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Zusammenfassung und abschließende Stellungnahme
In dieser Untersuchung wurden allgemeingültige Kriterien zur Abgrenzung einseitiger wettbewerbswidriger Maßnahmen im Vertikalverhältnis von Vereinbarungen
bzw. aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen im Sinne des Art. 81 I EG erarbeitet. Zudem wurde ermittelt, wie auch bei enger Auslegung der Koordinierungstatbestände des Art. 81 I EG einseitige wettbewerbswidrige Maßnahmen kartellrechtlich unterbunden werden können, selbst wenn das handelnde Unternehmen
keine marktbeherrschende Stellung innehat. Dabei fand das deutsche Kartellrecht
besondere Berücksichtigung.
I. Rechtliche und wettbewerbstheoretische Grundlagen
Hinsichtlich des Grundverständnisses der Koordinierungstatbestände Vereinbarung
und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen im Sinne des Art. 81 I EG sowie
des § 1 GWB ist insbesondere hervorzuheben, dass aufeinander abgestimmte
Verhaltensweisen ein zweigliedriges Tatbestandsmerkmal darstellen; sie erfordern
nämlich außer einer Verhaltensabstimmung zwischen Unternehmen auch deren
zumindest teilweise Umsetzung durch ein marktrelevantes Verhalten.
Die Verhaltensabstimmung setzt die gegenseitige Kontaktnahme zwischen Unternehmen voraus. Bei einer Abstimmung nur durch Marktverhalten, ohne dass es
zwischen den Unternehmen zu Kontakten kommt, liegen folglich keine aufeinander
abgestimmten Verhaltensweisen vor.
Die Frage nach der Abgrenzung von Vereinbarungen zu aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen besitzt theoretische und praktische Relevanz. Die Grenzlinie
zwischen beiden Koordinierungstatbeständen verläuft beim Rechtsbindungswillen,
der für das Vorliegen einer Vereinbarung erforderlich ist.
Im Rahmen der teleologischen, aber auch der historischen Auslegung der Koordinierungstatbestände des Art. 81 I EG ist das vorzugswürdige wettbewerbstheoretische Leitbild zu berücksichtigen. Die Auseinandersetzung mit den maßgeblichen
Leitbildern ergab, dass das Konzept der Wettbewerbsfreiheit und der Ordoliberalismus gegenüber dem Konzept des funktionsfähigen Wettbewerbs und der Chicago-
Schule der Antitrust-Analyse den Vorzug verdienen. Eine Entscheidung für eines
der beiden erstgenannten – eng verwandten und unscharf voneinander zu trennenden
– Leitbilder war für die Zwecke dieser Untersuchung nicht erforderlich. Sowohl das
Konzept der Wettbewerbsfreiheit als auch der Ordoliberalismus legen in überzeugender Weise dar, dass vertikales Unternehmensverhalten dem Wettbewerb schaden
kann und in diesen Fällen per se zu verbieten ist.
Der Entscheidungspraxis des EuGH und der Kommission liegt hingegen kein einheitliches wettbewerbstheoretisches Leitbild zugrunde. Auch mit dem „neuen“
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ökonomischeren Ansatz ist nicht die Festlegung auf ein bestimmtes Leitbild verbunden. Der ökonomischere Ansatz stellt auch nicht selbst ein eigenständiges
wettbewerbstheoretisches Modell dar.
II. Die Abgrenzung einseitiger Maßnahmen von Vertikalvereinbarungen
Die herkömmliche weite Auslegung des Koordinierungstatbestandes Vereinbarung,
die Kommission und EuGH im Zusammenhang mit auf den ersten Blick einseitigen
Maßnahmen vornehmen, muss sich an rechtsgemeinschaftlichen Grundsätzen messen lassen. Denn Kommission und EuGH sind bei der Anwendung des Art. 81 I EG
an das gemeinschaftliche Rechtsprinzip sowie in kartellrechtlichen Bußgeldverfahren, aufgrund der strafrechtsähnlichen Rechtsnatur der Geldbußen, zusätzlich auch
an das gemeinschaftsrechtliche Analogieverbot gebunden. Die Gemeinschaftsorgane
verstoßen jedoch gegen das gemeinschaftliche Rechtsprinzip sowie den Grundsatz
der Rechtssicherheit als dessen Unterprinzip, wenn sie den Koordinierungstatbestand Vereinbarung – wie beispielsweise im Fall Sandoz PF1179 – derartig weit
auslegen, dass das Schweigen der einen Partei zur wettbewerbswidrigen Maßnahme
der Gegenpartei und ihre bloße Fortsetzung der Geschäftsbeziehungen als Zustimmung gedeutet wird.
