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wie die anderen Sätze des Artikels irgendwelche Eingriffsbefugnisse. Dennoch
können Eigentumseingriffe nach Ansicht von EGMR und EKMR nicht nur unter
die Entziehungs- oder Benutzungsregelungsklausel fallen. In der Rs. Sporrong
und Lönnroth entschied der EGMR, dass weder eine Enteignung noch eine Benutzungsregelung vorlag. Grund dafür war, dass der Zweck der Maßnahme weder
in einer Nutzungsbeschränkung oder -kontrolle lag noch eine Eigentumsentziehung gegeben war.109 Hoheitliche Maßnahmen, die keiner der beiden Eingriffstypen zugeordnet werden können, stellen nicht etwa per se – was sicherlich nahe
liegender gewesen wäre – einen Verstoß gegen das Eigentumsrecht dar, sondern
werden vom EGMR in eine dritte Eingriffskategorie unter Art. 1 Abs. 1 S. 1
EMRK gefasst.110 Auch in der weiteren Rechtsprechungspraxis hat der EGMR
diesen Eingriffstyp angewandt.111 In jüngerer Zeit ist der Gerichtshof jedoch dazu
übergegangen, von den »sonstigen Eingriffen« wieder abzurücken. Vielmehr
machte er klarstellend deutlich, dass, wenn ein Eingriff keine Eigentumsentziehung darstellt, eine Benutzungsregelung vorliegen müsse.112
Diese Praxis wird von der herrschenden Ansicht der Literatur getragen, die in Art.
1 Abs. 1 S. 1 allein die Beschreibung des Schutzbereiches der Eigentumsgarantie
erblickt, welche die nachfolgend eröffneten Eingriffsmöglichkeiten rechtfertigungspflichtig macht. Satz 1 hat damit eingriffsbeschränkende nicht aber eingriffsermöglichende Funktion.113
5. Rechtfertigung der Eigentumseingriffe
Die dargestellten Eingriffe in die Eigentumsgewährleistung unterliegen bestimmten Rechtmäßigkeitsanforderungen, die sich zum einen aus Art. 1, 1. ZP EMRK
selbst ergeben, zum anderen auch ihren Ursprung in allgemeinen Regeln haben.
Insbesondere für den Betroffenen einer Eigentumsentzugsmaßnahme ist es von
gesteigertem Interesse zu wissen, wann ein Entzug rechtmäßig und von ihm zu
dulden ist. Im Folgenden wird dargestellt, unter welchen Bedingungen eine Eigentumsentziehung und eine Benutzungsregelung möglich sind. Insbesondere
wird eingehend erörtert, inwiefern der Eigentumsentzug einem Entschädigungserfordernis unterfällt.
109 EGMR, Urteil v. 23.9.1982, Rs. Sporrong und Lönnroth, EuGRZ 1983, S. 523, 525, Rn.
62 u. 65.
110 EGMR, Urteil v. 23.9.1982, Rs. Sporrong und Lönnroth, EuGRZ 1983, S. 523, 525, Rn.
65 ff.
111 EGMR, Urteil v. 23.4.1987, Rs. Poiss, NJW 1989, S. 650, 651, Rn. 64.
112 EGMR, Urteil v. 19.12.1989, Rs. Mellacher et autres, ÖJZ 1990, S. 150, 151.
113 Wegener, in: Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, S. 115, Rn. 25; Hartwig,
RabelsZ 1999, S. 561, 571; ebenso Gelinsky, Der Schutz des Eigentums, S. 90 f.
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a) Rechtfertigung von Eigentumsentziehungen
Ausweislich Art. 1 Abs. 1 S. 2 EMRK ist die Entziehung des Eigentums unter der
Voraussetzung möglich, dass der Entzug im öffentlichen Interesse liegt, nur unter
den durch Gesetz vorgesehenen Bedingungen erfolgt und außerdem konform mit
den allgemeinen Grundsätzen des Völkerrechts ist. Diese drei Voraussetzungen
müssen kumulativ vorliegen. Von einem Entschädigungserfordernis ist nicht einmal im Ansatz die Rede. Darauf wird noch einzugehen sein.
aa) Öffentliches Interesse
Eine das Eigentum entziehende Maßnahme muss zunächst im öffentlichen Interesse liegen. Das Merkmal des öffentlichen Interesses wirft insofern Probleme bei
der Bestimmbarkeit auf, als dass es im Auge des Betrachters liegt, welches Ziel
durch öffentliche Erwägungen getragen wird. Entwicklungen und Tendenzen,
seien sie gesellschaftlicher, volkswirtschaftlicher oder politischer Natur, lassen
die Festlegung eines fortwährend feststehenden Begriffs des öffentlichen Interesses als schwer vorstellbar erscheinen.114 Insbesondere kommt es nicht nur innerhalb einer Rechtsordnung, sondern gerade unter verschiedenen Rechtsordnungen
zu differenzierten Anschauungen. Deshalb ist fraglich, wer bestimmt und bestimmen kann, in welcher Art und Weise sich das öffentliche Interesse ausprägt. Wenn
Art. 1 Abs. 1 S. 2 die Konformität mit dem öffentlichen Interesse voraussetzt, ist
zu unterscheiden, ob die Konventionsorgane das öffentliche Interesse festlegen
oder diese Aufgabe den nationalen Stellen überlassen. Hinzu kommt, dass bei der
Ausarbeitung des 1. ZP ausdrücklich darauf hingewiesen wurde, dass in die nationale Eigentumsordnung nicht eingegriffen werden darf. Man wird insofern davon ausgehen dürfen, dass Kommission und Gerichtshof bei Differenzen weltanschaulicher oder politischer Art über Fragen kein ausschlaggebendes, die Entscheidung des Staates beschneidendes Werturteil abzugeben haben.115 In der Rs.
James u. a. hat der Gerichtshof klargestellt, dass die Qualifizierung des öffentlichen Interesses primär in den Kompetenzbereich des nationalen Gesetzgebers
fällt. Aufgrund der unmittelbaren Kenntnis der Gesellschaft und deren Bedürfnisse können nationale Organe das öffentliche Interesse selbst bestimmen. Bei
der Enteignungsgesetzgebung seien politische, soziale und wirtschaftliche Probleme zu berücksichtigen, über deren Lösung in einer demokratischen Gesellschaft erhebliche Meinungsunterschiede bestünden.116 Deshalb wird dem nationalen Gesetzgeber bei der Beurteilung des öffentlichen Interesses ein weiter Er-
114 Vgl.: Peukert, in: Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar, S. 268 f., Rn. 38 f.
115 Peukert, EuGRZ 1981, S. 97, 107.
116 EGMR, Urteil v. 21.2.1986, Rs. James u. a., EuGRZ 1988, S. 341, 344, Rn. 45 f ; siehe
auch: EGMR, Urteil v. 23.11.2000, Rs. Ehemaliger König, EuGRZ 2001, S. 397, 402,
Rn. 87.
