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IV. Lückenfüllung durch § 1 GWB?
1. Fragestellung
Es gilt zu untersuchen, ob die konstatierte Regelungslücke auf europäischer Ebene
für einseitige Maßnahmen nicht marktbeherrschender Unternehmen mittels Anwendung des § 1 GWB geschlossen werden kann1057. Dies wäre dann der Fall, wenn
Bundeskartellamt und Kartellsenate bei Vorliegen einer einseitigen Maßnahme auf
europäischer Ebene dennoch gleichzeitig im Rahmen des § 1 GWB eine Vereinbarung oder abgestimmte Verhaltensweisen bejahen könnten.
Denkbar wäre es beispielsweise, hinsichtlich § 1 GWB geringere rechtliche
Anforderungen an das Vorliegen der Zustimmung der Vertriebshändler zu einer
wettbewerbswidrigen Maßnahme des Herstellers anzunehmen als hinsichtlich
Art. 81 I EG. In einem derartigen Fall läge Art. 81 I EG mangels Koordinierungstatbestandes nicht vor, § 1 GWB wäre hingegen einschlägig.
2. Die Reichweite des durch Art. 3 II S. 1 VO 1/2003 statuierten Vorrangs
Ob eine derartige Anwendung des § 1 GWB bei gleichzeitiger Nichteinschlägigkeit
des Art. 81 I EG (mangels Vereinbarung oder abgestimmter Verhaltensweisen)
möglich ist, hängt von der Reichweite des Vorrangs des Gemeinschaftskartellrechts
vor dem nationalen Kartellrecht ab, den Art. 3 II S. 1 VO 1/2003 statuiert. Diese
Reichweite gilt es daher im Folgenden näher zu bestimmen.
In diesem Zusammenhang ist insbesondere fraglich, ob sich der Vorrang des Gemeinschaftskartellrechts nur auf das Tatbestandsmerkmal der Wettbewerbsbeschränkung bezieht, oder ob er auch für die sonstigen Tatbestandsmerkmale des
Art. 81 I EG, insbesondere die Koordinierungstatbestände Vereinbarung und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen, gilt1058. Ersterenfalls wäre die Anwendung
strengeren nationalen Kartellrechts – bei gegebenem Zwischenstaatlichkeitsbezug –
nur dann gemäß Art. 3 II S. 1 VO 1/2003 ausgeschlossen, wenn Art. 81 I EG mangels (spürbarer) Wettbewerbsbeschränkung nicht einschlägig wäre. Letzterenfalls
wäre auch der für diese Untersuchung relevante Fall von der Vorrangwirkung erfasst, dass Art. 81 I EG mangels Vereinbarung oder abgestimmter Verhaltensweise
ausschiede, da eine einseitige Maßnahme vorläge. Dann könnte in diesen Fällen § 1
1057 Eine derartige Lückenfüllung kommt in Betracht, da im Rahmen der 7. GWB-Novelle § 1
GWB umfassend mit Art. 81 I EG synchronisiert und Vertikalvereinbarungen in den
Anwendungsbereich des § 1 GWB einbezogen wurden (s. hierzu o. 1. Kap. A. I. 2. sowie A.
II. 2.).
1058 Vgl. zu dieser Fragestellung auch Eilmansberger, ZWeR 2004, 285, 302. – Zur Frage, ob
dem Gemeinschaftskartellrecht auch bei tatbestandlichem Nichtvorliegen des Art. 81 I EG
Vorrang zukommen kann, nach alter Rechtslage s. R. Walz, Vorrang, S. 61 ff. sowie S. 132
Fn. 88.
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GWB nicht zur Anwendung kommen, mithin die auf europäischer Ebene konstatierte Regelungslücke jedenfalls nicht mittels § 1 GWB geschlossen werden.
Dafür, dass sich die Vorrangwirkung lediglich auf das Tatbestandsmerkmal der
Wettbewerbsbeschränkung bezieht, spricht der Wortlaut des Art. 3 II S. 1
VO 1/2003. Demnach darf die Anwendung des einzelstaatlichen Wettbewerbsrechts
nicht zum Verbot von Vereinbarungen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen bei bestehendem Zwischenstaatlichkeitsbezug führen, welche „…den
Wettbewerb im Sinne des Artikels 81 Absatz 1 des Vertrags nicht einschränken…“1059 Dies lässt sich dergestalt interpretieren, dass das Vorliegen einer der
Koordinierungstatbestände des Art. 81 I EG vorausgesetzt wird, aber das Tatbestandsmerkmal der spürbaren Wettbewerbsbeschränkung gemäß Art. 81 I EG nicht
erfüllt ist1060. Infolgedessen könnte beispielsweise ein selektives Vertriebssystem,
das als einfache Fachhandelsbindung ausgestaltet ist und daher mangels Wettbewerbsbeschränkung nicht gegen Art. 81 I EG verstößt1061, nicht gemäß § 1 GWB
verboten werden1062. Der Fall, dass Art. 81 I EG aufgrund Fehlens einer
Vereinbarung oder abgestimmten Verhaltensweise nicht durchgreift, da lediglich
eine einseitige wettbewerbswidrige Maßnahme gegeben ist, wäre dagegen nicht von
der Vorrangwirkung des Art. 3 II S. 1 VO 1/2003 erfasst.
Auch Erwägungsgrund 8 Satz 3 der VO 1/2003 lässt sich so verstehen, dass der
Vorrang des Gemeinschaftskartellrechts nur für die Fälle gelten soll, in denen
sowohl nach nationalem als auch nach europäischem Recht eine Vereinbarung, ein
Beschluss oder eine abgestimmte Verhaltensweise vorliegt. Denn ihm zufolge „muss
gewährleistet werden, dass die Anwendung innerstaatlichen Wettbewerbsrechts auf
Vereinbarungen, Beschlüsse und abgestimmte Verhaltensweisen im Sinne von Artikel 81 Absatz 1 des Vertrags nur dann zum Verbot solcher Vereinbarungen,
Beschlüsse und abgestimmten Verhaltensweisen führen darf, wenn sie auch nach
dem Wettbewerbsrecht der Gemeinschaft verboten sind1063. Daraus könnte man
ableiten, dass in Fällen, in denen die Koordinierungstatbestände des § 1 GWB weit
ausgelegt werden und nur gemäß § 1 GWB, nicht aber gemäß Art. 81 I EG eine Koordinierung vorliegt, die Vorrangwirkung des Art. 3 II S. 1 VO 1/2003 nicht
greift1064.
