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In pragmatischer Hinsicht besteht ein normatives Argument aus dem Gebrauch eines
Normsatzes mit dem Anspruch, dass die betreffende Norm als definitiv geltend anerkannt werden sollte und darüber hinaus dieses Geltungsgebot durch eine infinite Kette
von Geltungsgeboten jeweils höherer Ordnung begründet werden kann, ...O VALDEFN0.
Dem korrespondiert die normative Aussage, dass die betreffende Norm als normatives
Argument, also prinzipiell, gültig ist, |VALARGN0.
Die Begründung eines normativen Arguments besteht in der Rechtfertigung des
Geltungsgebots erster Stufe sowie dem Nachweis, dass mit einem Geltungsgebot der
Stufe x auch ein Geltungsgebot der Stufe x + 1 gerechtfertigt ist.
IV. Argumente für die Konstruktion reiterierter Geltungsgebote
Das Modell reiterierter Geltungsgebote ist zunächst nur eine Konstruktion, die Begründungen im Abwägungsmodell ermöglicht. Es lassen sich jedoch eine Reihe von Argumenten
für dessen Adäquatheit anführen. Das Hauptargument ist die Rekonstruktion der Idee der
Autonomie im Sinne von Selbstgesetzgebung durch die Konzeption der Abwägung normativer Argumente. Dieses Argument durchzieht die gesamte hiesige Analyse und soll an anderer Stelle eingehender dargestellt werden. Daneben gibt es eine Reihe weiterer Argumente, insbesondere
(1) eine adäquate Rekonstruktion der Idee von Gründen für Abwägungen,
(2) die Übereinstimmung mit der Struktur von Interessen,
(3) die normtheoretische Plausibilität dieser Konstruktion,
(4) die Explikation der Begriffe der Normativität und des idealen Sollens,
(5) die Vermeidung des Münchhausen-Trilemmas, dem deduktive Begründungen ausgesetzt sind.
1. Adäquatheitsbedingungen für Abwägungsgründe
Aus der Analyse der Struktur von Abwägungen haben sich verschiedene Anforderungen
ergeben, die Gründe für Abwägungen hinsichtlich ihrer logischen Struktur erfüllen müssen.
(1) Relevanz: Jeder Abwägungsgrund muss eine Antwort auf die zu entscheidende Frage
geben.
Im Beispiel der Zulässigkeit einer beleidigenden Meinungsäußerung bedeutet dies, dass
aus jedem der abzuwägenden Gründe ein bestimmtes, für die Fragestellung relevantes
Ergebnis folgen82 muss, entweder, dass bestimmte Meinungsäußerungen erlaubt sein sollen, oder, dass sie verboten sein sollen.
82 Folgerung wird hier nicht als deduktive Folgerung verstanden, sondern in einem prozeduralen Sinn,
als Ergebnis eines korrekten Schritts in einer Argumentation.
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(2) Kollisionsfähigkeit: Die Gültigkeit eines Abwägungsgrundes muss mit der Gültigkeit
eines kollidierenden Abwägungsgrundes vereinbar sein.
Gründe für Abwägungen dürfen also nicht die Struktur normativer Aussagen (oder eine
äquivalente logische Struktur83) haben, die die definitive Geltung einer unmittelbar handlungsleitenden Norm behaupten oder beanspruchen.
(3) Reflexivität: Die abzuwägenden Gründe sind, soweit sie aufgrund der Abwägung
Vorrang vor den kollidierenden Gründen erhalten, selbst Gründe für diesen Vorrang.
