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strebten politischen Europas, die es bereits in den Verhandlungen über die Fouchet-
Pläne eingenommen hatte, in Maastricht beibehalten hat. Auf die geopolitischen
Veränderungen und den deutschen Machtzuwachs konnte nicht mit einer supranationalen politischen Integration reagiert werden. Der Grund für die herausragende
Stärke der Norm „Bewahrung der staatlichen Souveränität“ ist das Identitätselement
„Nationalstaatsbewusstsein“. Sowohl Befürworter als auch Gegner des Vertrages
greifen in ihrer Argumentation auf diese Wirklichkeitskonstruktion zurück und versuchen damit ihre jeweilige Interpretation der Kompatibilität bzw. Inkompatibilität
des Vertrages von Maastricht mit dem französischen Selbstverständnis zu untermauern.
5.2.2 Das Identitätselement „Nationalstaatsbewusstsein“
„Wenn wir die Souveränität unseres (französischen) Staates abgeben“, so könnte das
die Maastricht-Debatte beherrschende Argumentationsmuster zusammengefasst
werden, „existieren wir nicht mehr als (französische) Nation“. Die Unteilbarkeit und
Unveräußerlichkeit von Souveränität ist das große Mantra, das sich wie ein roter
Faden durch die ganze Diskussion in der Nationalversammlung zieht und auf das
sich Befürworter wie Gegner des Maastrichter Vertrages berufen, um ihren Willen
zur Bewahrung staatlicher Souveränität zu begründen. Gleich zu Beginn der Debatte
proklamiert Michel Vauzelle, der sich dabei auf seine Autorität als Justizminister
beruft:
„Die Souveränität, meine Damen und Herren Abgeordnete; wir müssen nicht bis zu Jean Bodin, bis zu Cardin Le Bret, bis zu Botero oder ganz einfach zu Rousseau zurückgehen, um sie
zu verstehen. Die Souveränität Frankreichs ist unveräußerlich, unverwirkbar, unübertragbar
und unteilbar (‚inaliénable, imprescriptible, incessible et indivisible’)“ (845).
An späterer Stelle verweist der Sozialist auf Staatspräsident François Mitterrand,
nach dessen Meinung nicht von Souveränitätstransfer gesprochen werden dürfe.
Dies sei eine ungeeignete Formulierung, da man nur Kompetenzen, nicht aber Souveränität abgegeben könne (Michel Vauzelle, 989). Der RPR-Abgeordneten Pierre
Mazeaud resümiert nicht zu Unrecht: „Wir alle auf diesen Bänken sind uns einig,
dass Souveränität keinesfalls übertragen werden kann, dass sie unveräußerlich und
unverwirkbar ist“ (993). Bezugspunkt ist dabei wiederholt Artikel 3 der Menschenund Bürgerrechtserklärung von 1789, wonach das Prinzip der Souveränität ihrem
Wesen nach in der Nation ruhe („Le principe de toute souveraineté réside essentiellement dans la nation“; Jean-Louis Debré, RPR, 978; Alain Peyferitte, RPR, 1013;
Muguette Jacquint, PCF, 1062). Vor allem von Maastricht-Gegnern wie Philippe
Seguin (RPR) wird der Zusammenhang von staatlicher Souveränität und Nation
immer wieder ausdrücklich herausgestellt: „Nation, Staat, Republik: Das sind die
Mittel, mit denen ein Europa konstruiert werden kann, das mit der Idee vereinbar ist,
die sich Frankreich seit jeher von sich selbst macht“ (877). Folglich würde ein föderales Europa „die Seele Frankreichs zerstören“ (869). Sehr deutlich kommen das
Identitätselement „Nationalstaatsbewusstsein“ und seine Konsequenzen für die Eu-
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ropapolitik auch in den Redebeiträgen kommunistischer Abgeordneter zum Vorschein:
„Frankreich kann keine andere Souveränität als die der Nation kennen, deren alleiniger Inhaber das französische Volk ist. Im Rahmen der EWG impliziert dies die Ablehnung jeglicher
supranationalen Exekutive, die Regel der Einstimmigkeit und das Infragestellen der Projekte,
welche Frankreich Attribute seiner Souveränität entziehen“ (Gilbert Millet, 1055).