Gerade in dem durch Art. 1 II VO 1/2003 neu eingeführten System der
Legalausnahme ist aber eine strenge Beachtung des gemeinschaftlichen
Rechtsprinzips und der aus diesem folgenden Unterausprägungen, wie etwa dem
Grundsatz der Rechtssicherheit, zu fordern. Denn der Übergang zum System der
Legalausnahme hat für die betroffenen Unternehmen grundsätzlich zu weniger
Rechtssicherheit geführt; dies darf indes nicht zu ihren Lasten gehen. Daher ist das
gemeinschaftliche Rechtsprinzip im Sinne der Vertragsmäßigkeit des Handelns der
Gemeinschaftsorgane stets zu beachten; dem Grundsatz der Rechtssicherheit muss
bei einer Abwägung mit Gesichtspunkten wie Effizienz oder Leistungsfähigkeit der
Verwaltung regelmäßig der Vorrang eingeräumt werden.
In einem Bußgeldverfahren ist eine Auslegung, die Schweigen und die bloße
Fortsetzung der Geschäftsbeziehungen als konkludente Zustimmung zu einer
Vereinbarung wertet, zusätzlich zum dann ebenfalls vorliegenden Verstoß gegen das
gemeinschaftliche Rechtsprinzip sowie den Grundsatz der Rechtssicherheit als Verstoß gegen das gemeinschaftsrechtliche Analogieverbot zu werten.
Daraus folgt, dass bei Schweigen und bloßer Fortsetzung der Geschäftsbeziehungen durch eine Partei nach wettbewerbswidrigen Maßnahmen der Gegenpartei keine
Vertikalvereinbarung zustande kommt; es liegen vielmehr lediglich einseitige Maßnahmen, die nicht unter Art. 81 I EG fallen, vor.
1179 Kommission, Entscheidung vom 13.07.1987, Sandoz PF, Abl. L 222 v. 10.08.1987, 28;
EuGH v. 11.01.1990, Sandoz PF, Rs. 277/87, Slg. 1990, I-45.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Unter welchen rechtlichen Voraussetzungen fällt scheinbar einseitiges Handeln eines Unternehmens, das den Wettbewerb beschränkt (z. B. Maßnahmen eines Herstellers gegen Parallelimporte), noch unter das Kartellverbot des Art. 81 Abs. 1 EG-Vertrag? Die Antwort auf diese Frage klärt die Weite des Anwendungsbereichs des Kartellverbots und betrifft damit die Grundlagen des Kartellrechts.
Hierzu entwickelt der Autor rechtliche Kriterien für die praxisrelevante und oft schwierige Abgrenzung zwischen einseitigen Maßnahmen im Vertikalverhältnis einerseits und den Handlungsformen des Kartellverbots (Vereinbarungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen) andererseits. Zu dieser Thematik ist eine Reihe von Entscheidungen der Europäischen Kommission und des EuGH ergangen, die vom Autor aufgearbeitet und kritisch hinterfragt werden.
Die Arbeit macht zudem deutlich, unter welchen Voraussetzungen insbesondere in laufenden Geschäftsverbindungen zwischen Unternehmen wettbewerbswidrige Vereinbarungen oder abgestimmte Verhaltensweisen zustande kommen, die gegen das Kartellverbot verstoßen. Dabei finden die rechtlichen Besonderheiten selektiver Vertriebssysteme besondere Berücksichtigung.