47
messensspielraum zugebilligt.117 Die Einhaltung des nationalen Beurteilungsspielraumes prüft der EGMR in der Hinsicht, ob die vom enteignenden Staat angeführten Motive für die Eigentumsentziehung legitimer Weise mit öffentlichen
Interessen gleichgesetzt werden können.118 Das ist in aller Regel der Fall, wenn
die Enteignung sozialstaatliche Ziele verfolgt. Darunter fällt z.B. die Untersagung des Handels mit gefährlichen Gütern,119 Maßnahmen zur Erhaltung der
Volksgesundheit120 oder auch zollrechtliche Regelungen zur Regelung der Wirtschaftsordnung121. Im Übrigen wird keine Übertragung des Eigentums in den Gemeingebrauch verlangt.122 Selbst Enteignungen zugunsten Privater können vom
öffentlichen Interesse gedeckt sein, auch wenn die Öffentlichkeit keinen unmittelbaren Nutzen trägt. Es muss jedoch gewährleistet sein, dass die Begünstigung
Privater nicht der alleinige Zweck der Enteignungsmaßnahme ist.123 Die Überprüfung durch die Konventionsorgane beschränkt sich folglich darauf, ob die nationalen Maßnahmen nicht offensichtlich unvernünftig sind.124
bb) Gesetzmäßigkeit des Handelns
Artikel 1 Abs. 1 S. 2 sieht ferner vor, dass eine Eigentumsentziehung nur unter
den durch Gesetz und durch die Allgemeinen Grundsätze des Völkerrechts vorgesehenen Bedingungen erfolgen kann. Dabei fordert der Gerichtshof zunächst,
dass die Enteignungsmaßnahmen den gesetzlichen Voraussetzungen entsprechen,
die das nationale Recht an eine das Eigentum entziehende Maßnahme knüpft,125
wobei die Beurteilung dessen bei den nationalen Gerichten liegen soll. Sofern
diese die Maßnahme als rechtens qualifizieren, wird diese Entscheidung von den
Konventionsorganen akzeptiert.126 Aber auch für den Fall, dass kein innerstaatlicher Konsens herrscht, akzeptieren die Konventionsorgane die Entscheidung, solange sie vertretbar erscheint. Dies ist zu bejahen, sofern die Entscheidung nicht
offensichtlich rechtsfehlerhaft oder willkürlich ist.127
Der Wortlaut der Norm bestimmt, dass die Eigentumsentziehung nur unter den
durch Gesetz vorgesehenen Bedingungen zulässig ist, womit sich die Frage stellt,
117 EGMR, Urteil v. 21.2.1986, Rs. James u. a., EuGRZ 1988, S. 341, 344, Rn. 45 f. ; Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, S. 365, Rn. 16; Frowein, in: FS
Rowedder, S. 49, 55.
118 Gelinsky, Der Schutz des Eigentums, S. 93.
119 EGMR, Urteil v. 7.12.1976, Rs. Handyside, EuGRZ 1977, S. 38, 48, Rn. 62.
120 EGMR, Urteil v. 7.7.1989, Rs. Tre Traktörer, Ser. A 159, Rn. 57.
121 EGMR, Urteil v. 24.10.1986, Rs. AGOSI, EuGRZ 1988, S. 513, 517 ff., Rn. 52 ff.
122 EGMR, Urteil v. 21.2.1986, Rs. James u. a., EuGRZ 1988, S. 341, 343, Rn. 41.
123 Wegener, in: Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, S. 118, Rn. 32.
124 EGMR, Urteil v. 23.11.2000, Rs. Ehemaliger König, EuGRZ 2001, S. 397, 402, Rn. 87.
125 EGMR, Urteil v. 8.7.1986, Rs. Lithgow u.a., EuGRZ 1988, S. 350, 356, Rn. 110.
126 EGMR, Urteil v. 7.7.1989, Rs. Tre Traktörer, Ser. A 159, Rn. 58.
127 Gelinsky, Der Schutz des Eigentums, S. 96 f.
48
ob damit von einem formellen oder materiellen Gesetzesbegriff ausgegangen
wird. Diese Frage steht im Zusammenhang damit, ob Richtlinien und Verordnungen der Gemeinschaft, für welche die Gemeinschaft haften soll, eher den formellen oder materiellen Gesetzen gleichzustellen sind. Diese Fragestellung wird an
anderer Stelle zu klären sein.128 Im Übrigen besteht Erörterungsbedarf auch ohne
einen Beitritt der Gemeinschaft zur EMRK, da diese von der europäischen Gesetzgebung und Rechtsprechung des EuGH berücksichtigt wird. Grundsätzlich
wird das Problem des weiten oder engen Gesetzesbegriffs aber auch hier in anderem Zusammenhang relevant, wie im Folgenden aufgezeigt wird.
Unstreitig fallen formelle Gesetze im Sinne von parlamentarischen Gesetzen unter den Wortlaut der Norm. Fraglich ist, ob darunter auch Rechtsverordnungen,
Satzungen oder auch Gewohnheitsrecht fallen, die gerade nicht von einem demokratisch legitimierten Gesetzgeber erlassen wurden.