Gilbert Millet zufolge wird die nationale Identität erst durch die nationale Souveränität konstituiert (902). Es sei „juristisch unmöglich“, ein Kapitel über die Europäische Union, so wie sie in Maastricht konzipiert wird, in die Verfassung einzuschreiben, ohne gleichzeitig die nationale Souveränität zu verleugnen (1061). Seine
Fraktionskollegin Muguette Jacquint erklärt dementsprechend, dass mit der Souveränität auch die Franzosen selbst verschwinden würden (1083). Für Marie-France
Stirbois vom Front National bedeutet ein supranationales Europa, wie es ihrer Ansicht nach in Maastricht angelegt ist, „mindestens theoretisch die Auslöschung der
Nation“ (960). Diese Ansicht wird auch von Abgeordneten, die sich für den Vertrag
von Maastricht einsetzen, geteilt:
„Wenn die Souveränität nicht mehr unveräußerlich ist, wenn sie auf eine europäische Ebene
transferiert werden kann, hätten wir keine Identität mehr. […] Denn die nationale Identität findet seinen Ursprung gerade in der Souveränität. Die Souveränität ist mit der Identität gleichzusetzen, da es ohne Souveränität kein Frankreich mehr geben würde“ (Pascal Clement, UDF,
1029).
Bei Jean de Lipkowski (RPR) manifestiert sich das Identitätselement „Nationalstaatsbewusstsein“, wenn er das Europäische Parlament als bloßen „Ort der nützlichen Reflexionen“ qualifiziert und ihm von vornherein jede Möglichkeit demokratischer Legitimation abspricht. Da es keine europäische Nation gäbe, könne es auch
keinen europäischen Allgemeinwillen geben. Deshalb sollten die legislativen Kompetenzen auf europäischer Ebene alleinig beim Rat verbleiben (981). Damit äußert er
die gleiche Haltung wie Couve de Murville oder Habib-Deloncle, die in der Fouchet-Debatte die Staaten als einzig mögliche demokratisch legitimierbare Autoritäten bezeichneten.
Das Identitätselement zeigt sich außerdem in der Auseinandersetzung um die
Unionsbürgerschaft. Nach Ansicht des UDF-Abgeordneten Pierre-André Wiltzer
wird damit ein Gründungsprinzip des französischen Staates in Frage gestellt, weshalb für Frankreich hier eine Ausnahmeregelung gefordert werden sollte: „In Frankreich, seit die Republik die Grundlagen unseres Systems etabliert hat, ist die Staatsbürgerschaft (‚citoyenneté’) unauflöslich mit der Nationalität (‚nationalité’) verbunden“ (969). Ein letztes deutliches Indiz für die Bedeutung, die im Maastricht-
Diskurs der Bewahrung der staatlichen Souveränität zugemessen wird, ist der Antrag
eines Großteils der bürgerlichen Opposition, im Zuge der durch Maastricht nötigen
Verfassungsänderung den Satz „Die Souveränität ist unveräußerlich“ in die französische Verfassung aufzunehmen. Bezeichnend ist nun das Argument, mit dem eine
breite Mehrheit aus Sozialisten, Kommunisten sowie einigen Zentrumspolitikern
und Gaullisten diesen Antrag zurückweist: Es handle sich hierbei um ein „suprakonstitutionelles Prinzip“, das der Verfassung übergeordnet und deshalb dort nicht ein-
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zuschreiben sei (Michel Vauzelle, PS, 1030; Jean-Pierre Brad, PCF, 1030; Jean-
Jacques Hyest, UDC, 1030; Pierre Mazeaud, RPR, 103).