Wenn im Beispiel die Meinungsfreiheit den Vorrang vor dem Persönlichkeitsschutz erhält,
dann ist die Meinungsfreiheit selbst der Grund für diesen Vorrang und nicht ein anderer,
zusätzlich anzuführender Grund.84 Denn der elementare Fall eines Abwägungsproblems ist
die Kollision zweier gegenläufiger Gründe. Wenn eine Abwägungsentscheidung überhaupt
eine Begründung für das Abwägungsergebnis darstellen kann, dann muss der Grund, der
den Vorrang erhält und damit das Ergebnis trägt, zugleich ein Grund für die entsprechende
Vorrangentscheidung sein. Es kann keine unabhängige Begründung der Vorrangentscheidung geben. Zwar kann die Begründung, über den elementaren Fall hinaus, erweitert
werden, indem zusätzliche Gründe für die Abwägungsentscheidung angeführt werden.
Solche Gründe sind jedoch lediglich in die Abwägung einzustellende Gründe, keine außerhalb einer Abwägung anwendbaren Vorrangkriterien. Wird etwa das Demokratieprinzip
als Unterstützung des Prinzips der Meinungsfreiheit angeführt, dann ist dieses neben letzterem in der Abwägung zu berücksichtigen, aber nicht eine unabhängige Begründung für
eine Vorrangentscheidung. Wäre dies nicht so, wären Abwägungsentscheidungen auf andere Begründungsformen reduzierbar und keine eigenständige Form der Normbegründung.
(4) Intrinsische Geltung: Gründe für Abwägungen bedürfen selbst keiner weiteren Begründung.
Der normative Charakter von Abwägungsentscheidungen wäre zweifelhaft, wenn die Abwägungsgründe selbst einer Begründung bedürften, diese aber - wegen notwendiger Zirkularität, infiniten Regresses oder willkürlichen Begründungsabbruchs85 - nicht gegeben
werden könnte.
Normative Argumente mit der Struktur reiterierter Geltungsgebote erfüllen die aufgeführten Bedingungen. Sie stellen, gemäß Bedingung (1), eine Form eines Grundes für ein
Abwägungsergebnis dar. Es handelt sich zwar nicht um deduktive Gründe, da sie nicht die
83 So können Befehle oder Imperative nur entweder gelten oder nicht gelten und müssen in einem
rationalen normativen System widerspruchsfrei sein.
84 Allerdings besteht das vollständige Argument für den Vorrang nicht in dem vorgehenden Prinzip
allein, sondern enthält auch Annahmen über Wichtigkeits- und Beeinträchtigungsgrade der kollidierenden Prinzipien. Die normative Forderung, den Vorrang anzuerkennen, ergibt sich aber aus jenem
Prinzip selbst.
85 Vgl. zu diesem "Münchhausen-Trilemma" Albert 1980, 13, 15ff.; ferner Bäcker 2008.
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Struktur von Aussagen haben. Aber es handelt sich um Gebote, und ein Gebot von etwas
ist, wenn es gültig ist, ein Grund, das Gebotene zu realisieren. Ein Geltungsgebot ist daher
seiner Struktur nach als ein Grund für etwas einzuordnen, genauer als ein normativer
Grund im Unterschied zu einem deduktiven Grund.
Ferner sind, wie von Bedingung (2) gefordert, Kollisionen zwischen reiterierten Geltungsgeboten möglich. Unvereinbare Geltungsgebote können zugleich gültig sein. Ein
logischer Widerspruch tritt nicht auf, da die Regeln der Aussagenlogik oder andere
logische Regeln, aus denen sich ein Widerspruch ableiten ließe, nicht anwendbar sind. Die
prinzipielle Geltung einer Norm erlaubt echte Normkonflikte, denn sie fordert ein bestimmtes Abwägungsergebnis, schließt jedoch die prinzipielle Geltung kollidierender
Normen nicht aus. Eine Iteration von Geltungsgeboten kann in Bezug auf unvereinbare
Normen begründbar sein, diese können also zugleich gültige Gründe für Abwägungsentscheidungen sein.86
Reiterierte Geltungsgebote stellen zudem, gemäß Bedingung (3), Gründe für ihren
eigenen Vorrang vor kollidierenden Gründen dar. Denn die Erfüllung eines Geltungsgebots fordert die Anerkennung der definitiven Geltung der betreffenden Norm. Dies setzt
voraus, dass dieses Vorrang vor kollidierenden Normen erhält. Da die Anerkennung dieses
Vorrangs notwendige Bedingung für die Erfüllung des Geltungsgebots ist, ergibt sich
aufgrund eines teleologischen Arguments, dass diese Anerkennung aufgrund des Geltungsgebots gefordert ist. Damit begründet ein Geltungsgebot zugleich den Vorrang für die von
ihm gestützte Norm gegenüber kollidierenden Normen.