1059 Die weiteren Alternativen des Art. 3 II S. 1 VO 1/2003 – „oder die Bedingungen des
Artikels 81 Absatz 3 des Vertrags erfüllen oder durch eine Verordnung zur Anwendung von
Artikel 81 Absatz 3 des Vertrags erfasst sind“ – interessieren hinsichtlich des hier zu
untersuchenden Problems nicht.
1060 Vgl. Schröter, in: von der Groeben/Schwarze, EU-/EG-Vertrag, Bd. 2, Art. 83 Rn 51; im
Ergebnis ebenso Hossenfelder/Lutz, WuW 2003, 118, 120 f.; Rehbinder, in: FS Immenga,
303, 310.
1061 S. dazu o. 4. Kap. B. II. 1.
1062 Vgl. Rehbinder, in: FS Immenga, 303, 310.
1063 Hervorhebungen nur hier.
1064 A.A. jedoch Eilmansberger, ZWeR 2004, 285, 302: Dieser versteht den Wortlaut des
Erwägungsgrundes 8 S. 3 VO 1/2003 eher so, dass der Vorrang des EG-Kartellverbots
umfassend zu verstehen ist.
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Für einen lediglich engen Vorrang des Art. 81 I EG lässt sich auch der systematische Zusammenhang des Art. 3 II S. 1 mit Art. 3 I S. 1 VO 1/2003 anführen. Denn
die Pflicht der mitgliedsstaatlichen Wettbewerbsbehörden und Gerichte zur parallelen Anwendung des Gemeinschaftskartellrechts wird gemäß Art. 3 I S. 1 VO 1/2003
nur dann ausgelöst, wenn ein Koordinierungstatbestand im Sinne des Art. 81 I EG
erfüllt und Zwischenstaatlichkeitsbezug gegeben ist. Daraus könnte man nun
folgern, dass ohne Vorliegen eines derartigen Koordinierungstatbestandes keine
Pflicht der Mitgliedstaaten zur Anwendung des Art. 81 I EG besteht und es folglich
nicht zur Vorrangwirkung des Art. 3 II S. 1 VO 1/2003 kommen kann1065.
Weiterhin lässt sich für einen lediglich engen Vorrang des Art. 81 I EG gemäß
Art. 3 II S. 1 VO 1/2003 anführen, es widerspräche dem Subsidiaritätsprinzip des
Art. 5 II EG, wenn man den Vorrang des Art. 81 I EG umfassend verstünde und auf
alle seine Tatbestandsvoraussetzungen erstreckte. Denn damit würde Art. 81 EG von
einem kartellrechtlichen Mindeststandard zu einem Maximalstandard für Wettbewerbsverhalten mit Gemeinschaftsdimension umdefiniert1066.
Des Weiteren lassen auch teleologische Überlegungen den Schluss zu, den Vorrang des Art. 81 I EG eng zu verstehen und auf das Tatbestandsmerkmal der
Wettbewerbsbeschränkung zu begrenzen. Denn die gleichzeitige Anwendbarkeit
von innerstaatlichem und europäischem Recht auf denselben wirtschaftlichen Sachverhalt ist vor allem aus zwei Gründen problematisch1067: Zum einen besteht die
Gefahr, dass nach Gemeinschaftsrecht und nach nationalem Recht einander widersprechende Entscheidungen erlassen werden, die der Adressat nicht beide gleichzeitig befolgen kann. Zum anderen besteht für die betroffenen Unternehmen ein gewisses Risiko, wegen eines Wettbewerbsverstoßes doppelt verfolgt zu werden1068. Diese
beiden Gesichtspunkte, die die Einheitlichkeit des Binnenmarktes beeinträchtigen
können, sind jedoch in der Konstellation, die vorliegend zu untersuchen ist, gar nicht
einschlägig. Denn wenn das Gemeinschaftskartellrecht eine Vereinbarung oder
abgestimmte Verhaltensweise ablehnt, das nationale Kartellrecht hingegen eine solche bejaht, besteht für die betroffenen Unternehmen weder die Gefahr einer doppelten Sanktionsverhängung noch kommt es zum Erlass einander widersprechender
Entscheidungen. Berücksichtigt man nur diese beiden Gesichtspunkte, so würde es
daher die wirksame Durchsetzung der Wettbewerbsregeln der Gemeinschaft nicht
beeinträchtigen, wenn das nationale Recht in dieser Konstellation strenger sein
dürfte.
Die entgegengesetzte Lösungsmöglichkeit des Problems besteht gleichwohl darin,
den Vorrang des Art. 81 I EG vor dem nationalen Kartellrecht, den Art. 3 II S. 1 VO
1/2003 anordnet, weit zu verstehen. Dann könnte ein unternehmerisches Verhalten
1065 Vgl. de Bronett, Kartellverfahrensrecht, Art. 3 Rn 4.
1066 Vgl. Klocker, WuW 2002, 1151; Glöckner, WRP 2003, 1327, 1334.
1067 Vgl. hierzu Schröter, in: von der Groeben/Schwarze, EU-/EG-Vertrag, Bd. 2, Art. 83 Rn 48.
1068 – auch wenn es ein allgemeiner Billigkeitsgedanke gebietet, die frühere
Sanktionsentscheidung bei der Bemessung der später zu verhängenden Sanktion zu
berücksichtigen (EuGH v. 13.02.1969, Walt Wilhelm, Rs. 14/68, Slg. 1969, 1, Rn 11).
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in Fällen, in denen Art. 81 I EG mangels Vereinbarung oder abgestimmter
Verhaltensweise ausscheidet, nicht gemäß § 1 GWB untersagt werden.