Für ungeschriebenes Recht hat der EGMR in der Rs. Sunday-Times, in der es um
einen Eingriff in die Pressefreiheit ging, entschieden, dass es ausreichend sei,
wenn ein Eingriff in die Pressefreiheit auf den ungeschriebenen Regeln des britischen »common law« beruhe.129 Auch wenn diese Entscheidung nicht das Eigentumsrecht nach dem 1. ZP betraf, so ist nicht ersichtlich, weshalb die Entscheidung des EGMR nicht auch für andere Verweisungen in der Konvention und
den Zusatzprotokollen gelten soll.130 Auch Verordnungen der Exekutive reichen
aus, solange sie in einer Weise auf eine parlamentarische Ermächtigung zurückzuführen sind.131 Die Begründung liegt in den national unterschiedlichen Rechtsordnungen und Rechtsentwicklungen, die es nicht rechtfertigen, den Gesetzesbegriff nur auf formelle Gesetze zu begrenzen.132 Das in Abs. 4 der Präambel der
Konvention verankerte Rechtsstaatsprinzip verlangt eine solche parlamentarische
Rückbindung und wirkt so der Gefahr entgegen, dass das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren gänzlich umgangen wird und Enteignungen in beliebigem
Umfange möglich werden.133
128 Vgl. dazu unten: Vierter Teil II. 5.
129 EGMR, Urteil v. 26.04.1979, Rs. Sunday Times, EuGRZ 1979, S. 386, 387 f., Rn. 46 ff.;
weiterführend über das common law hinaus: EGMR, Urteil v. 24.4.1990, Rs. Kruslin, ÖJZ
1990, S. 564, 565; EGMR, Urteil v. 24.4.1990, Rs. Huvig, ÖJZ 1990, S. 567 mit Verweis
auf die Entscheidung Kruslin.
130 Peukert, EuGRZ 1981, S. 97, 108.
131 Grabenwarter, in: Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, S. 365, Rn. 15.
132 Gelinsky, Der Schutz des Eigentums, S. 102; Grabenwarter, in: Europäische Grundrechte
und Grundfreiheiten, S. 365, Rn. 15.
133 Gelinsky, Der Schutz des Eigentums, S. 102.
49
cc) Konformität mit den allgemeinen Grundsätzen des Völkerrechts
Die Mitgliedstaaten haben bei der Vornahme der Eigentumsentziehung auch die
allgemeinen Grundsätze des Völkerrechts zu beachten. Im Rahmen dessen rankt
sich eine sehr streitige Frage um das Bestehen oder Nichtbestehen einer Entschädigungspflicht für vollzogene Enteignungen.134 Bis heute ist nicht eindeutig in
Rechtsprechung und Literatur geklärt, ob und in welchem Rahmen es eine Entschädigungspflicht gibt. Fest steht aber, dass der Verweis des Art. 1 Abs. 1 S. 2
auf die allgemeinen Grundsätze des Völkerrechts bisher seine Hauptanwendung
im Bezug auf die Entschädigungsfrage gefunden hat. Gemeint sind diejenigen
Grundsätze, die sich im Rahmen des völkerrechtlichen Fremdenrechts zum Eigentumsschutz von Ausländern entwickelt haben.135 So zumindest geht es aus einer Darstellung des Expertenausschusses vom 18. Juli 1951 hervor, wonach die
deutsche Delegation auf die völkerrechtliche Pflicht zur Ausländerentschädigung
hingewiesen hatte.136 Die Materialien zur Entstehungsgeschichte des 1. ZP geben
jedoch keinen weiteren Aufschluss darüber, welche Bedeutung dem Verweis im
Einzelnen zukommen soll.137 Vielmehr wollen die Materialien keinen definitiven
Hinweis auf die Auslegung der Entschädigungspflicht geben.138
Die Konventionsorgane haben die Bedeutung des Art. 1 Abs. 1 S. 2, 1. ZP EMRK
für die Entschädigungspflicht noch nicht abschließend geklärt. Insbesondere umstritten ist die Frage, ob auch Inländern durch den Verweis auf die allgemeinen
Völkerrechtsgrundsätze ein Entschädigungsanspruch zustehen soll. Das wäre der
Fall, interpretierte man den Verweis als Rechtsfolgenverweisung.139 Im Falle eines Rechtsfolgenverweises kommt es nicht darauf an, ob die üblichen Voraussetzungen für die Anwendung der Norm vorliegen, da allein auf die Rechtsfolgen
verwiesen wird.140 Es wäre damit unerheblich, dass die ausländische Staatsbürgerschaft nach geltendem Fremdenvölkerrecht essentielle Voraussetzung für das
Entstehen eines Entschädigungsanspruchs ist.141 Vielmehr könnte jede der jeweiligen Herrschaftsgewalt unterfallende Person Entschädigung verlangen, unabhängig von ihrem Status als Inländer oder Ausländer. Genau das Gegenteil ist der
Fall, wenn es sich stattdessen um eine Rechtsgrundverweisung handeln würde.
134 Riedel, EuGRZ 1988, S. 333, 336. Die Prüfung der »allgemeinen Rechtsgrundsätze«
erfolgt im Übrigen ausschließlich bei einer Eigentumsentziehungsmaßnahme. Dazu siehe:
EGMR, Urteil v. 30.6.2005, Rs. Bosphorus, NJW 2006, S. 197, 200.
135 Gelinsky, Der Schutz des Eigentums, S. 102; ebenso: Peukert, EuGRZ 1981, S. 97, 108.
136 Siehe dazu: Dolzer, Eigentum, Enteignung und Entschädigung im geltenden Völkerrecht,
S. 97 f.
137 Wie bereits oben dargelegt. Siehe auch: Dolzer, Eigentum, Enteignung und Entschädigung
im geltenden Völkerrecht, S. 97.
138 Dolzer, Eigentum, Enteignung und Entschädigung im geltenden Völkerrecht, S. 98.
139 Riedel, EuGRZ 1988, S. 333, 336.
140 Hartwig, RabelsZ 1999, S. 561, 575.
141 Gelinsky, Der Schutz des Eigentums, S. 109; Peukert, EuGRZ 1981, S. 97, 109;
50
In der Rs. Gudmundsson interpretierte die EKMR den Verweis als Rechtsgrundverweisung und schloss damit aus, dass sich auch Inländer auf die völkerrechtlichen Prinzipien der Entschädigung zurückgreifen können.142 Die Überlegungen zur Ausarbeitung des Art. 1 bestätigten, dass die Abschlussparteien keine
Intention zur Ausweitung der völkerrechtlichen Prinzipien auch auf den Fall hätten, in dem Inländer enteignet werden.143 Jedoch wollte die Kommission Inländer
nicht aus dem gesamten Eigentumsschutz herausnehmen, sondern betonte im Fall
Handyside ausdrücklich, dass Inländern zumindest der Schutz vor willkürlichen
Entziehungen zustünde.144 Der Gerichtshof für Menschenrechte folgt dieser Auffassung konsequent und bestätigt die Auffassung in den Rs. James und Lithgow.145
Die Grundsätze des Völkerrechts seien nur als Mindeststandard für die Ausländerbehandlung geschaffen worden und hätten sich niemals zugleich auf Inländer
bezogen.146 Der Gerichtshof halte es für besser, den Verweis auf die allgemeinen
Grundsätze des Völkerrechts entsprechend dem Verständnis im allgemeinen Völkerrecht auszulegen, nämlich nicht im Bezug zu Inländern.147 Die Konventionspraxis geht also dahin, einheitlich eine Entschädigungsverpflichtung zumindest aus den allgemeinen Grundsätzen des Völkerrechts abzulehnen.148 Der
EGMR lehnt damit auch das Argument ab, der Verweis auf den Ausländerschutz
ergebe keinen Sinn, da Ausländern ohnehin völkerrechtlicher Schutz zustünde.