Schließlich erfordern, gemäß Bedingung (4), reiterierte Geltungsgebote keine weiteren Gründe für ihre Begründung. Denn wenn ein reiteriertes Geltungsgebot gültig ist, lässt
sich für jedes Geltungsgebot einer bestimmten Stufe ein Geltungsgebot der nächsthöheren
Stufe konstruieren, das dieses begründet. Es ist keine weitere Begründung notwendig, die
auf andere Normen zurückgreift. Es bleibt natürlich das materielle Problem, die Geltung
eines reiterierten Geltungsgebots zu begründen. Soweit es gültig ist, ist die Geltung aber
nicht aus anderen Normen abgeleitet.
2. Die Struktur interessenbasierter Argumente
Die wichtigste Klasse normativer Argumente sind Forderungen, dass bestimmte individuelle Interessen erfüllt werden sollen. Einem Interesse, z.B. nicht in seiner Gesundheit
beeinträchtigt zu werden, korrespondiert eine Forderung, dieses Interesse zu erfüllen. Es ist
jedenfalls grundsätzlich legitim, eine solche interessenbasierte Forderung zu erheben. Sie
ist damit als ein gültiges normatives Argument anzusehen. Umgekehrt korrespondiert einer
Forderung, dass etwas getan oder realisiert werden soll, ein Interesse desjenigen, der die
Forderung erhebt. Interessen lassen sich als Gegenstand normativer Argumente definieren,
86 Alexy 2000a, 294ff., hat gegen die Konzeption reiterierter Geltungsgebote eingewandt, die Oszillation zwischen Normen im bloß semantischen Sinn und Geltungsaussagen könne den Charakter
von Gründen für Abwägungen nicht erklären. Dieser Einwand übersieht jedoch, dass reiterierte
Geltungsgebote infinite Strukturen bilden. Dass sich mit finiten Strukturen die Abwägungsfähigkeit
von Normen nicht erklären lässt, begründet daher keinen Einwand.
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so dass sich eine analytische Beziehung zwischen dem Begriff des normativen Arguments
und dem des Interesses ergibt. Jedenfalls bilden interessenbasierte Argumente die Hauptform normativer Argumentation, wenn nicht die einzig mögliche.
Ein zentrales Argument für die Konzeption normativer Argumente als reiterierter
Geltungsgebote ist, dass Interessenargumente die Struktur reiterierter Geltungsgebote aufweisen. Die beliebige Iterierbarkeit interessenbasierter Forderungen ergibt sich daraus,
dass
(1) ein Interesse eine Forderung begründet, dass dieses Interesse erfüllt werden soll, also
ein entsprechendes normatives Argument für die definitive Geltung der betreffenden
Norm begründet werden kann, sowie
(2) ein Interesse höherer Stufe an der definitiven Geltung dieses Gebots gegeben ist.
Die Prämisse, dass Interessen erfüllt werden sollen, lässt sich im Rahmen einer Konzeption
autonomer Normbegründung begründen, weil die Geltung einer Norm von der Zustimmung autonomer Subjekte abhängt und diese ihre Zustimmung vernünftigerweise nicht
geben werden, wenn ihre Interessen als irrelevant behandelt werden. Die Verbindung eines
Interesses mit einem Interesse an der Geltung eines Gebots, das die Realisierung des Interesses 1. Stufe fordert, ist eine Rationalitätsforderung, da ein Gebot der Erfüllung des Interesses 1. Stufe der Erfüllung dieses Interesses dient. Sie gilt im Fall eines Interessenkonflikts und unter der Annahme, dass die definitive Geltung eines Gebots, ein Interesse zu
erfüllen, eine fördernde Wirkung für die Erfüllung dieses Gebots hat. Diese fördernde Wirkung lässt sich mit der Existenz normativer Argumentation belegen. Wären Normen praktisch ohne jegliche Wirkung, gäbe es kaum Streit und Argumentation über Normen.
