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Ergebnis ist auch im Bereich der Rechtmäßigkeitshaftung nicht wirklich zu erwarten.1062
III. Staatshaftungsrechtliche Ansprüche gegen die Mitgliedstaaten anstelle
der Europäischen Gemeinschaft
1. Totaler Rechtschutz durch nationales Staatshaftungsrecht?
Gewährt der Staat dem Einzelnen auf der nationalen Ebene bei jeglicher Beeinträchtigung einer subjektiven Rechtsposition nach einheitlichen Grundsätzen Ersatzansprüche, dann kommt dem Staatshaftungsrecht die Funktion totalen Rechtschutzes zu.1063 Gegen die Möglichkeit, den Staat für gemeinschaftsrechtswidrige
Verordnungen haften zu lassen, spricht zunächst, dass jede gemäß dem EG-Vertrag in Kraft gesetzte Verordnung solange als wirksam gilt, bis ein zuständiges
Gericht sie für unwirksam erklärt hat. Diese Vermutung ergibt sich aus den Art.
230, 231, 234 und 241 des EG-Vertrages, wonach es die alleinige Aufgabe des
Gerichtshofes ist, über die Rechtmäßigkeit von Verordnungen zu befinden und
abschließend über die Rechtmäßigkeit der Verordnung zu entscheiden, wenn
diese vor einem nationalen Gericht in Frage gestellt wird.1064
Der Rechtsschutz durch nationales Staatshaftungsrecht könnte aber unter Berücksichtigung eines anderen Aspekts zum Tragen kommen. Ansatzpunkt der Überlegung ist dabei, dass unter streng kausalistischer Betrachtung der nationale Akt
den eigentlichen Eingriff in die Rechtsposition des Bürgers darstellt. Übersetzt
für die Rechtmäßigkeitshaftung bedeutet das, dass der unzumutbare Schaden
letztlich adäquat kausal durch den Vollzugs- oder Umsetzungsakt ausgelöst werden muss, wobei sich beide Akte streng an die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben halten. Insbesondere die nur mittelbare Wirkung der Richtlinie begründet
dann die kausale Schadensverursachung durch den Umsetzungsakt. Insoweit
stellt sich für den Fall staatlichen Vollzugs einer gemeinschaftsrechtswidrigen
Verordnung oder einer entsprechend rechtswidrigen Richtlinie die Möglichkeit,
den Mitgliedstaat anstelle der Gemeinschaft haften zu lassen.1065 Diese Frage
wird auch im Falle der Rechtmäßigkeitshaftung die größere praktische Relevanz
haben.
1062 Im Ergebnis ebenso: Held, Die Haftung der EG für die Verletzung von WTO-Recht, S. 274
f. Diese sich bereits aus der Darstellung der Fallkonstellationen ergebende Einschätzung
stellt auch Renzenbrink für die Rechtswidrigkeitshaftung auf: Gemeinschaftshaftung und
mitgliedstaatliche Rechtsbehelfe, S. 156.
1063 v. Bogdandy, AöR 122 (1997), S. 268, 272.
