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richten soll [...], wobei jede Seite ihrer Rechtsordnung verp? ichtet bleibt und respektiert, dass die andere Seite eine andere Rechtsauffassung hat [...].“
Mit der Erklärung entstand seinerzeit der Deutsch-tschechische Zukunftsfonds.
Deutschland stellte dafür 140 Millionen Mark und die Tschechische Republik 440
Millionen Kronen zur Verfügung. Der Fonds unterstützt bis heute Projekte gemeinsamer Interessen. Zur Verstärkung des deutsch-tschechischen Dialogs wurde ein bilaterales Gesprächsforum unter der Schirmherrschaft beider Regierungen und unter „Beteiligung aller an einer engen und guten deutsch-tschechischen Partnerschaft interessierten Kreise“ gegründet.
9.4 Erklärung als Lösung der Probleme?
Auch wenn beide Seiten der gegenseitigen Erklärung größte Bedeutung zubilligten,
waren die Irritationen nicht beendet. Schlüsselelemente wie die kausalen Zusammenhänge zwischen Krieg und Vertreibung sowie unterschiedliche Rechtspositionen u.a.
in der Vermögensfrage werden bis heute unterschiedlich interpretiert. Die deutsche
Seite lehnt es weiterhin ab, den Erklärungstext als Schlussstrich wahrzunehmen. Sie
hält sie für ein Ende der von Willi Brandt begonnenen entgegenkommenden deutschen
Ostpolitik und für den Anfang der neuen Phase der gegenseitigen Beziehungen. Bundeskanzler Helmut Kohl zum Beispiel erwartete bereits kurz nach der Unterzeichnung,
dass es nun beiden Seiten gelingen werde, die Vergangenheitsfragen, insbesondere die
Regelung der Vermögensfragen der Sudetendeutschen, offen und ohne gegenseitige
Schuldzuweisungen zu diskutieren.368
Die Erklärung hatte in den außenpolitischen Beziehungen Deutschlands zu Tschechien unter der von der CDU/CSU geleiteten Regierung einen anderen Stellenwert als
zur Zeit der späteren rotgrünen Koalition. Die CDU/CSU sah sie als einen Weg zur
Anerkennung des Rechts auf Heimat. Beide Parteien versuchten vor allem in der Phase der Verhandlungen über den Beitritt der Tschechischen Republik zur Europäischen
Union, die Sudetendeutschen in das bilaterale Gesprächsforum zu integrieren. Dies
war von Anfang an für die tschechische Diplomatie unakzeptabel. Sie verwies darauf,
dass die Landsmannschaft dem Text der Deutsch-tschechischen Erklärung (wie früher
auch dem bilateralen Vertrag von 1992) nicht zustimme und dass für die Prager Regierung nur die Bundesregierung als Verhandlungspartner in Frage käme.
Mit dem Regierungswechsel in Deutschland und Tschechien von 1998 sollten sich
die gegenseitigen Beziehungen ganz deutlich verbessern und es überwog die europäische Dimension des gegenseitigen Verhältnisses.369 Diese Atmosphäre dauerte bis
2004 an, als bei Diskussionen über die Verfassung der Europäischen Union die Haltung beider Länder in der Frage des Ein? usses der großen und kleinen Staaten innerhalb der EU auseinander zu gehen begann. Das Zusammenwirken beider Regierungen