Die reiterierte Struktur interessenbasierter Argumente lässt sich wie folgt entwickeln.
Zunächst sind einige Festlegungen zu treffen. Es bedeuten
INT(Z): Es besteht ein Interesse eines autonomen Subjekts an Zustand Z.
VALARGOZ: Das Gebot von Z ist als normatives Argument gültig.
INT(VALARGOZ): Es besteht ein Interesse daran, dass das Gebot von Z definitiv
gültig ist.
Die Reiteration von Geltungsgeboten ergibt sich dann wie folgt:
(1) INT(Z)
(2) INT(Z) ? VALARGOZ
(3) INT(Z) ? INT(VALDEFOZ)
(4) VALARGOZ Folgerung aus (1), (2)
(5) INT(VALDEFOZ) Folgerung aus (1), (3)
(6) INT(VALDEFOZ) ? VALARGOVALDEFOZ Folgerung aus (2), Z = VALDEFOZ
(7) VALARGOVALDEFOZ Folgerung aus (5), (6),
etc.
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Allgemein lassen sich Geltungsgebote der Ordnung n+1 erzeugen, indem für Z ein Geltungsgebot n-ter Stufe eingesetzt wird.
3. Normtheoretische Argumente
Normtheoretische Argumente für die Konzeption normativer Argumente als reiterierte
Geltungsgebote zeigen, dass diese Konzeption nicht nur normtheoretisch möglich und
plausibel ist, sondern auch, dass sie die einzig plausible Konstruktion von Gründen für
Abwägungen darstellt oder jedenfalls alternativen Konzeptionen überlegen ist.
Die logischen Möglichkeiten der Konstruktion von Abwägungsgründen ergeben sich
aus den Elementen, aus denen die normative Sprache aufgebaut ist. Für die Zwecke dieser
Untersuchung soll von drei Arten von Elementen ausgegangen werden: Sätzen, deontischen Operatoren und Geltungsprädikaten. Sätze sollen mit S oder, wenn es sich um
Normsätze87 handelt, mit N bezeichnet werden.88 Als deontischer Operator soll im folgenden lediglich der Gebotsoperator O verwendet werden, da bloße Erlaubnisse kein Ergebnis
festlegen und daher keine Abwägungsgründe darstellen. Das Geltungsprädikat VAL wird
eingeführt, um die Geltung eines Satzes und damit den Aussagegehalt einer Äußerung und
den propositionalen Charakter deren Inhalts darzustellen. Es wird mit einem Zusatz (z.B.
DEF, ARG) versehen, soweit dies notwendig ist, um die Art der Geltung kenntlich zu
machen.
Für die logische Struktur von Abwägungsgründen lassen sich verschiedene Einschränkungen machen. Zunächst muss ein Abwägungsgrund mehr sein als eine mit einem
einfachen Normsatz formulierte Norm, also eine Norm im rein semantischen Sinn. Denn
mit einem einfachen Normsatz wird nichts über die Geltung der formulierten Norm gesagt.
Mit einem in der Abwägung angeführten Argument muss aber beansprucht werden, dass
dieses einen Grund für eine bestimmte Abwägungsentscheidung darstellt. Dies ist nur
möglich, wenn ihm Geltung zugeschrieben wird.