1064 EuGH, Urteil v. 13.2.1979, Rs. 101/78, Granaria B.V., Slg. 1979, S. 623 ff., Rn. 4.
1065 Schockweiler, RTDE 1990, S. 29, 66.
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Entscheidend für die Nichtanwendbarkeit einzelstaatlicher Staatshaftungsinstitute auf den Vollzugsakt ist aber, dass sich die kausale Zurechnung nicht allein in
der Äquivalenz- oder Adäquanztheorie erschöpft. Vielmehr kommen wertende,
normative Zurechnungskriterien hinzu.1066 Am Beispiel der deutschen Rechtsordnung festgemacht bedeutet das, dass auf den Sinn und Zweck der Staatshaftung
abzustellen ist, der ausschließlich darin besteht, Ersatz solcher Schäden zu gewähren, die der öffentlichen Hand auch zurechenbar sind.1067 Für Schäden, die
von einer nichtdeutschen, hier supranationalen Rechtsordnung zu verantworten
sind, kann die deutsche öffentliche Hand nicht unter staatshaftungsrechtlichen
Gesichtspunkten haftbar gemacht werden, es sei denn, der Schaden resultiert aus
einem bestehenden Gestaltungsspielraum des Staates und führt nicht die Schadensanlage des Gemeinschaftsaktes fort.1068 Es kommt also nicht darauf an, wer
die letzte Ursache vor dem Schadenseintritt gesetzt hat, sondern wer die Verantwortlichkeit für die Auslösung der Kausalkette trägt.1069 Auf den staatlichen Gesetzesvollzug aufgrund gemeinschaftswidrigen Sekundärrechts bezogen bedeutet
das, dass primär der Zwang besteht, Gemeinschaftsrecht anzuwenden.1070 Dann
kommt es aus Kausalitätsgesichtspunkten auf die fehlende unmittelbare Geltung
der Richtlinie nicht mehr entscheidend an.1071 Es trägt die Gemeinschaft die Verantwortung für den Rechtsakt im Sinne des Verantwortungsgedankens, so dass jedes Bedürfnis fehlt, ein Rechtsinstitut des deutschen Staatshaftungsrechts so aus-
1066 Detterbeck, AöR 125 (2000), S. 202, 251. Zum wertenden Kriterium der Vorhersehbarkeit
im Rahmen adäquater Ursachen-Schadens-Kausalität, vgl.: Hatje, EuR 1997, S. 297, 307
ff.; siehe auch: Olivet, Der verantwortungsbezogene Rechtswidrigkeitsbegriff im öffentlichen und bürgerlichen Recht, S. 115.
1067 Detterbeck, AöR 125 (2000), S. 202, 251.
1068 Czaja, Die außervertragliche Haftung der EG für ihre Organe, S. 196; im Ergebnis ebenso:
Schockweiler, RTDE 1990, S. 29, 68. Resultiert der Schaden indes aus einem Verstoß
gegen Gemeinschaftsrecht, hat der EuGH in den Rs. Francovich und Brasserie du Pêcheur
u. Factortame einen gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruch entwickelt, der
seine Grundlage unmittelbar im Gemeinschaftsrecht findet und dem Einzelnen als unmittelbar geltendes Recht einen Anspruch auf Schadensersatz zugesteht. Dennoch bleibt es
den Mitgliedstaaten unbenommen, selbst eine Haftungsregelung zu treffen, die für den
Einzelnen noch günstiger ist als der gemeinschaftliche Schadensersatzanspruch. Der
Anspruch stellt insofern eine zum nationalen Recht konkurrierende Haftungsgrundlage
dar, auf die zurückgegriffen werden kann, wenn nach dem nationalen Recht eine Rechtsschutzlücke entstünde, was im Bezug auf die Haftung für legislatives Unrecht in Deutschland der Fall wäre. Dazu ausführlich: Hatje, EuR 1997, S. 297, 303 f.; EuGH, Urteil v.
19.11.1991, verb. Rs. C-6/90 u. C-9/90, Francovich, Slg. 1991, S. I-5357, 5413 ff., Rn. 28
ff., EuGH, Urteil v. 5.3.1996, verb. Rs. C-46/93 u. C-48/93, Brasserie du Pêcheur u. Factortame, Slg. 1996, S. I-1029, 1153, Rn. 66 ff.
1069 EuG, Urteil v. 28.4.1998, Rs. T-184/95, Dorsch Consult, EuR 1998, S. 542, 552 ff. Rn.
59, 72; Berg, in: Schwarze, Art. 288, Rn. 56.
1070 Renzenbrink, Gemeinschaftshaftung und mitgliedstaatliche Rechtsbehelfe, S. 108; Bertelmann, Die Europäisierung des Staatshaftungsrechts, S. 193.
1071 Haack, Die außervertragliche Haftung der Europäischen Gemeinschaften für rechtmäßiges
Verhalten ihrer Organe, S. 154.