Hierfür spricht, dass es ein herausragendes Ziel der Reform des
Kartellverfahrensrechts darstellte, innerhalb des gesamten Binnenmarktes die gleichen Wettbewerbsregeln gleichmäßig zur Anwendung zu bringen und einen einheitlichen materiellrechtlichen Rahmen für das Kartellrecht zu schaffen1069. Diese
Zielsetzung kam bereits in Art. 3 des Verordnungsvorschlags der Kommission zum
Ausdruck, der die alleinige Anwendung des EG-Rechts vorsah1070. Auch mit der
Endfassung des Art. 3 VO 1/2003 wird das Ziel, einen einheitlichen materiellrechtlichen Rahmen zu schaffen, verfolgt1071. Die Umsetzung dieses Zieles würde jedoch
beeinträchtigt, wenn für den Fall, dass auf europäischer Ebene keine Vereinbarung
vorliegt, auf nationaler Ebene hingegen das Vereinbarungsmerkmal erfüllt ist, die
Vorrangwirkung des Art. 3 II S. 1 VO 1/2003 nicht eingreifen würde. Wenn unterschiedliche Ergebnisse des nationalen und des europäischen Kartellrechts ihre Ursache in der größeren Strenge des innerstaatlichen Rechts haben, würde eine parallele
Anwendung nicht dem Ziel eines möglichst homogen geordneten Wettbewerbs in
der Gemeinschaft entsprechen1072.
Zweck des Art. 3 II S. 1 VO 1/2003 ist daher, eine faktisch verschiedene Wirkung
des Gemeinschaftsrechts auszuschließen, die von der tatsächlichen Anwendung der
gemeinschaftsrechtlichen und der mitgliedsstaatlichen Verbotsnormen abhängig
ist1073.
Zudem spricht für diese Ansicht auch der kollisionsrechtliche Charakter der Vorrangregel des Art. 3 II S. 1 VO 1/20031074.
Teleologische Argumente führen deshalb, trotz der oben im Zusammenhang mit
der Gegenauffassung durchgeführten teleologischen Überlegungen, letztlich zu der
Erkenntnis, dass der Vorrang des Art. 81 I EG umfassend verstanden werden und
sich auf seinen gesamten Tatbestand beziehen muss. Dies erscheint manchen gar als
logisch und rechtspolitisch beinahe zwingend1075.
1069 Braun, in: Behrens/Braun/Nowak (Hrsg.), Wettbewerbsrecht im Umbruch, 167, 195;
Hossenfelder/Lutz, WuW 2003, 118, 120; Schwarze/Weitbrecht, Kartellverfahrensrecht, § 3
Rn 7, 14; Montag/Rosenfeld, ZWeR 2003, 107, 123.
1070 S. Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82
EG-Vertrag niedergelegten Wettbewerbsregeln und zur Änderung der Verordnungen (EWG)
Nr. 1017/68, (EWG) Nr. 2988/74, (EWG) Nr. 4056/86 und (EWG) Nr. 3975/87
(„Durchführungsverordnung zu den Artikeln 81 und 82 EG-Vertrag“), Abl. C 365 E v.
19.12.2000, 284, Begründung IV. Kap. I Art. 3.; s. auch bereits o. 6. Kap. B. II. 3. a).
1071 Vgl. Erwägungsgrund 8 S. 2 VO 1/2003.
1072 So zur alten Rechtslage bereits Nicolaysen, Europarecht II, S. 249; dieser Gedanke lässt sich
auf die hier zu untersuchende Fragestellung übertragen.
1073 Mestmäcker/Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, § 5 Rn 21.
1074 Schütz, in: Gemeinschaftskommentar, Art. 3 VO 1/2003 Rn 3.
1075 So Schütz, in: Gemeinschaftskommentar, Art. 3 VO 1/2003 Rn 13; im Ergebnis ebenso
Immenga, in: MüKo BGB, Bd. 11, IntWettbR/IntKartR Rn 4; Glöckner, WRP 2003, 1327,
1333 f.; Bechtold/Bosch/Brinker/Hirsbrunner, Einleitung Rn 23 sowie Vor Art. 1 VO 1/2003
Rn 5; Mestmäcker/Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, § 4 Rn 5; Klocker, WuW
2002, 1151; Klees, Kartellverfahrensrecht, § 4 Rn 10, 14, 18.
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Der Vorrang des Art. 81 I EG vor dem nationalen Kartellrecht, den Art. 3 II S. 1 VO
1/2003 statuiert, ist somit weit zu verstehen. Selbst wenn das Kartellverbot des
Art. 81 I EG nicht durchgreift, weil keiner der Koordinierungstatbestände, sondern
vielmehr eine einseitige Maßnahme vorliegt1076, darf gemäß Art. 3 II S. 1 VO 1/2003
die Verhaltensweise nicht nach § 1 GWB verboten werden.
3. Eigenständige Konzeption der Tatbestandsmerkmale in § 1 GWB?
a) Die Vorgaben des Gemeinschaftskartellrechts
aa) Die faktische Verdrängungswirkung des Art. 3 II S. 1 VO 1/2003
Aufgrund dieses weit verstandenen Vorrangs des Art. 81 I EG in Kollisionsfällen
stellt sich die Frage, inwieweit Bundeskartellamt und Kartellsenate bei gegebenem
Zwischenstaatlichkeitsbezug noch eine eigenständige Konzeption der Tatbestandsmerkmale des § 1 GWB, insbesondere der Koordinierungstatbestände der
Vereinbarung und der aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen, pflegen können.
Denn Art. 3 II S. 1 VO 1/2003 macht nicht hinreichend deutlich, ob nationales
Kartellrecht auch daran gehindert werden soll, schon das Vorliegen einer
Vereinbarung oder abgestimmten Verhaltensweise abweichend zu beurteilen1077.
Art. 3 I S. 1 VO 1/2003 enthält hierzu keine Rückschlüsse, denn die Pflicht zur
parallelen Anwendung des Art. 81 I EG wird nur hinsichtlich Koordinierungstatbeständen „im Sinne des Artikels 81 Absatz 1 des Vertrags“ ausgelöst. Bei
abweichender, insbesondere weiter gehender Interpretation des Vereinbarungsmerkmals in § 1 GWB folgt aus Art. 3 I S. 1 VO 1/2003 keine Pflicht des
Bundeskartellamts und der Kartellsenate, parallel auch Art. 81 EG anzuwenden.
Unabhängig hiervon könnte indes die soeben ermittelte weite Vorrangwirkung
des Art. 3 II S. 1 VO 1/2003 ein abweichendes Verständnis der Koordinierungstatbestände des § 1 GWB im Falle von bestehendem Zwischenstaatlichkeitsbezug
verhindern.
