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Allerdings erlauben diese Faktoren keine direkte Ableitung relativer Gewichte, sondern
bieten nur Ansatzpunkte für eine rationale Argumentation über deren Bestimmung.
IV. Abwägungsvarianten
Ein wesentliches Merkmal von Abwägungsproblemen ist, dass sie mit sprachlich formulierten Argumenten umgehen. Daraus folgt, dass es verschiedene Möglichkeiten gibt, das
Abwägungsproblem zu formulieren. Zudem können Abwägungskriterien in unterschiedlicher Weise konstruiert werden.
1. Komparative und optimierende Abwägung
Wie die Parameter des relativen Gewichts und des Erfüllungsgrads in die Abwägung
eingehen, hängt von der Fragestellung ab, mit der das Abwägungsproblem formuliert
wird. Es sind zwei Varianten der Abwägung zu unterscheiden, eine komparative (vergleichende) und eine optimierende Abwägung. Diese Unterscheidung ergibt sich aus der
Anwendung verschiedener, allerdings jeweils auf das Optimierungsmodell bezogener
Abwägungskriterien.
Bei der optimierenden Abwägung geht es darum, eine optimale Lösung des Abwägungsproblems zu bestimmen. Sind mehrere Lösungen optimal, ist eine von ihnen zu
realisieren. In der obigen Graphik wäre Z4 optimal. Eine optimierende Abwägung
kommt zur Anwendung, wenn auf beiden Seiten der Kollision obligatorische Ziele stehen, die vom Abwägenden so weit wie möglich erfüllt werden sollen, z.B. bei der
Kollision von Grundrechten oder Verfassungswerten. Es wäre in diesem Fall fehlerhaft,
in der einen oder anderen Richtung den optimalen Bereich zu verfehlen.
Bei der vergleichenden Abwägung geht es darum, welche von zwei Alternativen
besser ist. Die bessere Alternative muss nicht unbedingt optimal sein. Es ist aber richtig,
oder gerechtfertigt, diese Alternative der anderen vorzuziehen. Es geht insofern um eine
relative, komparative Rechtfertigung. Diese Form der Abwägung ist bei der gerichtlichen Kontrolle der Abwägungsentscheidungen anderer Organe anzuwenden, etwa wenn
es um die Rechtfertigung eines Eingriffs in ein Grundrecht aus öffentlichen Interessen
geht. Ob ein Eingriff in das Grundrecht gerechtfertigt ist, hängt davon ab, ob der Eingriff mehr Zugewinn für das realisierte Prinzip bringt, als nach dem relativen Gewicht
des kollidierenden grundrechtlichen Prinzips gefordert ist. In der graphischen Darstellung ist dies dann der Fall, wenn der Betrag der Steigung der Kurve der Pareto-optimalen Ergebnisse kleiner ist als der der betreffenden Indifferenzkurve. Bildlich gesehen
muss der Eingriff zu einem Ergebnis führen, das näher am Optimum liegt als der Ausgangszustand. In der obigen Graphik wäre ein Eingriff, der statt Z1 Z5 realisiert, in diesem Sinn gerechtfertigt, obgleich Z5 nicht optimal ist. Ebenso wäre ein Übergang von
Z5 zu Z4 gerechtfertigt, wobei Z4 zugleich optimal ist.
Die als Abwägungskriterien aufgestellten Vorrangregeln beziehen sich auf vergleichende Abwägungen. Sie weisen eine Lösung als besser als eine Alternative aus, also
als optimal im Rahmen der zur Entscheidung gestellten Alternativen. Für eine optimie-
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rende Abwägung wäre notwendig, Kriterien zu formulieren, unter denen eine Lösung
mindestens so gut ist wie jede andere Lösung. Zu diesem Zweck sind komparative Vorrangregeln nicht nur auf eine Entscheidungsalternative, sondern auf alle möglichen Lösungsalternativen anzuwenden.107
2. Alternative Formulierungen des Abwägungsproblems
Es sind verschiedene mögliche Formulierungen von Abwägungsproblemen zu unterscheiden. Verschiedene Formulierungen dürfen bei einer rationalen Begründung von Abwägungsurteilen nicht zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Dementsprechend ergeben
sich Möglichkeiten einer rationalen Kontrolle, indem verschiedene Begründungsvarianten
verglichen werden und bei Abweichungen Urteile modifiziert werden, um Übereinstimmung herzustellen.