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zudehnen, dass es rechtswidrige oder rechtmäßige Unionsakte erfasst.1072 Dem
entspricht die gängige Rechtsprechung des BGH, die sich vornehmlich darauf
stützt, dass der deutsche Staat nicht für Legislativakte haftet, gleichwohl, ob sie
rechtmäßig oder rechtswidrig sind.1073 Setzt sich demnach durch den innerstaatlichen Vollzugs- oder Umsetzungsakt lediglich die Rechtswidrigkeit des vollzogenen Gemeinschaftsaktes fort, bzw. schafft der nationale Akt keine eigene sonderopferbegründende Lage, ist ein hiernach entstandener Schaden allein der Gemeinschaft zuzurechnen.1074
2. Rechtsprechung des EuGH zur Subsidiarität der Gemeinschaftshaftung
Der deutschen Rechtsprechung stand lange Zeit die Ansicht des EuGH entgegen,
die Gemeinschaftshaftung sei gegenüber der mitgliedstaatlichen Haftung subsidiär, sofern der Schaden auf einer nationalen Verwaltungsmaßnahme beruhe, die
in Anwendung des Gemeinschaftsrechts ergeht.1075 Die Subsidiarität der außervertraglichen Haftung der Gemeinschaft kommt insbesondere bei der mittelbaren
Ausführung, also beim Vollzug von Gemeinschaftsrichtlinien zum Ausdruck. Die
einzelstaatlichen Gerichte haben dabei nur die Kompetenz, nationales Verwaltungshandeln zu überprüfen. Geht es um die Kontrolle und Auslegung gemeinschaftsrechtlicher Normen, haben die mitgliedstaatlichen Richter keine Kompetenz, die Norm für ungültig zu erklären. Bestehen Zweifel hinsichtlich der Konformität mit dem Gemeinschaftsrecht, so haben die nationalen Gerichte diese
Frage dem EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 234
EG vorzulegen.1076 Auf diese Weise bleiben die jeweiligen Kompetenzen gewahrt.1077 Eine Klage gegen die Gemeinschaft ist danach nur zulässig, wenn der
Kläger die ihm zur Verfügung stehenden innerstaatlichen Rechtsschutzmöglichkeiten vollumfänglich ausgenutzt hat, um eine doppelte Schadensliquidation zu
verhindern.1078 Die Subsidiarität der Gemeinschaftshaftung nach Art. 288 Abs. 2
EG hat der EuGH dann in der Rs. Unifrex insofern klarstellend zusammengefasst,
1072 v. Bogdandy, AöR 122 (1997), S.268, 279, 280.
1073 Für Deutschland gilt z.B., dass eine Amtspflichtverletzung des Gesetzgebers ausscheidet,
da keine drittbezogene Pflicht gegenüber Einzelnen besteht, nur rechtmäßige Rechtsetzungsakte zu erlassen. Siehe dazu: BGH, VersR 1988, S. 1046 f. Anders dagegen bei sog.
Maßnahme- und Individualgesetzen, da dort eine Drittbezogenheit vorliegen kann, vgl.:
BGH, DVBl 1993, S. 718.
1074 BGHZ 125, S. 27, 38; BGH, DVBl. 1993, S. 717.
1075 EuGH, Urteil v. 19.5.1992, Rs. C-104/89 u. C-37/90, Mulder u.a., Slg. 1992, S. I-3061,
3130, Rn. 8 ff.; EuGH, Urteil v. 13.3.1992, Rs. C-282/90, Vreugdenhil, Slg. 1992, S. I-
1937, 1966, Rn. 12. Siehe auch: Berg, in: Schwarze, Art. 288, Rn. 19 f.
1076 EuGH, Urteil v. 13.2.1979, Rs. 101/78, Granaria B.V., Slg. 1979, S. 623 ff., Rn. 4.
1077 Borchardt, in Lenz, Art. 235, Rn. 11.
1078 EuGH, Urteil v. 14.7.1967, verb. Rs. 5, 7, 13-24/66, Kampffmeyer, Slg. 1967, S. 332, 356;
EuGH, Urteil v. 25.10.1972, Rs. 96/71, Haegeman, Slg. 1972, S. 1005, 1015, Rn. 12;
Schockweiler, RTDE 1990, S. 29, 69.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Studie begründet, weshalb die Haftung der Europäischen Gemeinschaft für rechtmäßige Rechtsetzungsakte keinen Verstoß gegen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts darstellt. Im Gegenteil: Diese Haftung für Sonderopfer ist gemeinschaftsrechtskonform und liefert zugleich einen Beitrag zur grundrechtlichen Anerkennung der Entschädigungspflicht für eigentumsentziehende oder -entwertende Maßnahmen. Mittels einer detaillierten rechtsvergleichenden Untersuchung zur Entschädigungspflicht bei Eigentumsentzugsmaßnahmen und zur gemeinschaftsrechtlichen Grundlage der europäischen Sonderopferhaftung stellt die Bearbeitung einen alternativen Ansatzpunkt für die Sonderopferhaftung bereit und liefert einen neuen Diskussionspunkt zu einer aktuellen Rechtsprechung.