In diesem Zusammenhang gilt es allerdings zu beachten, dass der Rat bei Verabschiedung der VO 1/2003 nicht über die Gesetzgebungskompetenz verfügte, die
Bedeutung der Tatbestandsmerkmale der nationalen Kartellverbote zu konkretisieren. Die nationalen Rechtsanwender sind daher auch bei gegebenem Zwischenstaatlichkeitsbezug zu einer eigenständigen Auslegung der Koordinierungstatbestände
Vereinbarung und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen im Sinne des § 1
GWB befugt. Sie können somit auch die Abgrenzung zwischen den Koordinierungstatbeständen des § 1 GWB und lediglich einseitigem Handeln eigenständig
vornehmen.
1076 – oder etwa auch, weil die Unternehmenseigenschaft gemäß Art. 81 I EG verneint wurde –
1077 Zutreffend Eilmansberger, ZWeR 2004, 285, 302.
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An eine derartige eigenständige Auslegung hat sich allerdings die Prüfung anzuschließen, ob das bei § 1 GWB gefundene Ergebnis gemäß Art. 3 II S. 1 VO 1/2003
korrigiert werden muss. Hierfür muss nun in jedem Fall und unabhängig von Art. 3 I
S. 1 VO 1/2003 geklärt werden, ob die Voraussetzungen des Art. 81 I EG erfüllt
sind1078. Bei einem abweichenden Ergebnis ist die gemäß § 1 GWB gefundene Lösung zu korrigieren. Dies wird auch durch den Wortlaut des Art. 3 II S. 1
VO 1/2003 bestätigt. Denn diesem zufolge wird die Anwendung des einzelstaatlichen Wettbewerbsrechts vorausgesetzt; sie darf jedoch „nicht zum Verbot“
von gemäß Art. 81 I EG erlaubten Koordinierungstatbeständen „führen“1079.
Folglich kann es letztendlich, wenn die Zwischenstaatsklausel erfüllt ist, nur dann
zu einer eigenständigen Anwendung des § 1 GWB kommen, wenn diese zum gleichen Ergebnis wie die Prüfung anhand Art. 81 I EG führt1080. Eine Vereinbarung
oder aufeinander abgestimmte Verhaltensweise kann nach nationalem Recht im Ergebnis nur noch verboten werden, wenn sie zugleich nach europäischem Recht
verboten ist. Eine Erlaubnis nach nationalem Recht kommt nur noch in Betracht,
wenn die Koordinierung auch nach EG-Recht zulässig ist1081. In Konfliktfällen setzt
sich hingegen immer Art. 81 I EG durch1082.
Diese Konsequenz des Art. 3 II S. 1 VO 1/2003 wird von manchen Autoren
zutreffend als „faktische Verdrängungswirkung“ bezeichnet1083.
Inkonsequent ist es gleichwohl, wie Rehbinder einerseits die faktische Verdrängungswirkung des Art. 3 II S. 1 VO 1/2003 anzuerkennen1084, andererseits aber von
einem lediglich engen durch Art. 3 II S. 1 VO 1/2003 vermittelten Vorrang des
Art. 81 I EG auszugehen, welcher sich nur auf das Tatbestandsmerkmal „spürbare
Wettbewerbsbeschränkung“ bezieht1085. Denn geht man von einem lediglich engen
Vorrang des Art. 81 I EG aus, so wird in vielen Fällen § 1 GWB gerade nicht verdrängt, nämlich dann, wenn gemäß § 1 GWB ein Koordinierungstatbestand erfüllt
oder das Unternehmensmerkmal zu bejahen ist, gemäß Art. 81 I EG hingegen nicht.
Folglich kommt Art. 3 II S. 1 VO 1/2003 nur dann eine faktische Verdrängungswir-
1078 In der Praxis wird häufig die umgekehrte Prüfungsreihenfolge ratsam sein, bei der zunächst
Art. 81 I EG und danach § 1 GWB angewendet wird. Im hier vorliegenden Zusammenhang
interessiert indes die Frage nach der Tragweite des Art. 3 VO 1/2003. Hierfür soll
verdeutlicht werden, dass Art. 3 VO 1/2003 auch, in dem hier dargestellten Maße, die
eigenständige Prüfung des § 1 GWB erlaubt.
1079 Ähnlich Lampert/Niejahr/Kübler/Weidenbach, EG-KartellVO, Rn 104.
1080 Im Ergebnis ebenso Meessen, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, Kartellrecht, Bd. 1,
Einführung Rn 71.
1081 Weitbrecht, EuZW 2003, 69, 70 f.; ders., EuZW 2003, 357, 357; Röhling, GRUR 2003, 1019,
1022; Schwarze/Weitbrecht, Kartellverfahrensrecht, § 3 Rn 12, 21; Aicher/Schuhmacher, in:
Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Bd. 2, Art. 81 Rn 48; Schütz, in: Gemeinschaftskommentar, Art. 3
VO 1/2003 Rn 13 f.
1082 Vgl. auch Klees, Kartellverfahrensrecht, § 4 Rn 15.
1083 Weitbrecht, EuZW 2003, 69, 70; zustimmend Rehbinder, in: FS Immenga, 303, 306; Klees,
Kartellverfahrensrecht, § 4 Rn 12; Schwarze/Weitbrecht, Kartellverfahrensrecht, § 3 Rn 12. –
Mestmäcker/Schweitzer sprechen von „faktischer Subsidiarität“ des mitgliedsstaatlichen
Rechts (Europäisches Wettbewerbsrecht, § 5 Rn 17).
1084 In: FS Immenga, 303, 306.
1085 Rehbinder, in: FS Immenga, 303, 310.
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kung zu, wenn er – wie nach hier vertretener Auffassung – einen weiten Vorrang des
Art. 81 I EG statuiert.
bb) Faktische Verdrängungswirkung bei einer nur im deutschen Kartellrecht
gesicherten Entscheidungspraxis?
Die faktische Verdrängungswirkung des Art. 3 II S. 1 VO 1/2003 wirft das Folgeproblem auf, wie Fälle zu lösen sind, in denen – bei bestehendem
Zwischenstaatlichkeitsbezug – hinsichtlich § 1 GWB eine gesicherte Entscheidungspraxis des Bundeskartellamts und/oder der Kartellsenate besteht, hinsichtlich
Art. 81 I EG dagegen noch kein Fallmaterial existiert. Kann § 1 GWB in derartigen
Fällen ein eigenständiger Anwendungsbereich zukommen?