Ferner kann die Struktur eines Abwägungsgrundes nicht mit dem Geltungsprädikat
VAL beginnen. Denn als normative Aussage VALDEFN würde entweder die definitive
Geltung einer Norm behauptet, was einen Konflikt mit anderen Geltungsbehauptungen
nicht zulassen kann, oder der Inhalt der Norm müsste - etwa im Sinne eines Optimierungsgebots - in einer Weise abgeschwächt werden, die seine Verwendung als Argument für
eine Abwägungsentscheidung untauglich macht. Eine Aussage, dass eine Norm als normatives Argument gültig ist (VALARGN), wäre hingegen lediglich eine metasprachliche
Beschreibung eines normativen Arguments und könnte nicht selbst als normatives Arguments verwendet werden. Ferner kann ein Abwägungsgrund auch nicht mit einem deontischen Operator beginnen. Denn ein Gebotsoperator vor einem Norminhalt S führte zu
87 Normsätze sind solche, die deontische Operatoren enthalten oder mittels deontischer Operatoren dargestellt werden können.
88 Genauer wäre zu unterscheiden zwischen dem Satz als Zeichenreihe und als Inhalt. Diese soll hier
vernachlässigt werden. Für eine Analyse von Argumenten und Normen interessieren die Inhalte von
Sätzen, nicht die Art ihrer Formulierung. Andererseits werden solche Inhalte anhand ihrer Formulierung, als bestimmter Zeichenreihen, identifiziert.
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einem Satz OS, der wiederum ein einfacher Satz N ohne Geltungsaussage wäre. Die
Konstruktion eines Abwägungsgrundes steht somit vor dem Problem, dass dessen Struktur
weder mit einem Geltungsprädikat oder deontischen Operator beginnen kann noch ein
einfacher Normsatz sein kann.
Die Lösung dieses Problems besteht darin, eine infinite logische Struktur zu bilden,
die keinen Anfang hat. Da bloße Erlaubnisse kein Abwägungsergebnis bestimmen können
und die deontische Modalität von Abwägungsgründen mithin ein Gebot sein muss, ergibt
sich die Struktur beliebig iterierter Geltungsgebote (...O VALDEFO VALDEFN). Allerdings
kann ein solches Gebot nicht vollständig formuliert werden. Es kann daher nicht auf semantischer Ebene als Bedeutung entsprechender Normsätze eingeführt werden, sondern
besteht aus einer infiniten Menge von Geltungsgeboten, in der für jedes Geltungsgebot ein
Geltungsgebot höherer Stufe enthalten ist. In der Argumentation vorgebrachte normative
Argumente formulieren jeweils nur ein Geltungsgebot bestimmter Stufe, beziehen sich
aber auf diese infinite normative Struktur. Nach dieser Konzeption gilt eine Norm als normatives Argument genau dann, wenn sich in Bezug auf sie eine solche beliebig fortsetzbare Iteration von Geltungsgeboten begründen lässt.
Auch hinsichtlich der Reiteration ist die einzig sinnvolle Möglichkeit die der Reiteration von Geltungsgeboten. Es wäre sinnlos, Sätze, Operatoren oder Geltungsprädikate zu
wiederholen, also Ausdrücke der Struktur SS, OO oder VAL VAL zu bilden. Die Aneinanderreihung von Sätzen erfüllt keine argumentative Funktion. Zwei Gebotsoperatoren
hintereinander sind ausgeschlossen, weil ein Gebotsoperator die Erfüllung von etwas fordert, z.B. den Vollzug einer Handlung oder die Realisierung eines Zustands, nicht ein Gebot als solches. Die Wiederholung des Geltungsprädikats erscheint zwar logisch möglich,
aber argumentativ sinnlos, da nichts neues mit dieser Wiederholung vorgebracht wird. Es
ist also keine Alternative zu reiterierten Geltungsgebote ersichtlich, um Gründe für Abwägungen zu konstruieren.
Damit ergibt sich ein normtheoretisches Modell, in dem folgende Elemente zu
unterscheiden sind:
- Normformulierungen N, die lediglich eine Norm im semantischen Sinn angeben, ohne
etwas über ihre Geltung zu sagen;
- Geltungssätze VAL N, die besagen, dass eine Norm N (auf bestimmte Weise) gilt;
- Geltungsgebote O VALDEFN, die besagen, dass eine Norm N definitiv gelten soll;
- normative Argumente im Sinne einer infiniten Menge iterierter Geltungsgebote, so
dass jedes Geltungsgebot durch ein Geltungsgebot höherer Stufe begründet wird.
