliche Zusammenfassung der Ergebnisse in Kapitel 6.1.
18 Auch Marcusssen et al. (2001: 107) und Larsen (1997: 101) messen in ihrer Argumentation
diesem Zitat eine wesentliche Bedeutung bei. Dass die Aussage Mitterrands, selbst wenn sie
trotz ihres Kontextes für die Analyse herangezogen wird, die Europäisierung der französischen Nationalstaatsidentität nicht belegen kann, wird in der Auseinandersetzung mit dem
Forschungsstand in Kapitel 6.2 gezeigt.
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Für ein systematischeres Vorgehen entscheidet sich hingegen Rainer Baumann in
seiner Studie über den Wandel des deutschen Multilateralismus nach der Wiedervereinigung, um sich damit dem Verdacht einer beliebigen Textauswahl, welche die
eigenen Hypothesen begünstigt, zu entziehen (Baumann 2005: 108 f.). Von vornherein beschränkt er sich auf die im Bulletin der Bundesregierung veröffentlichten
Reden, nimmt sich jeweils zwei Jahrgänge vor und nach der Wiedervereinigung
heraus und selektiert dann diejenigen Reden, welche sich mit multilateraler Kooperation befassen. Zwar ermöglicht Baumanns begrenzter Datensatz eine relativ rasche
Überprüfung seiner Ergebnisse; die vor Beginn des Forschungsprozesses getroffene,
sehr strikte Eingrenzung der zu untersuchenden Texte beeinträchtigt allerdings die
Aussagekraft seiner Studie. Hätte Baumann seine Auswahl qualitativ ergänzt und
beispielsweise wichtige außenpolitische Grundsatzreden auch aus anderen Jahren
hinzugezogen, wären die von ihm festgestellten „Tendenzergebnisse“ sicher noch
klarer zum Ausdruck gekommen und hätten eine mutigere Schlussfolgerung erlaubt
(Baumann 2005: 120). Es gilt also ein Analyseraster zu entwickeln, welches einerseits das Kriterium der Nachvollziehbarkeit erfüllt und andererseits durch ausreichend Freiraum brauchbare Aussagen ermöglicht.
Wie bereits im Theorieteil angemerkt, beschränkt sich die Analyse auf den Diskurs der politischen Elite. Es sind die dort dominanten Identitätskonzeptionen und
Normen, die das außenpolitische Verhalten eines Landes prägen, dort wird der
Handlungsspielraum möglicher Politikoptionen diskursiv konstituiert. Darauf aufbauend wird der in der Diskursanalyse zu untersuchende Datensatz in drei Schritten
weiter eingeschränkt und anschließend moderat ergänzt bzw. eingeschränkt. Eine
erste Reduktion stellt das Vorgehen mit drei Fallstudien dar, da dadurch ausschließlich Äußerungen aus den Jahren 1962, 1992 sowie von 2002 bis 2005 herangezogen
werden. Zweitens ist der für die Diskursanalyse in den Blick zu nehmende Personenkreis zu begrenzen. Auch wenn sich die relevante „foreign policy community“
neben Politikern auch aus Beratern, Wissenschaftlern und Journalisten zusammensetzt (siehe Krotz 2002: 6), sollen hier zur besseren Überschaubarkeit des Datenmaterials und aus forschungspragmatischen Gründen ausschließlich die Aussagen von
Regierungs- und Parlamentsmitgliedern berücksichtigt werden. Von ihnen ist zudem
eine möglichst deutliche Artikulation der von ihnen vertretenen Identitätskonzeption
zu erwarten (siehe Banchoff 1999: 269). Auch Wæver weist darauf hin, dass es beim
‚Lesen‘ von Politikern ergiebiger ist, sich für den Sprecher schwierige Situationen
wie hitzige Parlamentsdebatten anzuschauen als „negotiated, blurred statements like
party platforms” (Wæver 2005: 40).19 Innerhalb dieser Personengruppe konzentriert
sich die Diskursanalyse, in einem dritten Auswahlschritt, auf die Debatten in der
französischen Nationalversammlung. Zum einen liegt dadurch ein auf nachvollzieh-
19 Sich auf die Aussagen einzelner Politiker anstatt auf Programme von Parteien zu stützen, ist
gerade für Frankreich angebracht, wo Parteien eine verhältnismäßig geringe politische Rolle
spielen und die Parteienlandschaft durch Zersplitterung und Instabilität gekennzeichnet ist
(siehe dazu Schild/Uterwedde 2006: 38-42). Zur besseren Orientierung werden bei der Präsentation der Diskursanalyse (Kapitel 4 und 5) die Aussagen der Abgeordneten nichtsdestotrotz nach deren Zugehörigkeit zu politischen Lagern geordnet.
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bare Art und Weise eingegrenzter, öffentlich zugänglicher Textkorpus vor, zum
anderen wird somit vermieden, die Identitätskonzeption nur einer politischen Strömung oder nur einer unter der besonderen Situation der Regierungsverantwortung
stehenden Gruppierung zu untersuchen. 20
Allerdings weist Wagner, der die Diskussionen über die GASP im Bundestag und
im britischen Unterhaus vergleicht, zu Recht auf das Problem hin, dass in Parlamentsdebatten „allgemein geteilte Wirklichkeitskonstruktionen häufig nicht eigens
genannt werden. Gerade solche Auffassungen, die innerhalb einer Gruppe konsensual sind, werden häufig vorausgesetzt und nicht mehr eigens explizit thematisiert“
(Wagner 2005: 70). Dieses Phänomen zeigt sich teilweise auch in vorliegender Studie bei den Identitätskonzeptionen in der Fouchet- und der Verfassungsdebatte in der
Nationalversammlung, wobei letztere zudem verhältnismäßig kurz ist. Aus diesem
Grund ist hier der Analyserahmen moderat zu erweitern, indem für die beiden Fälle
jeweils drei Reden der im Parlament nicht vertretenen Exekutive – vom Staatspräsidenten und Außenminister – mit herangezogen werden. Bei deren Auswahl wird auf
einen möglichst unmittelbaren inhaltlichen oder zeitlichen Bezug zu den Parlamentsdebatten bzw. Fallstudien geachtet. Da sich diese Reden an eine breitere Öffentlichkeit richten, die von der Richtigkeit des Regierungshandelns überzeugt werden soll, ist davon auszugehen, dass stärker auf dominante Identitätselemente
rekurriert wird als im Parlament, wo die Norm bereits weitgehende Zustimmung
erfährt und damit nicht mehr in diesem Maße begründungsbedürftig ist.