Der Gerichtshof stellte klar, dass durch den Verweis auf das Völkerrecht Ausländern nur ausdrücklich die Möglichkeit gegeben werde, ihr Recht auf konventionsrechtlichen Eigentumsschutz zu verfolgen.149 Gleichfalls wiesen Kommission
und Gerichtshof auch den Einwand der Inländerdiskriminierung und des damit
verbundenen Verstoßes gegen Art. 14 EMRK zurück.150 Man stützte sich darauf,
dass die EMRK sehr wohl Differenzierungen zwischen In- und Ausländern
kenne, welche in Art. 4 Abs. 3b, Art. 5 Abs. 1 und Art. 16 der EMRK und Art. 3
und 4 des 4. ZP der EMRK zum Ausdruck komme.
Sehr bedeutsam für die Entschädigung von Inländern ist jedoch die Aussage, die
der EGMR in den Rs. Sporrong und Lönnroth sowie Lithgow über den Verweis
auf das allgemeine Völkerrecht hinaus getroffen hat. Bei eigentumsentziehenden
Maßnahmen müsse die Verhältnismäßigkeit von angewendeten Mitteln und zu
142 EKMR, Entscheidung v. 20.12.1960, Rs. Gudmundsson, Yearbook of the European Convention on Human Rights 1960, S. 394, 423, 425.
143 EKMR, Entscheidung v. 20.12.1960, Rs. Gudmundsson, Yearbook of the European Convention on Human Rights 1960, S. 394, 423, 425.
144 EKMR, Bericht v. 30.9.1975, Rs. Handyside, Ser. B 22, Rn. 163.
145 EGMR, Urteil v. 21.2.1986, Rs. James u. a., EuGRZ 1988, S. 341, 347, Rn. 61 ff.; EGMR,
Urteil v. 8.7.1986, Rs. Lithgow u.a., EuGRZ 1988, S. 350, 356, Rn. 112.
146 EGMR, Urteil v. 21.2.1986, Rs. James u. a., EuGRZ 1988, S. 341, 347, Rn. 61 ff.
147 EGMR, Urteil v. 21.2.1986, Rs. James u. a., EuGRZ 1988, S. 341, 347, Rn. 60, 62.
148 Dieser Auffassung zustimmend: Brandt, Eigentumsschutz in europäischen Völkerrechtsvereinbarungen, S. 150.
149 EGMR, Urteil v. 21.2.1986, Rs. James u. a., EuGRZ 1988, S. 341, 347, Rn. 62.
150 Vgl. für EGMR, Urteil v. 21.2.1986, Rs. James u. a., EuGRZ 1988, S. 341, S. 347, Rn. 63.
51
verfolgten Zielen im Rahmen eines fairen Ausgleichs zwischen den Grundrechten
des Einzelnen und Allgemeininteressen gewahrt bleiben.151 Der Gerichtshof hat
in der Rs. James ausdrücklich klargestellt, dass die Mitgliedstaaten gegenüber ihren eigenen Staatsangehörigen nicht von einer Entschädigungspflicht befreit
sind.152 Aus dem Kontext der Äußerungen ergibt sich, dass der EGMR die Verpflichtung zur Zahlung von Enteignungsentschädigungen gegenüber Inländern
aus dem allgemeinen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ableitet.153
dd) Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als ungeschriebene
Rechtfertigungsvoraussetzung
Die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit einer Eigentumsentzugsmaßnahme ist,
wenngleich ungeschrieben, das zentrale richterliche Instrument.154 Das verfolgte
hoheitliche Ziel und die angewendeten Mittel müssen nach der Rechtsprechung
in einem »angemessenen Verhältnis« stehen. In diesem Zusammenhang ist zu differenzieren, »ob zwischen den Erfordernissen des Allgemeininteresses in diesem
Fall und den Interessen« des Einzelnen »ein gerechter Ausgleich hergestellt
wurde«.155 Dabei verbietet es die Verhältnismäßigkeit gerade, dass einem Eigentümer mit der Enteignung ein übermäßiges »Sonderopfer« aufgebürdet wird,156
welches in der Konsequenz nur durch eine entsprechende Entschädigungspraxis
abgefedert werden kann.157 Der Gerichtshof bezeichnete das Entschädigungserfordernis als implizit in Art. 1 enthaltene Bedingung.158 Auf die Voraussetzungen
wird im Folgenden näher eingegangen, wobei auffallen wird, dass der allgemeine
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz von der Praxis der Konventionsorgane anders ausgeformt wird als bspw. im deutschen Recht.
151 EGMR, Urteil v. 23.9.1982, Rs. Sporrong und Lönnroth, EuGRZ 1983, S. 523, 526, Rn.
69; EGMR, Urteil v. 8.7.1986, Rs. Lithgow u.a., EuGRZ 1988, S. 350, 357, Rn. 120.
152 EGMR, Urteil v. 21.2.1986, Rs. James u. a., EuGRZ 1988, S. 341, 346, Rn. 54.
153 Gelinsky, Der Schutz des Eigentums, S. 115; Hartwig, RabelsZ 1999, S. 561, 577; Rudolf,
EuGRZ 1996, S. 573, 575.
154 Wegener, in: Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, S.118, Rn. 34; Fiedler,
EuGRZ 1996, S. 354, 355.
155 Zuletzt bestätigt durch Urteil des EGMR, 30.6.2005, Rs. Bosphorus, NJW 2006, S. 197,
201.
156 So auch: EGMR, Urteil v. 23.11.2000, Rs. Ehemaliger König, EuGRZ 2001, S. 397, 402,
Rn. 90; Gelinsky, Der Schutz des Eigentums, S. 103; Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, S. 366, Rn. 17.
157 Vgl. dazu: Hartwig, RabelsZ 1999, S. 561, 577; Frowein, in: FS Rowedder, S. 49, 58; Frowein, JuS 1986, S. 845, 850.
158 EGMR, Urteil v. 8.7.1986, Rs. Lithgow u.a., EuGRZ 1988, S. 350, 357,Rn. 120; ebenso:
Dolzer, Eigentum, Enteignung und Entschädigung im geltenden Völkerrecht, S. 136.