368 Vladimír Handl (Fn. 351), S. 14ff.
369 Vgl. Die Welt vom 30. Dezember 1998.
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hatte insbesondere die führende Rolle der sozialdemokratischen Parteien in beiden
Ländern ermöglicht. Die ähnliche Weltanschauung und gute Kontakte der Vorsitzenden führten zu entgegenkommenden Gesten bei Vergangenheitsfragen. Ohne die politische Annäherung wäre wahrscheinlich die Deutsch-tschechische Erklärung kein bedeutender Baustein in den Beziehungen geworden. Sowohl die Außenpolitik unter
Gerhard Schröder wie auch die seiner vier tschechischen Kollegen (Miloš Zeman,
Vladimír Špidla, Stanislav Gross und Jií Paroubek) bemühte sich gerade um die Akzentuierung jenes Punktes der Erklärung, wonach auf der politischen Ebene die Vergangenheitsfragen für abgeschlossen gelten. Beide Seiten zeigten in diesem Zeitraum
eine Distanz zu den Zielen der Sudetendeutschen Landsmannschaft. Diese neue Konstellation in der deutschen Politik vermochte die tschechische Seite jedoch nicht genügend zu re? ektieren. Vergangenheitsfragen und die Betonung der Verteidigung der
„nationalen Interessen“ fanden erneut ihre Instrumentalisierung im Wahlkampf von
2002.
Zum ersten Mal konnten ihren freundschaftlichen Kurs gegenseitiger Kontakte die
Repräsentanten beider Länder beim Besuch des tschechischen Ministerpräsidenten
Zeman in Berlin im März 1999 demonstrieren. Zeman bezeichnete dort die Dekrete
des Staatspräsidenten Beneš als erloschen („extinct“).370 Schröder sagte in einem Interview gegenüber der tschechischen Tageszeitung MF Dnes, dass „die Forderungen
der Vertriebenen keinen Ein? uss auf die Außenpolitik haben. Die Bundesregierung
will keine Eigentumsforderungen gegenüber der Tschechischen Republik erheben.“371
Eine solche Erklärung hatte bisher keine einzige Bundesregierung gewagt. Die vorherige Koalition der CDU/CSU und der FDP hielt sich in dieser Frage nämlich zurück.
Ihre Außenpolitik unterstützte vielmehr die Forderungen der Vertriebenen.
Auf diesen neuen Kurs in den deutsch-tschechischen Beziehungen reagierte die
Sudetendeutsche Landsmannschaft mit Empörung. Im Juli 1999 führte der Bundesvorstand einen Grundsatzbeschluss über „Sammelklagen“ in den USA gegen tschechische Versicherungsanstalten herbei, um diese zur Entschädigung von deutschen
Vertriebenen zu veranlassen. Wie die SL hervorhob, handelte es sich dabei um eine
privatrechtliche Angelegenheit, um eine Auseinandersetzung zwischen der Vertriebenenorganisation und der Tschechischen Republik.372 90 Sudetendeutsche handelten
hierauf bezüglich der Entschädigung auf eigene Faust, sie erhoben eine Klage wegen
Eigentumsenteignung. Der EU-Gerichtshof lehnte sie freilich ab mit dem Argument,
dass die Kläger nicht alle rechtlichen Möglichkeiten in der Tschechischen Republik
ausgeschöpft hätten.
Eine gewisse Entschärfung der gespannten Situation bedeutete die Proklamation
des Bundesvorsitzenden der Sudetendeutschen Landsmannschaft Bernd Posselt. Er
betrachtete die Sudetendeutschen und Tschechen als „zwei Teile einer Kultur Böhmens, Mährens und Schlesiens“ und verzichtete ausdrücklich auf Eigentum, das seiner
370 Vgl. Die Welt vom 9. März 1999.
371 Vgl. MF Dnes vom 10. März 1999.
372 Vgl. Die Welt vom 7. Juli 1999.
143
Familie beschlagnahmt worden war.373 Die innenpolitische Instrumentalisierung der
Sudetenfrage in Deutschland (politische Unterstützung der Sudetendeutschen seitens
der CSU) und in Tschechien (Instrumentalisierung der Sudetenfrage insbesondere seitens der Kommunisten) konnten freilich keine weiteren Schritte zur Annäherung ermöglichen. Beide Seiten realisierten eine „Politik der Garantien“ und versicherten sich
gegenseitig ihre Bereitschaft entsprechend Punkt IV. der Deutsch-tschechischen Erklärung, dass sie die Beziehungen nicht mit Vergangenheitsfragen belasten wollen.