Normative Aussagen oder Geltungsaussagen können explizit mittels eines Zusatzes wie
"es gilt, dass ..." formuliert werden, aber auch mit der Verwendung einer Normformulierung in einer Normbehauptung implizit zum Ausdruck gebracht werden. Möglich sind
ferner Geltungsaussagen in Bezug auf Geltungsgebote (VALDEF O VALDEFN).
Normative Argumente bringen ein ideales Sollen zum Ausdruck. Dieses kann als
Normformulierung N oder als Geltungsgebot O VALDEFN angegeben werden, jedoch
wegen des infiniten Charakters von normativen Argumente nicht vollständig formuliert
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werden. Normative Argumente können ferner metasprachlich ausgedrückt werden in Form
von Geltungsaussagen der Struktur VALARGN.
Festzustellen ist somit, dass die Konstruktion reiterierter Geltungsgebote aus logischen Gründen gefordert ist, weil keine andere Konstruktion von Abwägungsgründen ersichtlich ist.
4. Normativität und ideales Sollen
4.1. Der normative Geltungsbegriff
Es sind normative und nicht-normative Begriffe der Geltung von Normen zu unterscheiden. Das Problem nicht-normativer Geltungsbegriffe ist, dass die von ihnen verwendeten Geltungskriterien weder logisch gültig sind noch aus nicht-normativen Prämissen
begründbar sind. In bezug auf Normen, die nach solchen Kriterien gelten, lässt sich daher
stets fragen, warum diesen Normen gefolgt werden soll. Geltung einer Norm im normativen Sinn ist demgegenüber dadurch zu charakterisieren, dass die Anerkennung, Anwendung und Befolgung der Norm geboten ist. Es ist ein Merkmal dieses Geltungsbegriffs,
dass nicht die Geltung einer Norm nach dem normativen Geltungsbegriff festgestellt und
gleichwohl gefragt werden kann, ob der betreffenden Norm gefolgt werden soll. Dieser
Ansatz führt zu einer Iteration von Geboten. Denn ein Anerkennungsgebot (O ACC N) gilt
im gleichen normativen Sinn wie die Norm 1. Stufe. Dessen Geltung ist daher durch ein
Anerkennungsgebot 2. Stufe zu charakterisieren, usf. Es lässt sich also folgern:
VAL N ? VAL O ACC N,
VAL OACC N ? VAL O ACC O ACC N,
etc.
Der normative Geltungsbegriff führt demnach auf eine Struktur aus iterierten Anerkennungsgeboten. Nun ist für moralisch autonome Subjekte die Geltung einer Norm mit der
Anerkennung durch das autonome Subjekt gleichzusetzen. Dementsprechend erfordert
Geltung im normativen Sinn, dass eine beliebige Iteration von Geltungsgeboten begründbar ist. Normen, die nicht eine solche Struktur aufweisen, können für ein autonomes Subjekt keine Normativität beanspruchen.
4.2. Der Begriff des idealen Sollens
Die Reiteration von Geltungsgeboten bietet auch eine passende Interpretation des Begriffs des idealen Sollens. Es gibt allerdings unterschiedliche Verwendungsweisen dieses Ausdrucks, etwa im Sinne von Idealen, die ein Sollen enthalten, das niemals vollständig erfüllbar ist. Darum geht es bei reiterierten Geltungsgeboten nicht, jedenfalls
nicht notwendigerweise. Ansatzpunkt der Interpretation des idealen Sollens durch reiterierte Geltungsgebote ist die Unterscheidung von realem und idealem Sollen. Reales
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Sollen ist dasjenige, das tatsächliche Geltung besitzt. Das Gegensatzpaar real/ideal legt
es nahe, dem tatsächlichen Sollen definitiver Normen ein lediglich gebotenes Sollen
gegenüberzustellen, das jedoch keine tatsächliche, definitive Geltung besitzt. Damit
führt die Interpretation des Begriffs eines idealen Sollens auf die Konzeption von Geltungsgeboten. Da sich für Geltungsgebote wiederum die Frage nach ihrer Geltungsweise stellt, also ob sie ein reales oder ein ideales Sollen enthalten, muss das ideale
Sollen dadurch charakterisiert werden, dass seine Geltung wiederum nur geboten und
nicht tatsächlich ist. Daraus folgt die Reiteration von Geltungsgeboten als Merkmal des
idealen Sollens.