Im Gegensatz dazu ist mit Blick auf eine möglichst überschaubare und damit
nachvollziehbare Textmenge die viertägige Maastricht-Debatte in der Nationalversammlung einzugrenzen. Die Diskursanalyse beschränkt sich auf die Generaldebatte
sowie die Diskussion um den Gesetzeszusatz zur staatlichen Souveränität, die den
Großteil der Auseinandersetzungen um den Maastricht-Vertrag in der Nationalversammlung ausmachen. Die Identitätskonzeption tritt dort deutlich hervor. Im letzten
Teil der Debatte werden sehr spezielle Anträge, beispielsweise zu den Auswirkungen des Vertrages von Maastricht auf das Verhältnis von Frankreich zu seinen Überseegebieten, thematisiert. Die Entdeckung neuer Identitätselemente, Argumentationsmuster oder außenpolitischer Normen, die für die Forschungsfrage dieser Studie
Relevanz besitzen, ist hier nicht zu erwarten.
In Abbildung 4 wird das der Diskursanalyse zugrunde liegende Textmaterial im
Überblick vorgestellt.
20 Parlamentsdebatten als empirisches Material finden in der diskurs- bzw. textanalytischen
Außenpolitikforschung insgesamt prominente Verwendung. Siehe neben den bereits angeführten Autoren auch Müller-Härlin 2008; Schörnig 2007; Hülsse 2003a, 2003b; Rittberger
2001; Diez 1999. Der Nachteil einer solch textorientierten Materialauswahl ist freilich, dass
andere, für den politischen Diskurs gleichfalls maßgebliche diskursive Praktiken – wie etwa
symbolisches Handeln und visuelle Repräsentationen – vernachlässigt werden. Der hier analysierte textbasierte Diskurs kann jedoch als repräsentativer Ausschnitt aus einem umfassenderen Diskurs verstanden werden (siehe Diez 1999: 44).
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Abbildung 4: Der Datensatz der Diskursanalyse
Kerndatensatz:
Parlamentsdebatten
Ausweitung/Modifikation:
Öffentliche Reden der Exekutive
Fouchet-Debatte Debatten in der Nationalversammlung am 26.4.1962
und 13.6.1962
Zusätzlich für Identitätselemente
und Argumentationsmuster:
Charles de Gaulle:
- Pressekonferenz im Elysée am
15.5.1962
- Fernseh- und Radioansprache
am 8.6.1962
- Rede anlässlich der Verabschiedung Adenauers in Reims
am 8.7.1962
Maastricht-Debatte Debatten in der Nationalversammlung am 5.-7. und
12.5.1992
Beschränkung auf die Generaldebatte sowie auf die Diskussion
um den Gesetzeszusatz zur staatlichen Souveränität
Verfassungsdebatte Debatte in der Nationalversammlung am 5.4.2005
Zusätzlich für Identitätselemente
und Argumentationsmuster:
Jacques Chirac:
- Rede vor der deutschfranzösischen Handelskammer
in Paris am 26.4.2005
- Fernsehansprache am
26.5.2005
Dominique de Villepin:
- Rede an der „Ecole superieure
de commerce“ in Marseille am
2.10.2002
Um die diskursiven Entwicklungslinien der Identitätskonzeption und Normen
über die Fallstudien hinweg in ihrer zeitlichen Dimension möglichst deutlich herauszuarbeiten, ist die Diskursanalyse gemäß dem Raster der Verhaltensanalyse geordnet. Das bedeutet, dass in Kapitel 4 die Normen und Identitätselemente nachgezeichnet werden, welche die allgemeine Haltung Frankreichs zur politischen
Integration (Verhaltenskategorie 1) konditionieren, während in Kapitel 5 die der
französischen Position zur Integrationsform (Verhaltenskategorie 2) zugrunde liegenden sozialen Wirklichkeitskonstruktionen zu ermitteln sind. In beiden Kapiteln
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wird entsprechend des theoretischen und methodischen Modells zuerst die außenpolitische Norm dargestellt und ihre Kommunalität erfasst. Anschließend erfolgt die
Wiedergabe des relevanten Identitätselements und seiner argumentativen Verbindung zur Norm.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Ist Frankreich Motor oder Bremse der europäischen Einigung? Die vorliegende Studie arbeitet anhand dreier Vertragsverhandlungen (Fouchet-Pläne, Vertrag von Maastricht, Europäische Verfassung) die französische Position zur politischen Integration Europas systematisch heraus. Über eine Analyse des Diskurses der politischen Elite werden die Vorstellungen von der Identität Frankreichs ermittelt, die den Entwicklungslinien und Widersprüchen der französischen Europapolitik zugrunde liegen. Heute dominiert eine Identitätskonzeption, bei der die Nation vom Staat entkoppelt und zugleich mit einem unvermindert französischen Universalismus ausgestattet ist. Daraus werden Prognosen abgeleitet und anhand der Europapolitik Sarkozys überprüft.