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§ 11 Autonomie und Menschenrechte
Die Idee der Menschenrechte ist zentral für die Legitimität des Rechts und Ausprägung
der Idee individueller Autonomie. Als Menschenrechte werden Rechte bezeichnet, die
für jedes menschliche Wesen allein wegen seiner Eigenschaft, Mensch zu sein, gelten.
In diesem Sinne handelt es sich um universelle Rechte.345 Allerdings ist die Idee von
universellen Menschenrechten nicht unumstritten: Gibt es tatsächlich universell gültige
Menschenrechte, und welche sind dies? Und wie ist die Annahme universeller Menschenrechte mit der eines kulturellen Pluralismus vereinbar, der sich ebenfalls auf die
Idee der Autonomie stützen kann?
Die Beantwortung dieser Fragen erfordert eine Analyse, wie Menschenrechte begründet werden können. Es geht um ein normatives Problem, nicht um die faktische
Anerkennung von universellen Menschenrechte. Im folgenden soll dargelegt, werden,
dass eine Begründung universeller Menschenrechte im Prinzipienmodell möglich ist,
dass diese jedoch nicht alle Aspekte trägt, die mit Menschenrechten verbunden werden.
I. Menschenrechte als universelle Rechte
Das Merkmal der Universalität von Menschenrechte ist präzisierungsbedürftig. Rechte
können universell in ihrem Inhalt, ihrem Geltungsanspruch und der Art ihrer Begründung sein.
(1) Inhaltlich können Rechte universell hinsichtlich ihrer Träger, ihrer Adressaten und
ihrer Anwendungsbedingungen (ihres Tatbestands) sein.346 Die Universalität hinsichtlich der Träger ist Begriffsmerkmal von Menschenrechten, wobei Bezugsklasse Menschen sind. Hingegen müssen Menschenrechte in anderen Hinsichten nicht universell
sein.
- Menschenrechte müssen nicht gegenüber jedermann gelten. So ist der Adressat des
Rechts, zu wählen, die politische Einheit, der jemand angehört.347 Zudem ist es Merkmal jedenfalls einer historisch begründeten und verbreiteten, allerdings beschränkten
Sicht von Menschenrechten, dass sie Menschen gegen Staaten oder öffentliche Gewalt
schützen sollen, nicht gegen Private.348
- Menschenrechte können zudem Anwendungsbedingungen haben. So ist ein Recht
auf faires Verfahren nur auf Prozessbeteiligte anwendbar. Gleichwohl ist es ein Menschenrecht. Nur als bedingtes Recht ist es universell gültig. Daraus ergibt sich, dass
Menschenrechte begrenzte Anwendungsbereiche haben können.
345 Vgl. Höffe 1998, 29; Wellman 1997, 15.
346 Vgl. Koller 1998, 99.
347 Alexy 1998a, 248; Koller 1998, 101.
348 Martin 1993, 87; Brugger 1999, 104. Vgl. auch Alexy 1997, 34, zu Rechten, die zu wichtig seien,
als das sie parlamentarischer Entscheidung überlassen werden dürften.
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(2) Menschenrechte wird universelle Gültigkeit zugeschrieben. Sie müssen von jedem
als gültig anerkannt werden. Allerdings ist universelle Gültigkeit kein spezifisches
Merkmal von Menschenrechten. Auch eine universelle Moral, die nichts mit Menschenrechten zu tun hat, beansprucht universelle Gültigkeit.
(3) Hinsichtlich ihrer Begründung sind Menschenrechte universell, insoweit ihre
Rechtfertigung keine anderen Voraussetzungen hat als die des Menschseins oder damit
verbundene Eigenschaften.349 Allerdings lässt sich nicht ausschließen, dass eine Rechtfertigung von Rechten weitere Umstände berücksichtigen muss, insbesondere bei bedingten Menschenrechten. Alles, was verlangt werden kann, ist, dass jeder Mensch als
gleichberechtigt behandelt wird, als Zweck an sich selbst mit gleichem Eigenwert und
Anspruch auf gleiche Achtung. Diese Beschreibungen sind allerdings vage und in einer
Konzeption der Rechtfertigung von Rechten zu präzisieren.
II. Das Modell der Rechtfertigung von Menschenrechten
Normbegründung im Prinzipienmodell basiert auf der Abwägung von kollidierenden
normativen Forderungen, die in Form von Prinzipien oder, allgemeiner, normativen
Argumenten geltend gemacht werden. Die Offenheit dieser Abwägung macht sie zu
einer autonomen Entscheidung. Das vollständige Modell autonomer Normbegründung
enthält allerdings neben der Formierung und Abwägung normativer Argumente erster
Stufe weitere Elemente der intersubjektiven Reflektion erster und höherer Stufe mit
dem Ziel der Begründung objektiv gültiger, verbindlicher Normen.
In diesem Modell lässt sich klären, was es heißt, Menschen als gleichberechtigte
autonome Subjekte zu behandeln. Es erfordert die Anerkennung von zwei Kompetenzen
autonomer Subjekte zur Geltendmachung normativer Argumente und der Bildung normativer Urteile, sowie weiterer Elemente, die die Funktion des Schutzes individueller
Rechtssphären gegenüber Eingriffen insbesondere der öffentlichen Gewalt rekonstruieren.
1. Autonome Kompetenzen
Individuelle Autonomie macht es notwendig, in Argumentationen, die auf die Begründung verbindlicher Normen zielen, eine Kompetenz autonomer Subjekte anzuerkennen,
interessen-basierte normative Argumente vorzubringen. Wird dieses Recht nicht respektiert und eine Norm als verbindlich behauptet, die die selbstbestimmten Interessen
eines autonomen Individuums missachtet, gibt es für dieses keinen Grund, das Ergebnis
der Argumentation als verbindlich anzuerkennen. Ebenso muss eine Kompetenz autonomer Subjekte zur Bildung eigener normativer Urteile anerkannt werden. Wiederum gilt,
dass die Nichtanerkennung einer solchen Kompetenz in einem Verfahren der Normbegründung autonomen Subjekten eine Rechtfertigung gibt, die Verbindlichkeit der
festgesetzten Normen zu bestreiten. Sie haben keinen Grund, Normen zu akzeptieren,
349 Vgl. Brugger 1999, 104.
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References
Zusammenfassung
Auf der Grundlage der Konzeption der Abwägung normativer Argumente werden eine Theorie autonomer Normbegründung sowie eine Theorie des Rechts entwickelt, die dessen normativen Charakter und die Notwendigkeit der Rechtfertigung des Rechts aufgrund der Idee individueller Autonomie ernst nimmt. Kritisiert werden kognitive Konzeptionen moralischer Autonomie wie die Kants, propositionale Konzeptionen normativer Argumenten sowie insbesondere die Rechtstheorie Robert Alexys.
Es wird aufgezeigt, wie Prinzipien als Gründe für Abwägungsurteile konzipiert werden können, welche Richtigkeits- und Objektivitätsansprüche für Abwägungsurteile begründbar sind, ohne eine kognitive Bestimmbarkeit des Abwägungsergebnisses vorauszusetzen, und welche Autonomierechte anzuerkennen sind. Auf dieser Grundlage werden Rechtsbegriff und Rechtsgeltung, juristische Interpretation und Abwägung, die Theorie gerichtlicher Kontrollkompetenzen, das Verhältnis von Recht zu praktischer Vernunft und Moral sowie die Konzeption von Grund- und Menschenrechten analysiert.
Die Prinzipientheorie des Rechts bildet einen langjährigen Forschungsschwerpunkt des Autors. Die Arbeit fasst das Ergebnis dieser Forschungen zusammen.