Für die vorliegende Untersuchung ist in diesem Zusammenhang insbesondere die
Konstellation relevant, in der gemäß § 1 GWB nach ständiger Rechtsprechung oder
Verwaltungspraxis eine Koordinierung vorliegt, gemäß Art. 81 I EG hingegen
unklar ist, ob nicht eine einseitige Maßnahme gegeben ist. Denkbar wäre, in diesen
Fällen die Regelungslücke auf europäischer Ebene mittels § 1 GWB zu schließen.
Bundeskartellamt und nationale Gerichte sind indessen auch in derartigen Konstellationen zur Anwendung des Art. 81 I EG gemäß Art. 5 I S. 1 VO 1/2003 bzw.
Art. 6 VO 1/2003 zuständig; zudem besteht auch hier die Pflicht zur parallelen Anwendung des Art. 81 I EG unter den Voraussetzungen des Art. 3 I S. 1 VO 1/2003.
Das Bundeskartellamt ist daher gehalten, auch bei mangelnder Fallpraxis auf europäischer Ebene Art. 81 I EG selbständig anzuwenden. Dies aber führt in der bereits
dargelegten Weise zur faktischen Verdrängungswirkung des Art. 3 II S. 1
VO 1/2003.
Hinsichtlich nationaler Gerichte kommt hingegen eine Vorlage zum EuGH gemäß
Art. 234 I lit. a EG in Betracht, demzufolge der EuGH im Wege der Vorabentscheidung über die Auslegung des EG-Vertrages entscheidet1086. „Auslegung“ meint
hierbei im Wesentlichen die Ermittlung des Inhalts und der Tragweite einer bestimmten Rechtsnorm oder eines bestimmten Rechtsgrundsatzes1087 und kann somit
auch die Frage umfassen, ob ein Koordinierungstatbestand des Art. 81 I EG erfüllt
oder aber einseitiges Handeln anzunehmen ist. Vorabentscheidungsurteile können in
derartigen Fällen somit eine bislang nicht vorhandene gemeinschaftskartellrechtliche
Fallpraxis begründen1088.
Daraus folgt, dass sich auch bei gesicherter Entscheidungspraxis hinsichtlich § 1
GWB und gleichzeitig nicht vorhandener Leitentscheidungen hinsichtlich Art. 81 I
EG das Gemeinschaftskartellrecht in Konfliktfällen letztlich durchsetzt. Auf die
1086 Vgl. dazu nur Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze, EU-/EG-Vertrag, Bd. 4, Art. 234
Rn 17.
1087 Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze, EU-/EG-Vertrag, Bd. 4, Art. 234 Rn 30.
1088 Zutreffend Hoppe, Diskussionsbeitrag beim FIW am 12.10.2005 in Köln.
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deutsche Entscheidungspraxis kann in derartigen Konstellationen nur noch insoweit
zurückgegriffen werden, als dies zu keinem vom Gemeinschaftskartellrecht abweichenden Ergebnis führt.
b) Die Vorgaben des reformierten GWB
Berücksichtigung finden müssen zusätzlich die Vorgaben des durch die 7. GWB-
Novelle reformierten GWB. Fraglich ist, inwieweit auch das GWB die Rechtsanwender dazu verpflichtet, bei der Prüfung des § 1 GWB europäisches Recht zu berücksichtigen. In diesem Zusammenhang ist auf § 22 GWB n. F. einzugehen, welcher sich im neuen Dritten Abschnitt des Ersten Teils des GWB zur Anwendung des
europäischen Wettbewerbsrechts befindet. Daran schließt sich eine exkursartige
Stellungnahme zu § 23 GWB-Entwurf an, der im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens allerdings wieder gestrichen wurde.
aa) § 22 GWB n. F.
§ 22 GWB hat das Verhältnis des GWB zu den Artikeln 81 und 82 des Vertrages zur
Gründung der Europäischen Gemeinschaft zum Gegenstand. Er überträgt die
Regelungen des Art. 3 VO 1/2003 in spiegelbildlicher Weise ins deutsche Recht und
hat damit lediglich klarstellenden Charakter1089.
Zudem bestimmt § 22 I S. 1 GWB, dass die Anwendung des deutschen Kartellrechts neben dem europäischen bei Sachverhalten mit Zwischenstaatlichkeitsbezug
rein fakultativ ist; die Vorschriften des GWB „können“ angewendet werden. Wenn
aber das deutsche Recht angewandt wird, so muss gemäß § 22 I S. 2 GWB auch Art.
81 I EG zum Zuge kommen. Auch diese Verpflichtung, das europäische Kartellrecht
parallel zum deutschen Kartellrecht anzuwenden, stellt lediglich eine Klarstellung
dar1090.
Die Möglichkeit zur parallelen Anwendung des deutschen neben dem europäischen Kartellrecht wird von Meessen kritisiert als „hartnäckiges Festhalten an einem
letztlich nicht entscheidungserheblichen Doppelstandard oberhalb der Zwischenstaatlichkeitsschwelle“1091. Die parallele Anwendung dürfte indes bei Fällen, die
sich im Grenzbereich zwischenstaatlicher Bedeutung befinden, ihre Berechtigung
erlangen. Denn in derartigen Fällen stellt sie sicher, dass eine kartellbehördliche
1089 Loewenheim, in: ders./Meessen/Riesenkampff, Kartellrecht, Bd. 2, § 22 Rn 1.
1090 Begründung des Regierungsentwurfs zur 7. GWB-Novelle, BT-Drucks. 15/3640, S. 31.
1091 Meessen, Wirtschaftsrecht im Wettbewerb der Systeme, S. 48; auch Rehbinder hielt bereits
vor Verabschiedung der 7. GWB-Novelle einen Verzicht auf die parallele Anwendung des
deutschen Rechts bei Zwischenstaatlichkeitsbezug für erwägenswert (in: FS Immenga, 303,
318).
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oder gerichtliche Entscheidung nicht allein deshalb rechtswidrig ist, weil lediglich
Art. 81 I EG geprüft wurde, sich im weiteren Fortgang des Verfahrens dann aber der
fehlende Zwischenstaatlichkeitsbezug des Sachverhalts herausstellt1092.