5. Die Vermeidung des Münchhausen-Trilemmas
Gegenüber einem gültigen reiterierten Geltungsgebot hat es - wegen des intrinsischen Charakters seiner Geltung - keinen Sinn zu fragen, nach einer weiteren Begründung zu fragen.
Jede Frage, warum das Geltungsgebot gilt, oder warum die Behauptung der Geltung
akzeptiert werden sollte, kann mit einem weiteren Geltungsgebot beantwortet werden. Ist
etwa ein Urteil, dass eine herabsetzende Äußerung erlaubt ist, zu begründen, dann kann auf
der ersten Stufe angeführt werden, dass dies Inhalt der Meinungsfreiheit ist und die Geltung der Meinungsfreiheit geboten ist. Wird nach einer weiteren Begründung für das Gebot der Meinungsfreiheit gefragt, lässt sich anführen, dass die Geltung des Gebots der Meinungsfreiheit geboten sei, auf der nächsten Stufe, dass die Geltung des Gebots der Geltung
der Meinungsfreiheit geboten sei, usf. Auf jede eine weitere Begründung fordernde
"Warum"-Frage lässt sich ein normativer Grund anführen. Natürlich ist diese Vorgehensweise keine substantielle Begründung. Sie dient lediglich dazu, den Anspruch des
Skeptikers, mit wiederholten "Warum"-Fragen jede Begründung zum Scheitern bringen zu
können, zu widerlegen.
Das Wechselspiel von "Warum"-Fragen und der Anführung von Geltungsgeboten der
nächsthöheren Stufe führt nun zwar zu einem Regress und ist als solches recht sinnlos. Die
Frage ist, zu wessen Lasten dies geht. Im Unterschied zum Münchhausen-Trilemma89 bei
deduktiven Begründungen ist der infinite Regress für den Proponenten eines reiterierten
Geltungsgebots unschädlich. Mit einer deduktiven Begründung wird eine abschließende,
definitive Beurteilung einer Frage beansprucht. Gelingt dies nicht, ist die Begründung
gescheitert. Der infinite Regress bringt also eine deduktive Begründung zum Scheitern.
Mit einem reiterierten Geltungsgebot wird demgegenüber nur ein Argument vorgebracht,
das Gegengründe zulässt und eine Argumentation nicht ausschließt, sondern gerade eröffnet. Einem solchen Argument mit der Wiederholung von Warum-Fragen zu begegnen,
würde eine Argumentation unmöglich machen und wäre daher irrational. Daher sind reiterierte Geltungsgebote gegenüber Warum-Fragen eines Skeptikers immun. Da eine weitere
Begründung für sie sinnvollerweise nicht verlangt werden kann, bedürfen sie keiner weiteren Begründung und erfüllen damit die Forderung des selbsttragenden Charakters.
89 Dazu s.o., IV. 1.
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V. Normative Aussagen
Normative Aussagen können Abwägungsergebnisse oder nicht abwägungsfähige Grundsätze sowie auch Prinzipien im Sinne normativer Argumente zum Gegenstand haben. Im
folgenden geht es um normative Aussagen, die Abwägungsergebnisse formulieren. Allerdings können normative Aussagen auch Metaaussagen in Bezug auf solche Abwägungsergebnisse und die in ihnen benannten definitiven Normen enthalten. Im engeren Sinne
werden als normative Aussagen hier jedoch nur solche behandelt, mit denen ein normatives Urteil zum Ausdruck gebracht wird, nicht metatheoretische Stellungnahmen dazu.