52
aaa) Geeignetheit der Eigentumsentziehung
Die Enteignungsmaßnahme unterliegt dem Gebot der Geeignetheit. Das heißt,
dass mit der Enteignungsmaßnahme ein berechtigter Zweck verfolgt werden
muss. Diesem Erfordernis kommt keine eigenständige Bedeutung zu, wenn vorweg bereits das Vorliegen des öffentlichen Interesses bejaht wurde.159
bbb) Notwendigkeit der Enteignungsmaßnahme
Im Gegensatz zum deutschen Recht verlangt der EGMR für die EMRK keine Prüfung der Notwendigkeit der Maßnahme. Das hat der Gerichtshof im Fall James
ausdrücklich festgestellt, indem er den Rückgriff auf die Notwendigkeit verneinte.160 Enteignungen sind daher nicht bereits deshalb unzulässig, weil sie möglicherweise ein milderes Mittel zur Verwirklichung des verfolgten Zwecks außer
Acht lassen. Darin besteht ein evidenter Unterschied zum deutschen Recht.161
ccc) Entschädigungserfordernis
(1) Bestehen einer generellen Entschädigungspflicht für Enteignungen
Elementar für die Rechtfertigung der Enteignung nach der Rechtsprechung ist die
Entschädigung für die erlittenen Vermögenseinbußen, ohne eine solche kein gerechter Interessenausgleich möglich wäre.162 Eine Enteignung ohne angemessene
Entschädigung stellt regelmäßig einen exzessiven Eingriff in das Grundrecht
dar,163 der durchaus als ausgleichspflichtiges »Sonderopfer« zu bezeichnen ist.164
Ist das Gleichgewicht zwischen Individual- und Allgemeininteressen in unverhältnismäßiger Weise verletzt, spricht der Gerichtshof auch von einer besonderen
und außergewöhnlichen Last, die dem Einzelnen auferlegt wird,165 welche dann
159 EGMR, Urteil v. 23.11.2000, Rs. Ehemaliger König, EuGRZ 2001, S. 397, 403, Rn. 99;
Wegener, in: Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, S. 119, Rn. 35.
160 EGMR, Urteil v. 21.2.1986, Rs. James u. a., EuGRZ 1988, S. 341, 345, Rn. 51.
161 Gelinsky, Der Schutz des Eigentums, S. 106; Wegener, in: Europäische Grundrechte und
Grundfreiheiten, S. 119, Rn. 36; Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention,
S. 366, Rn. 17.
162 Cremer, in: EMRK/GG, Kap. 22, Rn. 134; Riedel, EuGRZ 1988, S. 333, 338; Fiedler,
EuGRZ 1996, S. 354, 355; so auch: Müller-Michaels, Grundrechtlicher Eigentumsschutz
in der EU, S. 93.
163 Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, S. 368, Rn. 19.
164 Gelinsky, Der Schutz des Eigentums, S. 103; Peukert, in: Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar, S. 275, Rn. 49.
165 EGMR, Urteil v. 23.9.1982, Rs. Sporrong und Lönnroth, EuGRZ 1983, S. 523, 527, Rn.
73; EGMR, Urteil v. 22.9.1994, Rs. Hentrich, EuGRZ 1996, S. 593, 598, Rn. 49; EGMR,
Urteil v. 23.11.2000, Rs. Ehemaliger König, EuGRZ 2001, S. 397, 402, Rn. 90.
53
ebenfalls unter Lastengleichheitsgesichtspunkten auszugleichen ist. Entscheidend ist dabei, dass die Auswirkungen der Maßnahme auf den Eigentümer über
das hinausgehen, was der Staat seinen Bürgern an Lasten zumuten kann. Der
EGMR untersucht hierzu die Schwere des Eingriffs in die Eigentumsposition.166
Dabei berücksichtigt er umfassend die rechtlichen und praktischen Auswirkungen der staatlichen Maßnahme auf die Vermögenslage des Betroffenen.167 Die
Schwere des Eingriffs kann durch eine Ausgleichszahlung abgemildert werden,
was zumindest in vermögensmäßiger Hinsicht die Lastengleichheit wiederherstellt.168 Auf diese Weise weitet der Gerichtshof die Entschädigungspflicht auch
auf schwere Eingriffe unterhalb der Enteignungsschwelle aus, die unter dem Gesichtspunkt der Lastengleichheit auszugleichen sind.
Grundsätzlich besteht die Entschädigungspflicht nicht nur gegenüber Ausländern, sondern auch gegenüber Inländern.169 Denn anderenfalls wäre die Eigentumsgewährleistung ohne Gewährung eines Anspruchs auf Entschädigung bei
Entziehung des Eigentums auch unter Gesichtspunkten der Gleichbehandlung als
wertlos anzusehen.170 Diese Meinung wird heute (fast) einhellig von der Rechtsprechung und Literatur vertreten.171 Obgleich die Entschädigungspflicht nicht in
der Bestimmung des Art. 1, 1. ZP EMRK niedergeschrieben ist, ist damit nach allgemeiner Meinung die Entschädigung mit der Enteignung verbunden.172
Wichtig ist es, in diesem Zusammenhang noch einmal festzuhalten, dass die Entschädigungspflicht ebenso für de facto Enteignungen besteht, da diese, wie oben
festgestellt, ebenfalls vom Schutzbereich des Art. 1 Abs. 1 S. 2, 1. ZP EMRK erfasst werden.173 Darauf wird im Bereich der Haftung der Gemeinschaft noch einmal zurückgekommen werden.
(2) Höhe der zu gewährenden Entschädigung
Bereits aus der fehlenden Regelung der Entschädigungspflicht ergibt sich, dass
auch die Frage der Entschädigungshöhe nicht eindeutig bestimmt ist. In der internationalen Rechtspraxis wird häufig gefordert, dass die Entschädigung in ei-
166 EGMR, Urteil v. 7.7.1989, Rs. Tre Traktörer, Ser. A 159, Rn. 59 ff.
167 EGMR, Urteil v. 23.9.1982, Rs. Sporrong und Lönnroth, EuGRZ 1983, S. 523, 526, Rn.
70 f.; EGMR, Urteil v. 23.11.2000, Rs. Ehemaliger König, EuGRZ 2001, S. 397, 402, Rn.
91 ff.