§ 22 II S. 1 GWB wiederum überträgt den materiellen Gehalt des Art. 3 II S. 1
VO 1/2003 ins deutsche Recht. Auch nach deutschem Kartellrecht findet daher in
Konfliktfällen bei vorhandenem Zwischenstaatlichkeitsbezug im Ergebnis ausschließlich Art. 81 EG Anwendung1093.
bb) Exkurs: § 23 GWB RegE
(1) Materieller Gehalt der Vorschrift
§ 23 des Regierungsentwurfs des GWB enthielt keine Regelung des Vorrangs des
Gemeinschaftskartellrechts, sondern stellte vielmehr eine Anwendungsregel neben
und zusätzlich zum Vorrang des europäischen Rechts dar1094. Er bestimmte:
„ Die Grundsätze des europäischen Wettbewerbsrechts sind bei der Anwendung
der §§ 1 bis 4 und 19 [GWB] maßgeblich zugrunde zu legen, soweit hierzu nicht in
diesem Gesetz besondere Regelungen enthalten sind.“
Im Gegensatz dazu sprach § 23 GWB in der Fassung des Referentenentwurfs zur
7. GWB-Novelle noch davon, dass bei der Auslegung und Anwendung der §§ 1 bis
4 und 19 GWB die Grundsätze des europäischen Wettbewerbsrechts zu
berücksichtigen seien. Die Formulierung in der Fassung des Regierungsentwurfs,
die Grundsätze seien maßgeblich zugrunde zu legen, verdeutlicht, dass die Anknüpfung an das europäische Wettbewerbsrecht im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens
verstärkt wurde. Telos des § 23 GWB-E war, neben einem Verweis auf gesetzliche
Regelungen des europäischen Wettbewerbsrechts insbesondere auch eine Anknüpfung an die Entscheidungen des EuGH bzw. des EuG sowie an die Verwaltungspraxis der Europäischen Kommission einschließlich ihrer Mitteilungen und Bekanntmachungen im Rahmen der Auslegung der nationalen Regelungen zu gewährleisten1095. § 23 GWB-E schrieb jedoch nach Ansicht des Reformgesetzgebers keine
unmittelbare normative Bindung an das Europarecht vor. Dieser vertrat vielmehr die
Auffassung, einzelstaatliche Besonderheiten könnten gegenüber den Grundsätzen
des europäischen Wettbewerbsrechts vorrangig berücksichtigt werden1096.
1092 Vgl. Lutz, WuW 2005, 718, 724; ähnlich auch Loewenheim, in: ders./Meessen/Riesenkampff,
Kartellrecht, Bd. 2, § 22 Rn 1.
1093 Vgl. Meessen, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, Kartellrecht, Bd. 1, Einführung
Rn 72.
1094 Begründung des Regierungsentwurfs zur 7. GWB-Novelle, BT-Drucks. 15/3640, S. 32.
1095 Kahlenberg/Haellmigk BB 2004, 389, 391; Begründung des Regierungsentwurfs zur 7.
GWB-Novelle, BT-Drucks. 15/3640, S. 32.
1096 Begründung des Regierungsentwurfs zur 7. GWB-Novelle, BT-Drucks. 15/3640, S. 32.
216
Im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens war § 23 GWB-E höchst umstritten1097. Der
Bundesrat kritisierte, durch die weitreichende Anpassung des GWB an das EU-
Wettbewerbsrecht fließe die Praxis der Kommission und der Gemeinschaftsgerichte
ohnehin in die Auslegung der §§ 1 und 2 GWB ein. § 23 GWB-E bedürfe es daher
nicht; dieser sei zu streichen1098.
Zudem hätte § 23 GWB-E dem Bundesrat zufolge zu einem zusätzlichen,
übermäßigen Prüfaufwand für die deutschen Kartellbehörden und Gerichte geführt;
denn diese hätten sich bei Prüfung eines Falles mit sämtlichen die Rechtsangelegenheit betreffenden Kommissionsleitlinien, -mitteilungen und -bekanntmachungen
auseinandersetzen müssen1099.
Dieses Argument ist jedoch nur zum Teil richtig. Denn zumindest bei Verhaltenskoordinierungen mit Zwischenstaatlichkeitsbezug ist, wie dargelegt, Art. 81 EG
parallel zum deutschen Recht anzuwenden (Art. 3 I S. 1 VO 1/2003, § 22 I S. 2
GWB). Hier hätte § 23 GWB-E somit zu keinem erhöhten Verwaltungsaufwand geführt, da sich die nationalen Behörden und Gerichte ohnehin mit dem europäischen
Recht hätten befassen müssen1100.
Der Bundesrat kritisierte zudem, § 23 GWB-E führe entgegen der Auffassung der
Bundesregierung zu einer normativen Bindung der deutschen Behörden und
Gerichte an die Entscheidungspraxis der europäischen Institutionen auch bei der
Anwendung des GWB1101. Diese Ansicht ist indes unzutreffend. Denn aus der
Rechtsnatur der Leitlinien und Bekanntmachungen der Europäischen Kommission
ergibt sich, dass diese nationale Behörden und Gerichte nicht binden1102. Zudem
sprach § 23 GWB-E ohnehin lediglich von den Grundsätzen des europäischen
Kartellrechts. Darunter sind die Grundprinzipien des europäischen Rechts zu
verstehen1103. Auch der Wortlaut „maßgeblich zugrunde legen“ hätte Raum für
Abweichungen im Falle von nationalen Besonderheiten gelassen1104. § 23 GWB-E
erinnerte damit in gewisser Weise an eine verwaltungsrechtliche Soll-Vorschrift; in
der Regel hätte mithin ein Gleichlauf zwischen europäischem und deutschem
1097 S. dazu auch die FIW-Nachrichten vom 21.07.2004 u. 10.09.2004, jeweils abrufbar unter
http://www.fiw-online.de.
1098 Bundesrat, Stellungnahme zum Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Novellierung des
Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen, BR-Drucksache 441/04, S. 5; so auch Dreher,
WuW 2005, 251; Kahlenberg/Haellmigk, BB 2005, 1509, 1510; ähnlich auch Lutz, WuW
2005, 718, 725; s. dazu auch WuW-Redaktion, WuW 2005, 589.
1099 Vgl. Bundesrat, Stellungnahme zum Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Novellierung des
Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen, BR-Drucksache 441/04, S. 7.
1100 So auch die Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates, BT-
Drucksache 15/3640, S. 87.