Ein neuer Impuls in den Diskursen über die Sudetenfrage kam erst aus Österreich
von Jörg Haider, dem Vorsitzenden der rechtsradikalen FPÖ, die 1999 Mitglied der
regierenden Koalition geworden war. Haider stellte sich hinter die „Altösterreicher“,
wie die Vertriebenen in seinem Land bezeichnet wurden und werden und versprach,
den Beitritt der Tschechischen Republik zur Europäischen Union zu blockieren, wenn
Prag weiterhin auf der Gültigkeit der sog. Beneš-Dekrete beharren werde.374 Im Jahre
2002 rief daher zur Distanzierung von den Dekreten auch Bundeskanzler Wolfgang
Schüssel auf.
Der Wahlkampf in Tschechien sollte daher die Diskussion um die Sudetenfrage und
die Präsidialdekrete wieder intensivieren. Alle Parteien unterstrichen deren Unantastbarkeit und überboten sich bei der populistischen Deklaration der „Verteidigung der
nationalen Interessen“. Das tschechische Abgeordnetenhaus verabschiedete im April
2002 einstimmig eine eigene Erklärung, in der es auf die historische Situation nach
dem Krieg verwies, die Dekrete als erloschen erklärte und die sich aus ihnen ergebenden Rechts- und Eigentumsverhältnisse als „unantastbar und unveränderlich“ quali? zierte. Noch im Februar 2002 sorgte allerdings eine Äußerung des tschechischen Premier Miloš Zeman in der österreichischen Wochenzeitung Pro? l für erheblichen internationalen Wirbel.375 Zeman hatte die Sudetendeutschen als fünfte Kolonne Hitlers
bezeichnet, die die Tschechoslowakei als „einzige Insel der Demokratie in Mitteleuropa“ zu zerstören trachtete. Weiter beschuldigte er sie, dass „viele von ihnen nach
tschechischem Recht Landesverrat begangen haben, ein Verbrechen, das nach dem
damaligen Recht durch die Todesstrafe geahndet wurde“. Demnach sei die Vertreibung eine mildere Strafe für diese Untaten gewesen.
In Deutschland wie in Tschechien wurde daraufhin debattiert, ob die verbale Deutlichkeit dieser Aussage angemessen war. Bundeskanzler Gerhard Schröder sagte sogar
seinen für März 2002 geplanten Besuch Prags ab und forderte Zeman zur Distanzierung von diesen Worten auf.376 Die Haltung des Bundeskanzlers unterstützte die CDU/
CSU. Die Europaabgeordneten dieser Parteien riefen Tschechien auf, seine Geschichte aufzuarbeiten und noch vor dem EU-Beitritt von sich aus zu überprüfen, welche
Gesetze und Vorschriften mit denen der Europäischen Union unvereinbar seien. Das
Thema Vertreibung erfuhr damit erstmals seit der politischen Wende eine breitere öf-
373 Vgl. MF Dnes vom 20. Dezember 2000.
374 Vgl. Die Welt vom 13. April 1999.
375 Vgl. Pro? l 21. Januar 2002. - Vgl. Die Tageszeitung vom 30. Januer 2002, S. 8.
376 Vgl. MF Dnes vom 28. März 2002. – Süddeutsche Zeitung vom 28. März 2002.
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fentliche Beachtung.377 Scharfe Kritik ernteten Zemans Formulierungen auch vom
ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán. Er rief Prag zur Aufhebung der Dekrete auf, denn auf ihrer Grundlage waren auch Ungarn aus der Slowakei ausgesiedelt
worden.378 Das hatte nun wiederum stürmische Reaktionen der Slowaken zur Folge.
