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Brief an Václav Havel, in dem er ihn zu einseitigen Schritten in der Frage der Entschädigung aufforderte. Diese Rhetorik wenige Monate nach dem politischen Umbruch im
Ostblock begrenzte auf tschechischer Seite den ohnehin eingeschränkten Verhandlungsspielraum und war die Ursache für die nahezu eindeutig negative Einstellung der
tschechischen Gesellschaft gegenüber den Sudetendeutschen. Statt einer Annäherung
begann das Auseinandergehen beider Positionen.
9.2 Der Nachbarschaftsvertrag
Abgesehen vom Sudetenproblem begann jedoch eine rasche Entwicklung der Beziehungen zwischen beiden Ländern. Eines der bedeutendsten Ereignisse im Prozess der
deutsch-tschechischen Annäherung war der Besuch von Bundespräsident Richard von
Weizsäcker am 15. März 1990 in Prag. Die politischen Proklamationen der Präsidenten orientierten sich an der Überwindung der historischen Spannungen zwischen beiden Nationen. Ein weiteres versöhnliches Ereignis war der Freundschaftslauf von
Košice in die Partnerstadt Wuppertal in Gegenwart beider Außenminister.
Bei einem Arbeitsbesuch des bundesdeutschen Außenministers Genscher in der
tschechoslowakischen Hauptstadt am 2. November 1990 erzielte man Einigkeit darüber, dass es in den gegenseitigen Beziehungen keine prinzipiellen Probleme gebe und
beide Länder Interesse an einer weiteren Entwicklung dieser Kontakte haben. Prag
verzichtete sogar im Unterschied zu Polen auf die Teilnahme an „2+4“-Gesprächen
zwischen den beiden deutschen Staaten und den vier Siegermächten des Zweiten Weltkriegs, bei der es um die äußeren Aspekte der deutschen Wiedervereinigung ging.347
Die Regierung wollte somit die Verhandlungen erleichtern und die bilateralen Beziehungen auf keinen Fall belasten. Diese Entscheidung fand später viele Kritiker, vor
allem nachdem die Sudetendeutsche Landsmannschaft ihre Forderungen dargelegt
hatte. Die Bundesrepublik wiederum übernahm mit dem Vertrag vom 12. September
1990 gegenüber den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs eine völkerrechtliche Verp? ichtung, die bezüglich der Territorialfrage absolute Klarheit schafft.
Bei ersten Staatsbesuchen in Bonn und Prag wurde schließlich die Grundlage für
die Ausarbeitung eines bilateralen Abkommens gelegt. Bundeskanzler Helmut Kohl
sagte bei seinem Treffen mit Vertretern des Bundes der Vertriebenen regelmäßige
Konsultationen mit ihnen zu. In der tschechischen Öffentlichkeit waren daher 42 Prozent der Bürger der Auffassung, dass ein solcher Vertrag mit Deutschland das Eigentum und die Sicherheit in den ehemaligen Sudetengebieten bedrohen könnte. Auf die
Frage, ob er im Land zu einer beschleunigten wirtschaftlichen Entwicklung verhelfen
würde, antworteten 48 Prozent der Tschechen freilich positiv.348 Am 27. Februar 1992
kam es dann zur Unterzeichnung des Vertrags zwischen der Bundesrepublik Deutsch-
347 Vgl. Jindich Dejmek: ?eskoslovensko, jeho sousedé a velmoci ve XX. století (1918 až 1992)
[Die Tschechoslowakei, ihre Nachbarn und die Weltmächte im XX. Jahrhundert (1918-1992].
Prag 2002, S. 85.
348 Vgl. Rudé právo vom 27. März 1992.
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land und der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik über gute Nachbarschaft und Freundschaftliche Zusammenarbeit. Dieses Werk konnte jedoch den
Hoffnungen auf eine neue Qualität der Beziehungen nicht gerecht werden. Die Kontroversen um die Vergangenheit wurden ausgeklammert, in der Frage der Ungültigkeit
des Münchener Abkommens wiederholte das Dokument die Formulierung des Prager
Vertragswerkes von 1973. Die Abmachungen bestätigten die bestehende Staatsgrenze
und schlossen Gewalt als Mittel zur Kon? iktlösung aus. Zum ersten Mal seit 1945 erschien in diesem Vertragstext auch die Proklamation einer Unterstützung der kulturellen Tätigkeit der deutschen Minderheit.349 Noch im Jahre 1992 versicherten die Großmächte auf Nachfrage der tschechoslowakischen Regierung die Gültigkeit des Potsdamer Abkommens.
