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II. Stellungnahme
Weiterführend im Hinblick auf die Beantwortung der Ausgangsfrage, ob einseitige
Lieferverweigerungen eines Herstellers oder Lieferanten zur Unterbindung von Parallelausfuhren einen Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung im Sinne des
Art. 82 EG darstellen, sind mithin nicht die Ausführungen des EuGH, sondern
diejenigen des Generalanwalts Jacobs. Ohne hier vertiefte Erörterungen des
Missbrauchsmerkmals des Art. 82 EG anzustellen, überzeugen dessen Ausführungen
doch dahingehend, dass derartige Lieferverweigerungen jedenfalls nicht per se missbräuchlich gemäß Art. 82 EG sind1007. Denn auch marktbeherrschende Unternehmen
sind grundsätzlich dazu berechtigt, ihre berechtigten Unternehmensbelange im Falle
ihrer Beeinträchtigung durch Gegenmaßnahmen zu schützen1008.
D. Ergebnis
Eine enge sachliche Marktabgrenzung, infolge derer ein Herstellerunternehmen stets
über eine marktbeherrschende Stellung gemäß Art. 82 EG verfügt, ist nur im
absoluten Ausnahmefall möglich; insbesondere hinsichtlich verschreibungspflichtiger Arzneimittel überzeugt eine derartige sachliche Marktabgrenzung nicht.
Einseitige Lieferverweigerungen eines Herstellers oder Lieferanten zur Unterbindung von Parallelausfuhren sind nicht per se missbräuchlich gemäß Art. 82 EG.
Folglich lässt sich das wettbewerbspolitische Bedürfnis nach einem weitgehenden
Verbot einseitiger wettbewerbswidriger Maßnahmen im Vertikalverhältnis nicht
durch erweiternde Auslegung des Art. 82 EG befriedigen; eine derartige Ausfüllung
der planmäßigen Regelungslücke zwischen Art. 81 EG und Art. 82 EG scheitert an
den hohen Tatbestandshürden des Art. 82 EG.
Hinzu kommt ein weiterer, entscheidender Gesichtspunkt: Durch Anwendung des
Art. 82 EG ließe sich die konstatierte Regelungslücke ohnehin nur de facto
verdecken, indem man in der Praxis alle Fälle, die in den Bereich zwischen Art. 81
und 82 EG fielen, mit Art. 82 EG erfassen würde. De iure hingegen setzt Art. 82 EG
eine marktbeherrschende Stellung voraus und ist daher ein untaugliches Mittel zur
Schließung der festgestellten Regelungslücke, die ja gerade hinsichtlich einseitiger
Maßnahmen nicht marktbeherrschender Unternehmen besteht.
1007 GA Jacobs, Schlussanträge v. 28.10.2004, Syfait u.a./GlaxoSmithKline, Rs. C-53/03, Rn 53,
69; ebenso Gassner, PharmR 2004, 57, 62; v. Dietze, in: Behrens/Braun/Nowak (Hrsg.),
Wettbewerbsrecht nach der Reform, 29, 33 f.
1008 Gassner, PharmR 2004, 57, 62; EuGH v. 14.02.1978, United Brands/Kommission, Rs. 27/76,
Slg. 1978, 207, Rn 184/194; s. auch Weitbrecht/Karenfort, Wettbewerbsrecht, S. 182 f.
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References
Zusammenfassung
Unter welchen rechtlichen Voraussetzungen fällt scheinbar einseitiges Handeln eines Unternehmens, das den Wettbewerb beschränkt (z. B. Maßnahmen eines Herstellers gegen Parallelimporte), noch unter das Kartellverbot des Art. 81 Abs. 1 EG-Vertrag? Die Antwort auf diese Frage klärt die Weite des Anwendungsbereichs des Kartellverbots und betrifft damit die Grundlagen des Kartellrechts.
Hierzu entwickelt der Autor rechtliche Kriterien für die praxisrelevante und oft schwierige Abgrenzung zwischen einseitigen Maßnahmen im Vertikalverhältnis einerseits und den Handlungsformen des Kartellverbots (Vereinbarungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen) andererseits. Zu dieser Thematik ist eine Reihe von Entscheidungen der Europäischen Kommission und des EuGH ergangen, die vom Autor aufgearbeitet und kritisch hinterfragt werden.
Die Arbeit macht zudem deutlich, unter welchen Voraussetzungen insbesondere in laufenden Geschäftsverbindungen zwischen Unternehmen wettbewerbswidrige Vereinbarungen oder abgestimmte Verhaltensweisen zustande kommen, die gegen das Kartellverbot verstoßen. Dabei finden die rechtlichen Besonderheiten selektiver Vertriebssysteme besondere Berücksichtigung.