Das Identitätselement „Nationalstaatsbewusstsein“ findet sich in den Redebeiträgen nahezu aller Abgeordneten. Neben Patrick Devedjian ist es nur Alain Lamassoure, der dieses Narrativ zwar nicht teilt, aber nichtsdestotrotz seine Dominanz feststellen muss: „Seit tausend Jahren ist Frankreich eine Nation plus ein Staat. Sie sind zu
einem solchen Grade verschmolzen, dass es uns in unserem genetischen Code des
Denkens unmöglich ist, sie als getrennte Einheiten zu begreifen“ (928). Lamassoure
plädiert seinerseits nun für eine „révolution communautaire“, in der die Nation von
ihrer exklusiven Beziehung mit dem Staat zu Gunsten Europas einerseits und regionaler Gebietsköperschaften andererseits abrücken soll (928). Die beiden UDF-
Politiker sind damit in der Maastricht-Debatte eine verschwindend geringe Minderheit. Das den Diskurs beherrschende Identitätselement „Nationalstaatsbewusstsein“
impliziert, dass Souveränität – zumindest substanziell – nicht an die Europäische
Union abgegeben werden darf, wenn die französische Nation erhalten bleiben soll.
Während ein supranationales Wirtschaftseuropa und ein intergouvernemental organisiertes politisches Europa noch als bloße Kompetenztransfers interpretiert werden
können, würde eine supranationale Struktur im „High politics“-Bereich einen eklatanten Souveränitätsverlust und damit das Ende Frankreichs und der französischen
Nation bedeuten. Die Befürwortung und selbst die Akzeptanz supranationaler Elemente in der politischen Integration befanden sich in den Maastricht-Verhandlungen
außerhalb des identitär-normativen Handlungsspielraums der französischen Regierung, wodurch sich das zweite Kontinuitätsrätsel – keine Einbindung der erstarkten
Bundesrepublik durch eine supranationale politische Struktur – erklären lässt.
5.3 Die Verfassungsdebatte
Wie in Kapitel 2.2.3 dargelegt, beinhaltet der Europäische Verfassungsvertrag
(EVV) – insbesondere mit der Etablierung eines von den Regierungen unabhängigen
EU-Außenministers, der Verleihung einer Rechtspersönlichkeit an die EU und einer
Stärkung des Europäischen Parlaments und der Kommission – mehrere supranationale Elemente. Das Verfassungskonzept und der Verfassungsbegriff können als ein
symbolträchtiger Schritt Richtung Föderation verstanden werden. Zu beachten ist
außerdem, dass sich die französische Regierung im Konvent an der Seite Deutschlands engagiert für eine Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen im Bereich der
GASP eingesetzt hatte. Mit Blick auf die Schärfe, mit welcher in der Auseinandersetzung über den Vertrag von Maastricht jedes Anzeichen einer föderalen Struktur
Europas jenseits der wirtschaftlichen Integration einhellig abgelehnt wurde, überrascht nun die anlässlich der Ratifikation des Europäischen Verfassungsvertrages
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Ist Frankreich Motor oder Bremse der europäischen Einigung? Die vorliegende Studie arbeitet anhand dreier Vertragsverhandlungen (Fouchet-Pläne, Vertrag von Maastricht, Europäische Verfassung) die französische Position zur politischen Integration Europas systematisch heraus. Über eine Analyse des Diskurses der politischen Elite werden die Vorstellungen von der Identität Frankreichs ermittelt, die den Entwicklungslinien und Widersprüchen der französischen Europapolitik zugrunde liegen. Heute dominiert eine Identitätskonzeption, bei der die Nation vom Staat entkoppelt und zugleich mit einem unvermindert französischen Universalismus ausgestattet ist. Daraus werden Prognosen abgeleitet und anhand der Europapolitik Sarkozys überprüft.