168 EGMR, Urteil v. 23.9.1982, Rs. Sporrong und Lönnroth, EuGRZ 1983, S. 523, 527, Rn. 73.
169 Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, S. 368, Rn. 19.
170 Frowein, in: FS Kutscher, S. 189, 193.
171 A. A.: Böckstiegel, NJW 1967, S. 905, 907 f.
172 Vgl.: GA Jacobs, Schlussanträge v. 16.12.2004, Rs. C-347/03, Regione Autonoma Friuli-
Venezia Giulia, Slg. 2005, S. I-3789, 3813, Rn. 93.
173 Fiedler, EuGRZ 1996, S. 354, 355 f.
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nem »gerechten« und »angemessenen« Maße zu erfolgen habe.174 Ab wann nun
ein »gerechtes« und »angemessenes« Maß erreicht wird, ist streitig. Reduzieren
lässt sich die Problematik auf den Standpunkt der vollen Entschädigung und der
Entschädigung, die etwas unterhalb des vollen Ersatzes liegt.
Stimmen in der Literatur, die sich auf die Notwendigkeit voller Entschädigung
berufen, stützen sich auf Beispielsfälle internationaler Rechtsprechung, welche
den objektiven Verkehrswert der entzogenen Sache zum Zeitpunkt der Entziehung zugrunde legen.175 Andere dagegen gehen davon aus, dass die Frage, welche
Entschädigung zu gewähren sei, von den Umständen und dem Ergebnis einer gerechten Interessenabwägung abhängen müsse, wobei es insbesondere darauf ankomme, ob die Enteignung als generelle, unpersönliche Maßnahme eine unbestimmte Vielzahl von Personen oder ob sie als individuelle Maßnahme nur Einzelne treffe.176
Die Rechtsprechung hat sich bislang mit diesem lange schwelenden Streitpunkt
nicht ausführlich befasst.177 Vielmehr hat sie bereits seinerzeit in der Rs. James
zum Ausdruck gebracht, dass eine Enteignung ohne eine vernünftige Entschädigungszahlung, die sich am Wert der enteigneten Sache orientiere, normalerweise
einen ungerechtfertigten Eingriff in das Eigentumsrecht des Art. 1, 1. ZP EMRK
darstelle.178 Damit sollte jedoch keine Festlegung zugunsten eines vollen Wertersatzes vorliegen.179 Denn sogleich stellte der Gerichtshof fest, dass Art. 1, 1. ZP
EMRK zumindest keine Garantie vollen Wertersatzes unter jeglichen Umständen
darstelle.180 Die Haltung des Gerichtshofs ist getragen von dem Grundgedanken,
dass den Mitgliedstaaten bei der Festlegung des Entschädigungsmaßstabes ein
weiter Beurteilungsspielraum zusteht, der aus der unmittelbaren Kenntnis der Gesellschaft und deren Bedürfnisse herrührt.181 Die Straßburger Organe beschränken
ihre Überprüfung auf die Einhaltung des Willkürverbots.182 Ein konventionsrechtliches Entschädigungs-Mindestmaß wird nicht bestimmt. Vielmehr stellt sich die
Entschädigungshöhe als Entscheidung im Einzelfall dar. Im Laufe der Zeit haben
die Straßburger Organe zumindest entschieden, welche Umstände bei der Festlegung der Entschädigungspflicht unberücksichtigt bleiben müssen.
174 Siehe dazu: Peukert, in: Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar, S. 275 f., Rn. 51; Peukert,
EuGRZ 1981, S. 97, 110 mit weiteren Nachweisen.
175 Böckstiegel, Die allgemeinen Grundsätze des Völkerrechts über Eigentumsentziehung,
S. 83 f.
176 Dahm, Völkerrecht, Bd. I, S. 517; Verdross/Verosta/Zemanek, Völkerrecht, S. 367.
177 Hartwig, RabelsZ 1999, 561, 577.
178 EGMR, Urteil v. 21.2.1986, Rs. James u. a., EuGRZ 1988, S. 341, 346, Rn. 54.
179 Fiedler, EuGRZ 1996, S. 354, 356.
180 EGMR, Urteil v. 21.2.1986, Rs. James u. a., EuGRZ 1988, S. 341, 346, Rn. 54.
181 EGMR, Urteil v. 21.2.1986, Rs. James u. a., EuGRZ 1988, S. 341, 344, Rn. 46.
182 Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, S. 368, Rn. 20.
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In der Rs. Heilige Kloster entschied die Kommission, dass die Enteignung gänzlich ohne Entschädigung von Land- und Waldbesitz von Klöstern der griechischen Kirche bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände gerechtfertigt sein
könne.183 Als maßgeblich wurde dabei angesehen, dass sich die Stellung und
Funktion der Klöster seit dem Erwerb der Grundstücke im Mittelalter grundlegend geändert habe. Waren seinerzeit die Klöster Träger sozialer und kultureller
Aufgaben, so wird diese Aufgabe heute vom Staat erfüllt. Angesichts dieser und
noch anderer Umstände könne die Enteignung ohne Entschädigung erfolgen.184
Der EGMR hat dagegen gehalten und die Entziehung ohne Entschädigung als exzessive Sonderlast qualifiziert.185
Von der Entschädigungspflicht ausgenommen hat die Kommission konsequenterweise entgangene Gewinne und nicht realisierte Nutzungsmöglichkeiten,186 die
nicht vom Schutzbereich des Art. 1, 1. ZP EMRK erfasst werden.
Ebenso kann der für ein Grundstück gezahlte Kaufpreis bei der Berechnung der
Entschädigungshöhe außer Acht bleiben.187 Die Kläger sind in der Rs. Hakansson
und Sturesson ein bewusstes Risiko eingegangen, als sie ein Grundstück zu einem
Preis erwarben, der weit über dem Schätzwert lag.