Mit Zemans Aussage über die Sudetendeutschen ergab sich außerdem ein Anlass für
die Vertriebenenverbände in Deutschland und Österreich, die tschechische Position
anzugreifen und zu versuchen, mit der erwünschten Abschaffung der Präsidialdekrete
auch die missliebige tschechische Verbindung der Ursachen mit dem Kontext von
Flucht und Vertreibung der Deutschen aus dem europäischen Gedächtnis zu streichen.
Streitpunkt bei den Beitrittsverhandlungen zwischen der Europäischen Union und
der Tschechischen Republik wurde die bereits im Jahre 1991 verabschiedete Grenze
für Restitutionen. Diese können bekanntlich nur dann realisiert werden, wenn das Eigentum nachweislich nach dem 25. Februar 1948 beschlagnahmt wurde. Zu dieser
Zeit waren freilich alle Deutschen bereits enteignet worden. Den von EU-Kommissar
Günter Verheugen geäußerten Vorschlag, das Gesetz über die Eigentumsrückgabe zu
korrigieren, falls es im Widerspruch zu geltendem EU-Recht stünde, lehnten tschechische Politiker fast einstimmig ab.379
Der Streit um die sog. Beneš-Dekrete als rechtliche Grundlage für die Vertreibung
und Enteignung von Deutschen und Ungarn nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges
aus der damaligen Tschechoslowakei eskalierte sogar soweit, dass die Dekrete nicht
nur die Verhältnisse zwischen Tschechien, Deutschland und Österreich nachhaltig zu
belasten drohten, sondern dass dadurch auch der tschechische EU-Beitritt in Frage
gestellt werden konnte. Zum ersten Mal wurde er bei der Herausgabe des „Regelmä-
ßigen Berichts über die Fortschritte der Tschechischen Republik auf dem Weg zum
Beitritt“ vom 15. April 1999 angezweifelt. In einer Entschließung dieser von der EU-
Kommission verfassten Unterlage forderte das Europäische Parlament die tschechische Regierung im Geiste einer gleichlautenden versöhnlichen Erklärung von Staatspräsident Havel auf, fortbestehende Gesetze und Dekrete aus den Jahren 1945 und
1946 aufzuheben, soweit sie sich auf die Vertreibung von einzelnen Volksgruppen aus
der ehemaligen Tschechoslowakei beziehen. Einem Beschluss des Auswärtigen Ausschusses des Europäischen Parlaments vom 22. Mai 2002 zufolge sollten sie aufgehoben werden, wenn sie europäischem Recht widersprechen und „diskriminierende Formulierungen“ enthalten. Nun wurden gleich mehrere Rechtsgutachten über die Präsidialdekrete angefertigt. Der Außenpolitische Ausschuss des Europäischen Parlaments
und auch das tschechische Außenministerium hatten ähnliche Schritte eingeleitet.
Mitte Mai 2002 beauftragten das Präsidium des Europäischen Parlaments und die
Europäische Kommission den Völkerrechtler Jochen Frowein mit einer Untersuchung,
inwieweit die sog. Beneš-Dekrete tatsächlich „erloschen“ seien, welchen völkerrechtlichen Stellenwert sie haben und ob man sie mit den geltenden EU-Rechtsnormen ver-
377 Vgl. Die Welt vom 28. Februar 2002.
378 Vgl. Die Welt vom 26. Februar 2002.
379 Lukáš Novotný (Fn. 22), S. 396.
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einbaren könne. Dem im Oktober 2002 vorgelegten Gutachten zufolge erwies sich,
dass die Dekrete kein juristisches Hindernis für den Beitritt darstellen und daher auch
nicht widerrufen werden müssten.380 Das Gutachten verlangte von Prag keinerlei
rechtlichen Schritte, sondern forderte lediglich zum öffentlichen Bedauern spezi? scher Konsequenzen einzelner Gesetze auf. Frowein argumentierte damit, dass im
Falle einer Aufhebung diese rückwirkend eine Maßnahme delegitimieren würde, die
1945 durchaus im zeitlichen und politischen Kontext verständlich war. Überdies habe
sogar die Bundesrepublik Deutschland, die auf Grund der Integration der meisten
Flüchtlinge am stärksten von der Vertreibung betroffen war, in der Deutsch-Tschechischen Erklärung 1997 nicht auf einer Aufhebung bestanden.