1101 Bundesrat, Stellungnahme zum Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Novellierung des
Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen, BR-Drucksache 441/04, S. 7; ähnlich Wagnervon Papp, in: Langenbucher (Hrsg.), Europarechtliche Bezüge (1. Aufl.), § 9 Rn 13;
Bechtold, DB 2004, 235, 237 (dieser bezüglich Kartellen mit Zwischenstaatlichkeitsbezug).
1102 Pampel, EuZW 2005, 11, 13; ders., Leitlinien im reformierten Wettbewerbsrecht, S. 162;
Karl/Reichelt, DB 2005, 1436, 1437; Pohlmann, WuW 2005, 1005, 1008.
1103 So auch der Bundesrat selbst auf S. 6 seiner Stellungnahme zum Regierungsentwurf (BR-
Drucksache 441/04).
1104 Vgl. Begründung des Regierungsentwurfs zur 7. GWB-Novelle, BT-Drucks. 15/3640, S. 32.
217
Kartellrecht bestanden, bei besonderen rechtlichen oder tatsächlichen Umständen
hätte jedoch vom Europarecht abgewichen werden können.
Obschon die Kritiker des § 23 GWB-E somit teilweise unzutreffende Argumente ins
Feld führten, ist ihnen zuzugeben, dass § 23 GWB-E eine weiter gehende Anpassung des deutschen an das europäische Recht bewirkt hätte, als dies gemäß Art. 3
VO 1/2003 erforderlich gewesen wäre. Insbesondere hätten Zweifel darüber, was
denn zu den „Grundsätzen des europäischen Wettbewerbsrechts“ zu zählen sei, in
Zukunft wohl vermehrt zu Vorlageersuchen deutscher Gerichte beim EuGH gemäß
Art. 234 EG geführt. § 23 GWB-E hätte folglich in unnötiger Weise die Kompetenz
des EuGH zulasten deutscher Gerichte gestärkt1105.
Zudem erscheint das deutsche Kartellrecht im Vergleich zu anderen Kartellrechtsordnungen als besonders ausdifferenziert und dogmatisch hoch entwickelt; eine
weiter gehende Anpassung an das Gemeinschaftskartellrecht, als die europarechtlichen Vorgaben erfordern, empfiehlt sich daher nicht.
Aus diesen Gründen ist es letztendlich zu begrüßen, dass sich im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens der 7. GWB-Novelle der Bundesrat durchsetzte, indem § 23
GWB-E gestrichen wurde1106.
(2) Konsequenzen der Streichung des § 23 GWB RegE im Gesetzgebungsverfahren
Es stellt sich die Frage, welche materiellrechtlichen Konsequenzen aus der Streichung des § 23 GWB-E folgen. Pischel behauptet, die Streichung bewirke im
Ergebnis keine materielle Veränderung1107. Denn auch ohne § 23 GWB-E seien die
Normen des GWB „europarechtskonform“ auszulegen1108.
Diese Ansicht ist jedoch unzutreffend. Pischel lässt außer Acht, dass die europarechtskonforme Auslegung ihren Ausgangspunkt in einer Situation hat, in der ein
Normtext verschiedene Möglichkeiten der Interpretation eröffnet und dann im Zweifel diejenige auszuwählen ist, die mit dem Europarecht vereinbar ist1109. Die
europarechtskonforme Auslegung meint mithin die abstrakt-generelle Überprüfung,
ob die Konkretisierung einer nationalen Vorschrift mit primärem oder sekundärem
Gemeinschaftsrecht vereinbar ist1110. § 1 GWB ist indes unzweifelhaft mit Europarecht vereinbar. Bei der hier zu erörternden Problematik handelt es sich somit um
keinen Anwendungsfall der europarechtskonformen Auslegung.
Richtigerweise bestimmt sich bei vorhandenem Zwischenstaatlichkeitsbezug die
Tragweite des § 1 GWB, nachdem § 23 GWB-E gestrichen wurde, allein in der bereits dargelegten Weise anhand von Art. 3 I S. 1, II S. 1 VO 1/2003, § 22 I, II GWB.
1105 Dreher, WuW 2005, 251.
1106 Vgl. Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses, BT-Drucks. 15/5735, S. 2;
Bechtold/Buntscheck, NJW 2005, 2966, 2967; Kahlenberg/Haellmigk, BB 2005, 1509, 1510;
Karl/Reichelt, DB 2005, 1436, 1437; Immenga, BB 33/2005, I; Fuchs, WRP 2005, 1384,
1387; FIW-Nachricht v. 29.06.05, abrufbar unter: http://www.fiw-online.de.
1107 Pischel, EuZW 2005, 518.
1108 Pischel, EuZW 2005, 518, unter unzutreffender Berufung auf Kahlenberg/Haellmigk.
1109 S. nur Müller/Christensen, Juristische Methodik II, S. 130.
1110 Müller/Christensen, Juristische Methodik II, S. 131, 137.
218
Ohne Zwischenstaatlichkeitsbezug bestehen dagegen hinsichtlich der Regelung
zwei- und mehrseitigen Verhaltens keine konkreten europarechtlichen Bindungen1111.
Daraus ergibt sich, dass die Streichung des § 23 GWB-E im
Gesetzgebungsverfahren eine materielle Veränderung in dem Sinne bewirkt, dass
keine über die getroffenen Reformierungen noch weiter hinausgehende Anpassung
an das Gemeinschaftskartellrecht erfolgt ist.
Gleichwohl empfiehlt sich auch ohne, dass § 23 GWB-E Gesetz geworden ist, bei
fehlendem Zwischenstaatlichkeitsbezug grundsätzlich eine europarechtsfreundliche
Auslegung. Dies folgt aus der weitgehenden Angleichung des deutschen Kartellrechts, insbesondere des Wortlauts der §§ 1, 2 I GWB an das Gemeinschaftskartellrecht sowie aus der Zielsetzung des Reformgesetzgebers, Sachverhalte mit und ohne
Zwischenstaatlichkeitsbezug grundsätzlich gleich zu behandeln1112. Eine Pflicht zur
europarechtsfreundlichen Auslegung besteht indessen nicht1113.