2.1. Abwägung von Teilprinzipien
Es können Erfüllungsgrade von Prinzipien insgesamt oder von in diesen enthaltenen Teilprinzipien betrachtet werden. So kann statt des Prinzips der Meinungsfreiheit insgesamt
die Freiheit politischer Äußerungen betrachtet werden, statt des Prinzips des Persönlichkeitsschutzes das auf informationelle Selbstbestimmung, statt des Prinzips des Schutzes
der Volksgesundheit insgesamt das des Schutzes vor bestimmten Gesundheitsrisiken. Dasselbe Abwägungsproblem kann also auf unterschiedliche Weisen formuliert werden, ausgehend von umfassenderen Oberprinzipien oder von Teilprinzipien. Unterschiedliche Formulierungen eines Abwägungsproblems sollten jedoch nicht zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Dem höheren Gewicht des einen Prinzips muss daher ein entsprechend geringerer Beeinträchtigungsgrad entsprechen, so dass das Gewicht des Prinzips im konkreten Fall (sein Erfüllungswert) gleich bleibt.
Geht es etwa um die Frage, ob die Verhängung einer Quarantäne für an einer ansteckenden Krankheit leidende Personen gerechtfertigt ist, hängt das Urteil zum einen
davon ab, welches relative Gewicht dem Schutz der Volksgesundheit im Verhältnis zum
prinzipiellen Recht auf Freiheit der Person, insbesondere der Bewegungsfreiheit, gegeben wird, und umgekehrt, welches relative Gewicht damit die Freiheit der Person im
Verhältnis zum Schutz der Volksgesundheit erhält. Zum anderen kommt es darauf an, in
welchem Maß die Volksgesundheit durch die Quarantäne gefördert wird und in welchem Maß die Freiheit der Person durch die Quarantäne beeinträchtigt wird. Geht es um
Grippeerkrankungen, ist das im konkreten Fall relevante Teilprinzip des Gesundheits-
107 Dabei sind nicht nur tatsächlich mögliche Maßnahmen zu berücksichtigen. Es könnte sein, dass von
einer bestimmten Ausgangssituation aus zunächst ein schlechteres Ergebnis zu wählen ist, das aber
in der weiteren Folge bessere Ergebnisse ermöglicht als von der aktuellen Ausgangsposition aus. So
führt ein Verbot von Kinderarbeit zunächst zu einer Verschlechterung der Situation von Familien,
deren Einkommen von der Arbeit der Kinder abhängt. Das Verbot von Kinderarbeit ermöglicht aber
eine bessere Ausbildung der Kinder, was in der Zukunft eine Verbesserung der Lebensbedingungen
erlaubt, die bei Zulassung von Kinderarbeit nicht erreicht würde.
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schutzes das des Schutzes gegen Grippeerkrankungen. Das Abwägungsergebnis darf
nicht davon abhängen, ob das allgemeine Prinzip des Schutzes der Volksgesundheit
oder das Teilprinzip gegen Grippeerkrankungen in die Abwägung eingestellt wird.
Dies zeigt zum einen, dass die Anführung überragend wichtiger Prinzipien allein noch
keinen besonders gewichtigen Grund begründet.108 Zum anderen ergibt sich für rationale
Abwägungen die Kohärenzforderung, dass das Abwägungsergebnis unabhängig davon
sein muss, ob von konkreten Teilprinzipien oder von Oberprinzipien höheren Gewichts,
aber geringeren Beeinträchtigungsgrades ausgegangen wird.
2.2. Elementare und komplexe Prinzipien
Ein Problem für die Begründung von Abwägungsurteilen sind die komplexen begrifflichen
Beziehungen zwischen prinzipiell gebotenen Sachverhalten. Diese Beziehungen werfen
nicht nur Fragen für die Konstruktion von Abwägungen auf. Wenn verschiedene prinzipiell gebotene Sachverhalte nicht unabhängig voneinander beschrieben und bewertet werden können, lassen sich nicht Erfüllungsgrade, Gewichte und Erfüllungswerte für einzelne,
elementare Prinzipien bestimmen, sondern es können nur Prinzipien mit komplexer innerer
Struktur betrachtet werden. So kann Meinungsfreiheit in der politischen Auseinandersetzung als Gegenstand eines Prinzips angesehen werden. Es ist fraglich, ob dieses Prinzip
durch einzelne voneinander unabhängige Prinzipien, wie die der allgemeinen Meinungsfreiheit, politischer Teilhaberechte und objektiver Demokratieprinzipien, vollständig wiedergegeben werden kann.
Ist es nicht möglich, einzelne Sachverhalte unabhängig voneinander zu beschreiben
und zu bewerten, erscheint es unvermeidbar, aber auch möglich, komplexe Prinzipien zu
betrachten. Denn normative Urteile betreffen häufig komplexe Merkmale, die zwar weiter
analysiert werden können, aber nicht müssen. Urteile über richtige Bewertungen lassen
sich auch in Bezug auf solche komplexen Merkmale bilden und begründen.