Eine Antwort auf Froweins Expertise war das Gutachten von Dieter Blumenwitz im
Auftrag der Sudetendeutschen Landsmannschaft. Ihm zufolge verstoße das fortgeltende Straffreistellungsgesetz gegen die Menschenrechte.381 Dieser Befund entsprach den
Zielen der Auftraggeber. Die noch geltenden Beneš-Dekrete wurden dort als Hindernis
für die Aufnahme der Tschechischen Republik in die Europäische Union dargestellt.
Der Europa- und Völkerrechtler Rudolf Dolzer von der Universität Bonn kam in seiner
Stellungnahme – erstellt im Auftrag der Bayerischen Staatskanzlei - zu dem Schluss,
dass die kollektive Vertreibung der Sudetendeutschen ein eindeutiger Verstoß gegen
das Völkerrecht sei, für den die tschechische Regierung heute die Verantwortung übernehmen müsse. Dolzer quali? zierte die Beneš-Dekrete als „völkerrechtliche Teilakte
der illegalen Vertreibung und damit rechtswidrig“.382 Zur Wahrung der deutschen Position hielt es der Bonner Professor für erforderlich, dass die Bundesregierung „im
Rahmen des Beitrittsprozesses“ von Prag forderte, die Vertreibung als Unrecht anzuerkennen.383 Auch der Juristische Dienst des Europäischen Parlaments ließ sich eine
Studie zu den Rechtswirkungen der Beneš-Dekrete ausarbeiten mit dem Ergebnis: Das
Straffreistellungsgesetz vom 8. Mai 1946 werde nicht mehr angewendet und könne
daher nicht im Licht der heutigen Menschenrechtsstandards beurteilt werden. Das Enteignungsdekret sowie das Staatsbürgerschaftsdekret würden seit geraumer Zeit keine
rechtliche Wirkung mehr entfalten.
Eine Rechtsanalyse im Auftrag der tschechischen Regierung von 2002 hatte bereits
erwiesen, dass die Beneš-Dekrete keine diskriminierenden Regelungen enthielten, die
heute noch Gültigkeit besäßen. Sie sind ein Teil der tschechischen Rechtsordnung gewesen sowie geworden und können daher nicht aufgehoben werden. Sie entfalten je-
380 Untersucht wurden die Dekrete 5/1945, 12/1945, 16/1945, 108/1945. Die Kommission kam zu
dem Schluss, dass die Gültigkeit dieser Dekrete nach ihrer einmaligen Anwendung nicht mehr
besteht. Das sog. „Amnestiegesetz“ hätte der Europäischen Kommission zufolge seinerzeit nicht
zur Rechtfertigung der Gewalt beschlossen werden sollen. Nun würde es kein Hindernis in der
Untersuchung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen. Trotz dieser Feststellung
forderten viele Europapolitiker informell die tschechische Politik zu einer Geste des Bedauerns
auf. Vgl. Die Welt vom 10. Oktober 2002. – Die Welt vom 11. Oktober 2002.
381 Vgl. Die Welt vom 22. Oktober 2002. – Die Welt vom 15. April 2003. – Die Welt vom 17. Mai
2005.
382 Vgl. Die Welt vom 11. Oktober 2002.
383 Vgl. Die Welt vom 11. Oktober 2002.
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doch keine rechtliche Wirkung mehr, weshalb eine Überprüfung der Kompatibilität
mit dem Acquis Communitaire als unnötig sei. Die Beitrittsverhandlungen mit Tschechien sind schließlich am 13. Dezember 2003 erfolgreich abgeschlossen worden. Am
16. April 2003 wurde der Beitrittsvertrag unterzeichnet. Darin ? ndet sich keine Erwähnung der Beneš-Dekrete.384 Nach der Rati? zierung dieses Vertrags trat die Tschechische Republik am 1. Mai 2004 der Europäischen Union bei.