Unverhältnismäßig ist eine Enteignung auch dann, wenn die Höhe der Entschädigung der besonderen Situation eines Landwirtes keine Rechnung trägt, indem
ihm 60% seiner landwirtschaftlich genutzten Flächen genommen werden und damit seine Lebensgrundlage entzogen wird. In diesem Fall sah es der Gerichtshof
sogar als vorrangig an, dass dem Landwirt anstelle von Geld Ländereien angeboten werden.188
Während der Gerichtshof in den Rs. James und Lithgow darlegte, dass Artikel 1,
1. ZP EMRK keine volle Entschädigung garantiere, äußerte er dagegen Jahre später in der Rs. Hentrich, dass »die Bemessung des materiellen Schadens vom gegenwärtigen Verkehrswert« auszugehen habe.189 Im Fall Hentrich handelte es sich
allerdings um eine Individualenteignung, wohingegen in den Rs. James und Lithgow die Enteignungen einen größeren Bevölkerungskreis mit dem Ziel einer sozialen Gestaltung der Gesellschaft betrafen. Aus der Rechtsprechungspraxis lässt
sich daher lediglich die Tendenz herleiten, im Falle von Individualenteignungen,
mit Anlehnung an den Gedanken des »Sonderopfers« den vollen Wertersatz, ori-
183 Siehe in: EGMR, Urteil v. 9.12.1994, Rs. Heilige Klöster, Ser. A 301-A, Rn. 73; EKMR,
Entscheidung v. 5.6.1990, Rs. Heilige Klöster, http://cmiskp.echr.coe. int.
184 EKMR, Entscheidung v. 5.6.1990, Rs. Heilige Klöster, http://cmiskp.echr.coe. int.
185 EGMR, Urteil v. 9.12.1994, Rs. Heilige Klöster, ÖJZ 1995, S. 428, 430.
186 EKMR, Entscheidung v. 13.12.1979, Rs. Andorfer Tonwerke, Yearbook of the European
Convention on Human Rights 1980, S. 190, 219, 221.
187 Vgl.: EGMR, Urteil v. 21.2.1990, Rs. Hakansson und Sturesson, Ser. A 171-A, Rn. 52 ff.
188 EGMR, Urteil v. 11.4.2002, Rs. Lallement, Rn. 23.
189 EGMR, Urteil v. 22.9.1994, Rs. Hentrich, EuGRZ 1996, S. 593, 600, Rn. 71.
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entiert am objektiven Verkehrswert der enteigneten Sache, zu gewähren. Liegt indes eine Globalenteignung vor, so soll sich die Kompensation nicht auf den vollen, sondern auf einen angemessenen, unter dem Marktwert liegenden Ersatz beschränken.190 Eine Festlegung auf Kriterien zur Ermittlung des Mindestmaßes erfolgt nicht. Der Beurteilungsspielraum der Mitgliedstaaten ist sehr weit und verpflichtet diese nicht den objektiven Wert der Sache zur Entschädigungsgrundlage
zu machen. Für die Enteigneten bleibt es damit ungewiss, in welchem Umfange
sie bei Globalenteignungen mit einer Entschädigung rechnen können.191 Eine gerechte Abwägung zwischen Eigentümer- und Allgemeininteressen ist unter der
gegebenen Rechtspraxis nicht möglich. Lediglich wenn die geleistete Entschädigung deutlich unter dem Verkehrswert verbleibt – was den Vergleich der gezahlten oder angebotenen Entschädigung mit dem objektiven Verkehrswert erfordert192 – und damit den Wesensgehalt des Entschädigungsanspruchs antastet, liegt
eine Verletzung von Art. 1, 1. ZP EMRK vor.193
(3) Eigene Bewertung
Ausgangspunkt für die Beurteilung der Entschädigungshöhe sollte eine funktionsorientierte Bemessung der Entschädigung sein. Funktionsorientiert im Bezug
auf das Eigentums deshalb, weil das Eigentum in seiner Garanten-Funktion für
eigenwirtschaftliche Lebensführung der Staats- und EU-Bürger zu sehen ist. Die
Eigentumsgewährleistung stellt das Korrelat von sozialer, wirtschaftlicher und
politischer Gerechtigkeit dar. Das bedeutet, dass der Eigentümer mit der Entschädigungsleistung, und damit ist insbesondere die Höhe der Leistung in Rechnung
zu stellen, die Möglichkeit erhalten muss, seine eigenwirtschaftliche, selbstverantwortliche Lebensführung wieder aufzunehmen oder fortzuführen. Aber selbst
der volle Wertersatz vermag den status quo ante nicht wirklich herzustellen, da er
nicht die ursprüngliche Summe der Eigentümerbefugnisse oder die vollständige
Substanz des beeinträchtigten Gegenstandes ersetzt. Der volle Wertersatz gewährt zumindest die Möglichkeit, dem vorherigen Zustand bspw. durch den Neuerwerb des Vermögensgegenstandes, nahe zu kommen. Die Bestandsgarantie des
Eigentums schlägt um in eine entsprechende Wertgarantie, ohne dies an hiesiger
Stelle weiter bewerten zu wollen. Ein allgemein gültiger Standard für die Bestimmung der Entschädigungshöhe kann nicht unbedingt festgelegt werden. So ist es
möglich, dass im Falle von entgegenstehenden öffentlichen Interessen nach den
jeweiligen Umständen des Einzelfalls eine Reduzierung der Entschädigungs-
190 So auch: Hartwig, RabelsZ 1999, S. 561, 577; Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, S. 368, Rn. 20.
191 So auch: Peukert, EuGRZ 1981, S. 97, 110.
192 Peukert, EuGRZ 1981, S. 97, 110.
193 Vgl.: EKMR, Entscheidung v. 13.12.1979, Rs. Andorfer Tonwerke, Yearbook of the European Convention on Human Rights, 1980, S. 190, 221, 223; EGMR, Urteil v. 29.7.2004,
Rs. Scordino (Nr.1), Rn. 97 ff.
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summe angezeigt ist. Im Fall James nannte der Gerichthof beispielsweise wirtschaftliche und soziale Reformen als mögliche Eingrenzungsfälle voller Entschädigungszahlungen.194 Die genannten sozial- und wirtschaftspolitischen Reformen
werden in ihrer Globalwirkung keine Fälle von Individualenteignungen provozieren, so dass bei entsprechender Reduzierung der Entschädigungssumme Konformität zu der Tendenz besteht, im Falle von Kollektiventeignungen die Entschädigungshöhe unterhalb des vollen Wertersatzes anzusiedeln. Dementsprechend
stützt dies den Ansatz, vollen Wertersatz bei Individualenteignungen zu gewähren. Kommt der Enteignungsmaßnahme gerade nicht die vorstehende Globalwirkung zu, drückt sie umso mehr den Charakter des zu entschädigenden »Sonderopfers« aus. Es muss nur eines klargestellt sein: Geht man den Weg mit, auch
Entschädigungssummen unterhalb des vollen Wertersatzes als mit der Eigentumsgarantie vereinbar anzusehen, dann kann und muss es sich ausschließlich um
höherrangige, besonders wichtige öffentliche Interessen handeln. Anderenfalls
würde die Wertgarantie zu einer bedeutungsleeren Hülse verkommen, da ein öffentliches Interesse bereits Voraussetzung für die Rechtfertigung der Enteignung
ist, wie bereits dargestellt worden ist. Insoweit wäre die Gefahr groß, dass ein zu
geringer Maßstab des öffentlichen Interesses immer auch zu einer Verringerung
der Entschädigungssumme führte, was dann wiederum den sukzessiven Abbau effektiver Eigentumsgewährleistung nach sich zöge.