Allerdings sollte auch in Fällen komplexer Prinzipien versucht werden, unabhängige
Beschreibungen der prinzipiell gebotenen Sachverhalte zu geben. Die Möglichkeit verschiedener Beschreibungen von Sachverhalten eröffnet die Chance, durch die Wahl einer
mehr oder weniger weitgehenden begrifflichen Analyse die Kohärenz verschiedener Bewertungen zu überprüfen und eine Grundlage für die Begründung eines Abwägungsurteils
zu finden.
108 Fehlerhaft daher BVerfGE 103, 172, 193 - Altersgrenze für kassenärztliche Zulassung: "Die öffentlichen Belange verlieren nicht an Gewicht, wenn sie sich nur in einer Vielzahl kleinerer Schritte realisieren lassen." "Jeder einzelne Schritt ... ist von erheblicher Bedeutung, auch wenn eine einzelne
Maßnahme immer nur einen Teilbetrag zur Verwirklichung des Gesamtziels leisten kann." Dies verkennt die Struktur rationaler Abwägung. Wird ein gewichtiges Ziel durch eine Maßnahme nur in
geringem Maß erfüllt, hat es im konkreten Fall auch nur ein diesem geringen Maß entsprechendes
Gewicht.
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2.3. Vollständig und unvollständig autonome Abwägung
Vollständig autonome Abwägungen bestimmen sämtliche abwägungsrelevanten Faktoren
nach eigenem Urteil. Unvollständig autonome Abwägungen übernehmen bestimmte Abwägungselemente aus anderen Entscheidungen. Sie setzen bestimmte Abwägungsurteile
oder jedenfalls einzelne abwägungsrelevante Faktoren als zutreffend oder verbindlich
voraus, z.B. Aussagen zum relativen Gewicht von Prinzipien in einer vorangegangenen
Entscheidung. Ausgehend von diesen Annahmen gelangen sie zu einem Abwägungsurteil,
für das Richtigkeit beansprucht wird wie für ein vollständig autonomes Urteil. Im Grenzfall kann ein vollständiges, unmittelbar auf den zu entscheidenden Fall anwendbares Abwägungsurteil übernommen werden. Im Rahmen einer autonomen Normbegründung
bleibt allerdings auch in diesem Fall als letzte eigene Abwägung die Entscheidung,
diesem Urteil zu folgen. Auch unvollständig autonome Abwägungsurteile sind daher mit
einem absoluten Richtigkeitsanspruch (im dargelegten Sinne) verbunden, nicht nur mit
einem systemrelativen. Aus Gründen der Kohärenz dürfen sie jedenfalls nicht in Widerspruch zu einer vollständig autonomen Abwägung stehen. Dies ist von besonderer Bedeutung für juristische Abwägungen, da Rechtsordnungen darauf zielen, verbindliche Regelungen zu treffen, und damit autonomes Entscheiden beschränken, ohne allerdings Autonomie zu eliminieren. Juristische müssen mit autonomen Abwägungen vereinbar sein.
3. Grade der Gebundenheit von Abwägungen
Hinsichtlich der in die Abwägung einzustellenden Argumente lassen sich vollständig,
teilweise oder nicht gebundene Abwägungen unterscheiden.
Bei einer vollständig gebundenen Abwägung sind die zu berücksichtigenden Argumente dem Entscheidenden sämtlich vorgegeben. So ist bei der Einschränkung von unbeschränkt gewährleisteten Grundrechten aufgrund anderer Verfassungswerte durch die
Verfassung vorgegeben, welche Argumente in die Abwägung des Gesetzgebers einzustellen sind. Es besteht keine Entscheidungsfreiheit des Gesetzgebers, sie außer Acht zu
lassen oder weitere, politische Ziele bei der Abwägung zu berücksichtigen. Bei einer
Einschränkung eines Grundrechts aufgrund eines Gesetzesvorbehalts kann der Gesetzgeber hingegen verfassungsrechtlich nicht gebotene, politische Zielsetzungen verfolgen.
Schließlich können legislative Abwägungen rein politischer Natur sein, ohne dass abzuwägende Argumente verfassungsrechtlich vorgegeben wären.