Nach ihrer pragmatischen Funktion sind normative Aussagen aus der Teilnehmerperspektive des Urteilenden von Aussagen aus der Beobachterperspektive zu unterscheiden,
die lediglich die Anerkennung bestimmter Normen beschreiben, aber keine normative
Stellungnahme zum Ausdruck bringen. Normative Urteile (d.h. normative Aussagen i.e.S.)
sind Aussagen aus der Perspektive desjenigen, der an einer normativen Argumentation
teilnimmt.90 Normative Urteile aus der Teilnehmerperspektive können auch als interne
normative Aussagen bezeichnet werden. Unter ihnen sind wiederum die Abwägungsurteile
selbst von normativen Aussagen zu unterscheiden, die die Gültigkeit einer Norm als Ergebnis einer bestimmten Abwägungsprozedur behaupten.
1. Interne normative Aussagen
Normative Aussagen aus der Teilnehmerperspektive sind in verschiedener Form möglich.
Gemeinsam ist ihnen, dass sie einer Norm definitive Geltung zuschreiben. Diese Geltungsaussage kann explizit sein oder aber implizit in der Verwendung eines Normsatzes als
normative Aussage enthalten sein. Sie kann auf ein Geltungsgebot oder eine Norm 1.
Stufe, die Gegenstand eines solchen Gebots ist, bezogen sein. Diese Norm 1. Stufe kann
wiederum eine Vorrangregel oder eine handlungsleitende Norm sein. Normalerweise wird
das Abwägungsergebnis in Form einer normativen Aussage mit impliziter Behauptung der
Geltung der betreffenden Norm 1. Stufe formuliert, etwa
(1) "Unter den Umständen des vorliegenden Falles ist die Äußerung der Meinung M
erlaubt."
Die anderen Ausdrucksformen sind jedoch möglich und u.U. notwendig, um Abgrenzungen deutlich zu machen. So bringt die Formulierung (1) nicht explizit zum Ausdruck,
dass es sich um eine definitive Erlaubnis handelt. Dies ergibt sich aus dem Kontext, weil es
sich um ein Abwägungsergebnis handelt. Dies kann durch folgende Formulierung klargestellt werden:
(2) "Unter den Umständen des vorliegenden Falles ist die Äußerung der Meinung M
definitiv erlaubt."
90 Vgl. auch die Definition bei Alexy 1994, 47.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Auf der Grundlage der Konzeption der Abwägung normativer Argumente werden eine Theorie autonomer Normbegründung sowie eine Theorie des Rechts entwickelt, die dessen normativen Charakter und die Notwendigkeit der Rechtfertigung des Rechts aufgrund der Idee individueller Autonomie ernst nimmt. Kritisiert werden kognitive Konzeptionen moralischer Autonomie wie die Kants, propositionale Konzeptionen normativer Argumenten sowie insbesondere die Rechtstheorie Robert Alexys.
Es wird aufgezeigt, wie Prinzipien als Gründe für Abwägungsurteile konzipiert werden können, welche Richtigkeits- und Objektivitätsansprüche für Abwägungsurteile begründbar sind, ohne eine kognitive Bestimmbarkeit des Abwägungsergebnisses vorauszusetzen, und welche Autonomierechte anzuerkennen sind. Auf dieser Grundlage werden Rechtsbegriff und Rechtsgeltung, juristische Interpretation und Abwägung, die Theorie gerichtlicher Kontrollkompetenzen, das Verhältnis von Recht zu praktischer Vernunft und Moral sowie die Konzeption von Grund- und Menschenrechten analysiert.
Die Prinzipientheorie des Rechts bildet einen langjährigen Forschungsschwerpunkt des Autors. Die Arbeit fasst das Ergebnis dieser Forschungen zusammen.