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Als Fazit ist festzuhalten, dass Art. 295 EG keine Rechtsgrundlage für ein
gemeinschaftliches Eigentumsrecht darstellt, diesem aber auch nicht entgegensteht.
2. Das Eigentumsgrundrecht in der Rechtsprechung des EuGH
Das Fehlen von schriftlich normierten Grundrechten in den Gründungsverträgen
hat den EuGH veranlasst, sich mit der Grundrechtsfrage über einen langen Zeitraum näher zu beschäftigen. In seiner Rechtsprechungspraxis hat der Gerichtshof
heute eine Reihe von Grundrechten anerkannt und ausgeformt.209 Schriftliche
Niederlegung haben diese letztlich in der Europäischen Grundrechte Charta gefunden, auf die noch im Weiteren eingegangen wird. Anfänglich stand der Gerichtshof dem Schutz der Grundrechte allerdings pessimistisch gegenüber. Erst in
der Rs. Stauder stellte der Gerichtshof – wenn auch in einem obiter dictum210 –
fest, dass zu den allgemeinen Grundsätzen der Gemeinschaftsordnung, deren
Wahrung er zu achten habe, auch die Grundrechte der Person gehören.211 Dieser
Grundsatz erfuhr eine weitergehende Konkretisierung in der Rs. Internationale
Handelsgesellschaft dahingehend, dass sich die im Gemeinschaftsrecht anzuerkennenden Grundrechte »in die Struktur und die Ziele der Gemeinschaft einfügen« müssen.212 In der folgenden Entscheidung Nold legte der Gerichtshof einen
weiteren Stein des Fundaments europäischen Grundrechtsschutzes fest. Das Eigentum gehöre zu den in den Verfassungsordnungen der Mitgliedstaaten geschützten Grundrechten.213 Der EGMR verlieh seiner grundsätzlichen Bereitschaft Ausdruck, das Eigentumsrecht zu schützen, auch wenn eine Verletzung im
vorliegenden Fall nicht angenommen wurde.214 Der Gerichtshof sah nicht nur die
gemeinsame Verfassungstradition der Mitgliedstaaten als grundlegend für den
europäischen Grundrechtsschutz an, sondern erweiterte die Basis auf die internationalen Verträge über den Schutz der Menschenrechte, an deren Abschluss die
Vertragsparteien beteiligt waren oder denen sie im Weiteren beigetreten sind.215
Speziell wichtig für die Anerkennung des Grundrechts auf Eigentum ist die Entscheidung in der Rs. Hauer.
209 Siehe dazu die äußerst skeptischen Anmerkungen von: Leisner, in: FS Carl Heymanns Verlag, S. 395 ff.
210 EuGH, Urteil v. 12.11.1969, Stauder, Slg. 1969, S. 419, Rn. 2; vgl. auch: Pernice, Grundrechtsgehalte im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 46.
211 EuGH, Urteil v. 12.11.1969, Rs. 29/69, Stauder, Slg. 1969, S. 419 ff., Rn. 2, 7.
212 EuGH, Urteil v. 17.12.1970, Rs. 11/70, Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 1970,
S. 1125, 1135, Rn. 3.
213 EuGH, Urteil v. 14.5.1974, Rs. 4/73, Nold, Slg. 1974, S. 491, 507, Rn. 13-14.
214 Pernice, Grundrechtsgehalte im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 181.
215 EuGH, Urteil v. 14.5.1974, Rs. 4/73, Nold, Slg. 1974, S. 491, 507, Rn. 13; Vgl. zur generellen Bedeutung der Urteile in den Rs. Stauder, Internationale Handelsgesellschaft und
Nold für den gemeinschaftlichen Grundrechtsschutz: Pernice, Grundrechtsgehalte im
Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 45 ff.