Auch individuelle Entscheidungen können vollständig, teilweise und nicht gebunden sein. So können kollidierende moralische Forderungen abzuwägen sein, etwa die
eigenen Kinder zu fördern oder Geld für Kinder der Dritten Welt zu spenden. Es können
moralische Argumente mit nicht-moralischen kollidieren, etwa bei der Alternative, Geld
zu spenden oder mit dem Geld eine Kinokarte zu kaufen. Es können ferner rein
pragmatische, nicht-moralische Fragen zu entscheiden sein, etwa ob man ins Kino geht
oder lieber zu Hause bleibt.
Vollständig gebundene Entscheidungen für ein Kollektiv (eine Rechtsgemeinschaft) können als juristische (rechtliche) bezeichnet werden, solche für das Handeln
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einzelner Personen als moralische. Nicht gebundene Entscheidungen sind nicht-normative, aber praktische Entscheidungen. Sie können als politisch oder als pragmatisch bezeichnet werden. Teilweise gebundene Entscheidungen sind hingegen normative Entscheidungen, da die teilweise Bindung durch vorgegebene Argumente dazu führt, dass
das Ergebnis der Entscheidung normativen Charakter haben muss. Entweder setzt sich
das zu berücksichtigende Gebot durch, oder es muss gerechtfertigt werden, warum ihm
nicht gefolgt wird. Normative Entscheidungen umfassen somit moralische, rechtliche
und sonstige normativ gebundene Entscheidungen. Entsprechend der obigen Differenzierung, ob Entscheidungen für Individuen oder für ein Kollektiv getroffen werden,
können einerseits moralische, normative und pragmatische Entscheidungen unterschieden werden, andererseits juristische, normative und rein politische. Diese Varianten
lassen sich wie folgt darstellen:
Argumentationsbasis Charakter der Entscheidung:
kollektiv individuell
vollständig gebunden juristisch moralisch
teilweise gebunden normativ normativ
nicht gebunden politisch pragmatisch
Ein anderer Punkt Unterschied in der Gebundenheit betrifft das Abwägungsergebnis.
Bei einer normativen Abwägung muss das Abwägungsergebnis eine Norm mit generellem Charakter sein, nicht lediglich eine Einzelfallentscheidung. Darauf ist bei der
Diskussion möglicher Abwägungsergebnisse zurückzukommen.
V. Abwägungsergebnisse
Als Ergebnis einer Abwägung ist eine Vorrangrelation PRIOR(Pi,Pj) zwischen den kollidierenden Prinzipien festzusetzen, aus der sich ergibt, unter welchen Bedingungen das eine
Prinzip hinsichtlich der fraglichen Rechtsfolge (R) Vorrang vor dem anderen Prinzip hat.
Die Rechtsfolge im Beispiel der Kollision von Meinungsfreiheit und Schutz der persönlichen Ehre ist die Erlaubnis der zu beurteilenden Handlung. Der Bezug auf die Rechtsfolge
ist notwendig, weil und soweit Prinzipien verschiedene Folgerungen implizieren können
und daraus, dass ein Prinzip einem anderen in einer bestimmten Kollision vorgeht, nicht
folgt, dass damit alle seine normativen Folgerungen gelten. Der Vorrang kann den
gesamten Bereich der Kollision der abzuwägenden Prinzipien umfassen oder durch weitere
Bedingungen beschränkt sein. Das Abwägungsurteil könnte auch nur für den entschiedenen, partikularen Fall gelten. Es sind also drei Möglichkeiten zu unterscheiden:
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Auf der Grundlage der Konzeption der Abwägung normativer Argumente werden eine Theorie autonomer Normbegründung sowie eine Theorie des Rechts entwickelt, die dessen normativen Charakter und die Notwendigkeit der Rechtfertigung des Rechts aufgrund der Idee individueller Autonomie ernst nimmt. Kritisiert werden kognitive Konzeptionen moralischer Autonomie wie die Kants, propositionale Konzeptionen normativer Argumenten sowie insbesondere die Rechtstheorie Robert Alexys.
Es wird aufgezeigt, wie Prinzipien als Gründe für Abwägungsurteile konzipiert werden können, welche Richtigkeits- und Objektivitätsansprüche für Abwägungsurteile begründbar sind, ohne eine kognitive Bestimmbarkeit des Abwägungsergebnisses vorauszusetzen, und welche Autonomierechte anzuerkennen sind. Auf dieser Grundlage werden Rechtsbegriff und Rechtsgeltung, juristische Interpretation und Abwägung, die Theorie gerichtlicher Kontrollkompetenzen, das Verhältnis von Recht zu praktischer Vernunft und Moral sowie die Konzeption von Grund- und Menschenrechten analysiert.
Die Prinzipientheorie des Rechts bildet einen langjährigen Forschungsschwerpunkt des Autors. Die Arbeit fasst das Ergebnis dieser Forschungen zusammen.