Der Deutsch-Tschechische Zukunftsfonds als Partnerorganisation der deutschen
Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ hatte inzwischen im Juli 2000 zum
Zwecke der Entschädigung von tschechischen Opfern des Nationalsozialismus das
Büro für NS-Opfer eingerichtet. Über diese Stelle wurden zwischen 2000 und 2005
regelmäßig Auszahlungen geleistet.385 Die Gesamtsumme beläuft sich auf 209 Millionen Euro. Die Beträge koordinierten der Zukunftsfonds und die deutsche Stiftung
„Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“. Es wurden mehr als 100.000 Anträge gestellt,
rund 70 Prozent sind bewilligt worden. Eine Entschädigung erhielten auch tschechische Opfer der Zwangs- und Sklavenarbeit in Österreich. Österreich stellte dazu über
einen „Versöhnungsfonds“ für 11.000 Tschechen, von den heute nur noch 5.600 leben,
je nach Kategorie zwischen 1500 und 7500 Euro pro Person zur Verfügung.386 Insgesamt zahlte Wien an die ehemaligen Zwangsarbeiter aus insgesamt 60 Ländern 32
Millionen Euro aus. Mit einer ? nanziellen Unterstützung wurden auch die tschechischen Holocaust-Opfer bedacht. Für sie stellte die Regierung 100 Millionen Kronen
(3,5 Millionen Euro) zur Verfügung. Ein Teil des Geldes ging an die Renovierung jüdischer Denkmäler, an die Herausgabe verschiedener historischer Publikationen und
an Sozial- und Bildungsprojekte. Insgesamt wurden über 500 Antragsteller ? nanziell
entschädigt.
9.5 Wiedergeburt der deutschen Minderheit nach der Wende
1989 gilt auch für Identität der deutschen Minderheit und für ihre kulturellen Aktivitäten als bedeutendes Umbruchsjahr. Die Ausgangsposition nach der politischen Wende
war freilich nicht leicht. Auch tschechische Quellen zeigen, dass die Deutschen keine
innere Konsolidierung und Integrierung fanden.387 Vertreter der deutschen Minderheit,
meist ausgeschlossene Gründungsmitglieder des seit den 70er Jahren von den Kommunisten geführten Kulturverbands, bildeten im Rahmen der Nationalitätenkommission
eine deutsche Sektion beim Ob?anské fórum [Bürgerforum]. Sie initiierten Gespräche
384 Die unmittelbaren Verhandlungen zwischen Tschechien und der Europäischen Union beschreibt
Heiner Timmermann: Das Europäische Parlament, die Europäische Kommission, der Beitrittsvertrag der Tschechischen Republik zur EU und die Benes-Dekrete, in: ders./Emil Vorá?ek/Rüdiger Kipke (Hrsg.): Die Beneš-Dekrete. Nachkriegsordnung oder ethnische Säuberung: Kann
Europa eine Antwort geben? Münster 2005, S. 542-565, hier 546.
385 Vgl. Die Welt vom 2. Juni 2005.
386 Vgl. Die Welt vom 18. Mai 2000.
387 Vgl. Národnosti v ?eské republice. Základní informace [Nationalitäten in der Tschechischen
Republik. Grundinformationen]. Prag 1993, S. 19.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
In den deutsch-tschechischen Beziehungen spielt die Geschichte eine wichtige Rolle. Sie wird zum einen als Argument für die Gestaltung der gemeinsamen Zukunft benutzt, zum anderen aber auch als Waffe, um die andere Seite möglichst negativ darzustellen.
Die Arbeit untersucht an Hand eines qualitativen Datenmaterials die Funktion der Vergangenheitsdiskurse in der deutsch-tschechischen Nachbarschaft.