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3. Entscheidung in der Rechtssache Hauer
Die Sache betraf das Verbot der Neuanpflanzungen von Weinreben. Die Entscheidung des Landes Rheinland-Pfalz wurde im Laufe des deutschen Widerspruchverfahrens durch eine EWG-Verordnung bestätigt, welche den Anbau einer speziellen Weinsorte bis zu einem bestimmten Zeitpunkt gänzlich untersagte. Im
weiteren Verlauf des Verfahrens wurde dem EuGH u.a. die Frage vorgelegt, ob die
europäische Verordnung mit dem Eigentumsrecht auf Gemeinschaftsebene im
Einklang stehe. Der Gerichtshof stellte diesbezüglich erst einmal fest, dass das
»Eigentumsrecht in der Gemeinschaftsordnung gemäß den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten gewährleistet (ist), die sich auch im Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention widerspiegeln«216. Problematisch bei dem Verweis auf die EMRK ist, dass infolge des fehlenden Beitritts der EU zur EMRK der EuGH die in der EMRK verbürgten Rechte nicht unmittelbar anwenden kann. Die Konvention kann insoweit nur im Rahmen der allgemeinen Rechtsgrundsätze Beachtung finden.217
Nach der Erörterung des Wortlauts von Art. 1, 1. ZP EMRK wendet sich der Gerichtshof der Ausgestaltung des Eigentumsrechts auf Gemeinschaftsebene zu.
Der Gerichtshof hebt insbesondere hervor, dass der sozialen Funktion des Eigentums besondere Beachtung geschenkt werden müsse. Er verweist dazu rechtsvergleichend auf die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten Deutschland, Italien und
Irland.218 Insbesondere weist der EuGH darauf hin, dass in allen Weinbauländern
der Gemeinschaft zwingende, wenn auch ungleich strenge Vorschriften zur Regelung des Weinanbaus bestehen. Hieraus zieht der Gerichtshof die Konsequenz,
dass das zeitweilige Verbot der Neuanpflanzung dem Grundsatz nach auch im
Hinblick auf den gemeinschaftsrechtlichen Eigentumsschutz nicht beanstandet
werden kann.219 Die Feststellung lässt das Gericht indes nicht genügen, sondern
stellt darauf ab, ob der Regelungsgehalt der Verordnung »tatsächlich dem allgemeinen Wohl dienenden Zielen der Gemeinschaft« entsprach und ob es »einen im
Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen, nicht tragbaren Eingriff
in die Vorrechte des Eigentümers darstellt, der das Eigentumsrecht in seinem Wesensgehalt antastet«220. Der Gerichtshof prüft die Verordnung unter diesen Leitfäden und nimmt dabei ausdrücklich Bezug zum gemeinschaftsrechtlichen Ziel
der strukturellen Verbesserung des Weinsektors. Im Ergebnis kommt der Gerichtshof dazu, dass das temporäre Weinanbauverbot durch die Ziele der Gemein-
216 EuGH, Urteil v. 13.12.1979, Rs. 44/79, Hauer, Slg. 1979, S. 3727, 3745, Rn. 17.
217 Bleckmann, EuGRZ 1981, S. 257, 271 f.
218 EuGH, Urteil v. 13.12.1979, Rs. 44/79, Hauer, Slg. 1979, S. 3727, 3746, Rn. 20.
219 EuGH, Urteil v. 13.12.1979, Rs. 44/79, Hauer, Slg. 1979, S. 3727, 3747, Rn. 22.
220 EuGH, Urteil v. 13.12.1979, Rs. 44/79, Hauer, Slg. 1979, S. 3727, 3747, Rn. 23; später
bestätigt: EuGH, Urteil v. 10.1.1992, Rs. 177/90, Kühn, Slg. 1992, S. I-35, 63 f., Rn. 16;
EuGH, Urteil v. 15.4.1997, Rs. 22/94, Irish Farmers Association, Slg. 1997, S. I-1809,
1839 f., Rn. 27.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Studie begründet, weshalb die Haftung der Europäischen Gemeinschaft für rechtmäßige Rechtsetzungsakte keinen Verstoß gegen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts darstellt. Im Gegenteil: Diese Haftung für Sonderopfer ist gemeinschaftsrechtskonform und liefert zugleich einen Beitrag zur grundrechtlichen Anerkennung der Entschädigungspflicht für eigentumsentziehende oder -entwertende Maßnahmen. Mittels einer detaillierten rechtsvergleichenden Untersuchung zur Entschädigungspflicht bei Eigentumsentzugsmaßnahmen und zur gemeinschaftsrechtlichen Grundlage der europäischen Sonderopferhaftung stellt die Bearbeitung einen alternativen Ansatzpunkt für die Sonderopferhaftung bereit und liefert einen neuen Diskussionspunkt zu einer aktuellen Rechtsprechung.