Nach der Auffassung der Konventionsorgane müsse es den Mitgliedstaaten überlassen bleiben, die Entschädigungshöhe festzusetzen. Dem EGMR blieben insoweit nur Überprüfungskompetenzen hinsichtlich einer Willkürentscheidung. Bedenklich ist diese Ansicht insoweit, als dass die Betroffenen keiner, auch nur theoretisch bestehenden, klaren Linie eines Entscheidungsorgans gegenüber stehen,
sondern ausschlaggebend die Auslegungspraxen der jeweils zuständigen nationalen Organe sind. Im Hinblick auf die Gewährung effektiven Rechtsschutzes ist
dies eine argwöhnisch zu betrachtende Entwicklung, die auch die Widersprüchlichkeit der Konventionspraxis selbst widerspiegelt. Einerseits gehen die Konventionsorgane davon aus, dass ein gerechter Ausgleich der Interessen prinzipiell nur
unter voller Leistung einer Entschädigung erreicht werden kann, und andererseits
aber gehört auch dazu, dass eben die zum gerechten Ausgleich führende Entschädigungshöhe von den Organen der EMRK selbst festgelegt wird und ein Verstoß
gegen die EMRK von den Konventionsorganen nur bei evidentem willkürlichen
nationalen Vorgehen angenommen wird. Insoweit besteht Klärungsbedarf auch
und gerade im Hinblick auf die Ausstrahlungswirkung auf die Rechtsprechung
der EuGH.
194 EGMR, Urteil v. 21.2.1986, Rs. James u.a., EuGRZ 1988, S. 341, 346, Rn. 54.
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b) Rechtfertigung von Nutzungsbeschränkungen
Nutzungsbeschränkende Eigentumsregelungen folgen im Wesentlichen denselben Rechtfertigungsvoraussetzungen wie Enteignungen. Die Begriffe »Öffentliches Interesse« und »Allgemeininteresse« werden synonym verstanden.195 Insofern kann auf die Ausführungen zum »Öffentlichen Interesse« verwiesen werden.
Schwerpunkt der Prüfung ist auch hier die Verhältnismäßigkeit, nach der ein gerechtes Gleichgewicht zwischen dem Allgemeininteresse und dem Eigentümerinteresse gefunden werden muss. Ebenso wie bei Enteignungen billigt der Gerichtshof den Mitgliedstaaten einen weiten Beurteilungsspielraum zu, der von
den Konventionsorganen lediglich auf seine offensichtlich unvernünftige Grundlage hin überprüft wird.196 Eine Entschädigungspflicht für Nutzungsbeschränkungen wird von der Mehrheit der Richter des EGMR abgelehnt.197
6. Zusammenfassung der Eigentumsgewährleistung nach Art. 1, 1. ZP EMRK
Die dezentrale Stellung des Eigentumsrechts in der EMRK im 1. ZP zieht keine
verringerte Bedeutung nach sich. Der Eigentumsbegriff wird weit im Sinne allgemeinen völkerrechtlichen Verständnisses verstanden und stellt in seiner Ausgestaltung einen Minimalstandard eigentumsrechtlicher Gewährleistungen dar.198
Erfasst wird klassischer Weise das Sacheigentum aber auch Eigentumsrechte an
privatrechtlichen Forderungen und Anteilen, Geistigem Eigentum, am Goodwill,
am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb etc. Der Begriff der Eigentumsentziehung teilt sich auf in die Bereiche der Individualenteignung und der
Nationalisierung unter Ausschluss der Konfiskationen. Insbesondere wichtig ist,
dass auch die de facto Enteignung vom Entzugsbegriff erfasst wird. Nutzungsbeschränkungen drücken die soziale Verpflichtung des Eigentums an sich aus und
stehen im Abgrenzungsverhältnis zu jeglicher Entzugsform, zum einen durch die
Schwere der Belastung, zum anderen im Hinblick auf das Entschädigungserfordernis, welches gerade nicht durch den Normtext zum Ausdruck kommt, sondern
über den Verhältnismäßigkeits- und Lastengleichheitsgrundsatz als dem Eigentumsrecht inhärent Berücksichtigung findet. Die Zulässigkeit von Eigentumseingriffen wird von den Konventionsorganen im Rahmen eines den Mitgliedstaaten
zugebilligten weiten Ermessensspielraums überprüft. In diesen weiten zugestanden Ermessensbereich fällt auch die Festsetzung der Entschädigungshöhe, die
wie die Entschädigung selbst, keinen Eingang in die Textfassung gefunden hat.
195 Gelinsky, Der Schutz des Eigentums, S. 172; Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, S. 369, Rn. 21.
196 Gelinsky, Der Schutz des Eigentums, S. 175 ff. mit weitergehender detaillierter Fallanalyse.
197 Zur Gegenauffassung der Richter Bindschedler-Robert; Russo; Foighel siehe das Sondervotum: EGMR, Urteil v. 29.11.1991, Rs. Pine Valley Developments, Ser. A 222.
198 Offermann-Clas, Eigentum in den Europäischen Gemeinschaften, S. 124.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Studie begründet, weshalb die Haftung der Europäischen Gemeinschaft für rechtmäßige Rechtsetzungsakte keinen Verstoß gegen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts darstellt. Im Gegenteil: Diese Haftung für Sonderopfer ist gemeinschaftsrechtskonform und liefert zugleich einen Beitrag zur grundrechtlichen Anerkennung der Entschädigungspflicht für eigentumsentziehende oder -entwertende Maßnahmen. Mittels einer detaillierten rechtsvergleichenden Untersuchung zur Entschädigungspflicht bei Eigentumsentzugsmaßnahmen und zur gemeinschaftsrechtlichen Grundlage der europäischen Sonderopferhaftung stellt die Bearbeitung einen alternativen Ansatzpunkt für die Sonderopferhaftung bereit und liefert einen neuen Diskussionspunkt zu einer aktuellen Rechtsprechung.