4. Zwischenergebnis
Der Vorrang des Art. 81 I EG vor dem nationalen Kartellrecht, den Art. 3 II S. 1 VO
1/2003 statuiert, ist weit zu verstehen; er bezieht sich auf den gesamten Tatbestand
des europäischen Kartellverbotes. Falls die Zwischenstaatlichkeitsklausel erfüllt ist,
kommt Art. 3 II S. 1 VO 1/2003 bezüglich des Kartellverbotes damit eine faktische
Verdrängungswirkung hinsichtlich des nationalen Kartellrechts zu. Auch in Fällen,
in denen lediglich auf nationaler Ebene eine gesicherte Entscheidungspraxis besteht,
setzt sich in Konfliktfällen das Gemeinschaftskartellrecht letztlich durch.
§ 22 GWB wiederum überträgt den materiellen Gehalt des Art. 3 VO 1/2003 spiegelbildlich ins deutsche Kartellrecht. Die Streichung des § 23 GWB-E im Laufe des
Gesetzgebungsverfahrens zur 7. GWB-Novelle hat indessen zur Konsequenz, dass
keine darüber noch hinausgehende Anpassung des GWB an das Gemeinschaftskartellrecht erfolgt ist.
Aus dem weiten Vorrang des Art. 81 I EG vor dem nationalen Kartellrecht gemäß
Art. 3 II S. 1 VO 1/2003, § 22 II S. 1 GWB folgt, dass die Regelungslücke für einseitige wettbewerbswidrige Maßnahmen nicht marktbeherrschender Unternehmen
1111 Zutreffend Meessen, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, Kartellrecht, Bd. 1, Einführung
Rn 71 a. E.
1112 Fuchs, WRP 2005, 1384, 1387; Bundesrat, Stellungnahme zum Regierungsentwurf eines
Gesetzes zur Novellierung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen, BR-Drucksache
441/04, S. 5; Lutz, WuW 2005, 718, 725; Kahlenberg/Haellmigk, BB 2005, 1509, 1510; vgl.
auch Klees, Kartellverfahrensrecht, § 4 Rn 27; für eine Gleichbehandlung von Fällen mit und
ohne Zwischenstaatlichkeitsbezug auch bereits Hossenfelder, in: Behrens/Braun/Nowak
(Hrsg.), Europäisches Wettbewerbsrecht im Umbruch, 251, 255.
1113 Unzutreffend daher insoweit Pischel, EuZW 2005, 518.
219
im Gemeinschaftskartellrecht jedenfalls nicht mittels Anwendung des § 1 GWB
ausgefüllt werden kann.
V. Strengeres nationales Kartellrecht hinsichtlich einseitiger Maßnahmen
1. Fragestellung
In Betracht kommt eine Ausfüllung der konstatierten Regelungslücke durch Anwendung des Zweiten Abschnitts des Ersten Teils des GWB („Marktbeherrschung,
wettbewerbsbeschränkendes Verhalten“). Dann müsste das reformierte Gemeinschaftskartellrecht den mitgliedsstaatlichen Kartellrechten gemäß Art. 3 II S. 2
VO 1/2003 einen diesbezüglichen Regelungsfreiraum belassen.
Art. 3 II S. 2 VO 1/2003 statuiert eine Ausnahme vom erweiterten Vorrang des
europäischen Kartellrechts. Demzufolge wird den Mitgliedsstaaten durch die
VO 1/2003 nicht verwehrt, in ihrem Hoheitsgebiet strengere innerstaatliche Vorschriften zur Unterbindung oder Ahndung einseitiger Handlungen von Unternehmen
zu erlassen oder anzuwenden. Klärungsbedürftig ist jedoch die genaue Reichweite
dieses Ausnahmetatbestandes. Zur Lösung dieses Problems ist auf den Begriff „einseitige Handlungen“ im Sinne des Art. 3 II S. 2 VO 1/2003 näher einzugehen.
2. Der Begriff der einseitigen Handlungen in Art. 3 II S. 2 VO 1/2003
a) Einseitige Handlungen im Sinne des Art. 3 II S. 2 VO 1/2003 als gemeinschaftskartellrechtlicher Begriff
Der achte Erwägungsgrund der VO 1/2003 erläutert in Satz 4: „ Die Begriffe Vereinbarungen, Beschlüsse und abgestimmte Verhaltensweisen sind autonome Konzepte des Wettbewerbsrechts der Gemeinschaft für die Erfassung eines koordinierten
Verhaltens von Unternehmen am Markt im Sinne der Auslegung dieser Begriffe
durch die Gerichte der Gemeinschaft.“ Dadurch wird zum einen die Bedeutung der
Gemeinschaftsjudikatur für die Auslegung der Koordinierungstatbestände des
Art. 81 I EG hervorgehoben. Zum anderen folgt daraus, dass auch der Terminus
„einseitige Handlungen“ in Art. 3 II S. 2 VO 1/2003, welcher den Gegenbegriff zu
den Koordinierungstatbeständen des Art. 81 I EG darstellt, gemeinschaftskartellrechtlich zu verstehen ist und sich nicht nach den nationalen Kartellrechten bestimmt.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Unter welchen rechtlichen Voraussetzungen fällt scheinbar einseitiges Handeln eines Unternehmens, das den Wettbewerb beschränkt (z. B. Maßnahmen eines Herstellers gegen Parallelimporte), noch unter das Kartellverbot des Art. 81 Abs. 1 EG-Vertrag? Die Antwort auf diese Frage klärt die Weite des Anwendungsbereichs des Kartellverbots und betrifft damit die Grundlagen des Kartellrechts.
Hierzu entwickelt der Autor rechtliche Kriterien für die praxisrelevante und oft schwierige Abgrenzung zwischen einseitigen Maßnahmen im Vertikalverhältnis einerseits und den Handlungsformen des Kartellverbots (Vereinbarungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen) andererseits. Zu dieser Thematik ist eine Reihe von Entscheidungen der Europäischen Kommission und des EuGH ergangen, die vom Autor aufgearbeitet und kritisch hinterfragt werden.
Die Arbeit macht zudem deutlich, unter welchen Voraussetzungen insbesondere in laufenden Geschäftsverbindungen zwischen Unternehmen wettbewerbswidrige Vereinbarungen oder abgestimmte Verhaltensweisen zustande kommen, die gegen das Kartellverbot verstoßen. Dabei finden die rechtlichen Besonderheiten selektiver Vertriebssysteme besondere Berücksichtigung.