Obwohl die Politiker beiderseits das gegenseitige Verhältnis als komplikationslos
betrachteten, blieb es doch weiterhin den historischen Belastungen der 1930er und
1940er Jahre ausgesetzt. Jetzt meldeten auch tschechische Opfer des Nationalsozialismus ihre Ansprüche an. Auf deutscher Seite betonte die Sudetendeutsche Landsmannschaft weiterhin ihre Anliegen und machte die eigene Bereitschaft zur Versöhnung von
der entgegenkommenden Haltung der tschechischen Seite bei der Erfüllung ihrer Forderungen abhängig. Ihr Sprecher Franz Neubauer stellte sich gegen den Nachbarschaftsvertrag, denn er vermisste dort den Anspruch auf das „Heimatrecht“ sowie die
Regelung der Eigentumsfrage.350
Auf Initiative beider Präsidenten hin war deshalb bereits im Jahre 1990 eine
Deutsch-Tschechoslowakische (später Deutsch-Tschechische und Deutsch-Slowakische) Historikerkommission eingesetzt worden, die sich seither der Fachdiskussion
über weiße Flecken und wunde Punkte in der gemeinsamen Geschichte widmet.351
Dazu fand 1991 zum ersten Mal das Iglauer Symposium statt, bei dem Tschechen und
(Sudeten-)Deutsche ihre Meinungen austauschten. Diese Konferenzen ? nden seitdem
jedes Jahr statt und stellen eine bedeutende Plattform des inof? ziellen Dialogs dar.
Insbesondere vor der Entstehung des Deutsch-tschechischen Gesprächsforums im Jahre 1997 boten sie die Möglichkeit für Diskussionen aktueller Fragen in den deutschtschechischen Beziehungen.
Ein Dorn im Auge blieben den Repräsentanten der Sudetendeutschen freilich die
Präsidialdekrete von Edvard Beneš. Die Landsmannschaft, die sich vom politischen
Umbruch im Nachbarland die Erfüllung ihrer Forderungen versprochen hatte, plante
sogar, zwischen der Zustimmung zur EU-Mitgliedschaft und der tschechischen Distanzierung von den Dekreten ein Junktim zu konstruieren. Dabei gelten die meisten
349 Vgl. Lukáš Novotný: Die deutsche Minderheit in der Tschechischen Republik am Anfang des
neuen Jahrtausends, in: Heiner Timmermann/Emil Vorá?ek/Rüdiger Kipke (Hrsg.): Die Beneš-
Dekrete. Nachkriegsordnung oder ethnische Säuberung: Kann Europa eine Antwort geben?
Münster 2005, S. 443–453, hier 447.
350 Vladimír Handl: Die tschechisch-deutsche Erklärung von 1997. Politisches Ende eines schwierigen historischen Kapitels? In: Frank König (Hrsg.): Im Schatten der Vergangenheit. Deutsche
und Tschechen – Aussöhnung mit Hindernissen. Potsdam 1999, S. 11-23, hier 17ff.
351 Vgl. Hans Lemberg: Die Arbeit der Deutsch-tschechischen Historikerkommission, in: Eichholz
Brief 4 (1998), S. 91-94.
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Dekrete sowieso nicht mehr, sie wurden entweder ausdrücklich aufgehoben oder in
ihrer Wirkung durch den Erlass anderer Gesetze erheblich verändert. Allerdings sind
sie Grundlage der tschechischen Rechtsordnung geworden. Eine Aufhebung ex tunc
(also vom Beginn an) würde nach tschechischer Auffassung jegliche rechtliche und
staatliche Kontinuität in Frage stellen.
Mit der Gültigkeit der sog. Beneš-Dekrete befasste sich im Jahre 1995 auch das
Verfassungsgericht, als der tschechische Bürger deutscher Nationalität aus Liberec/
Reichenberg, Rudolf Dreithaler, auf Restitution seines 1945 beschlagnahmten Eigentums klagte. Damit versuchte er, die eigentliche rechtliche Grundlage für die Enteignung seines Elternhauses, das Dekret Nr. 108, zu Fall zu bringen. Das tschechische
Verfassungsgericht bestand jedoch auf der weiteren Gültigkeit des Dekrets. Da das
Elternhaus des Klägers zudem erst 1949 enteignet wurde, also nach der tschechischen
Restitutionsgrenze vom 28. Februar 1948, hätte er eigentlich wie jeder seiner tschechischen Mitbürger erfolgreich Antrag auf Rückübertragung stellen können. Ihm gelang das aber nicht, weil die damalige Enteignung mit dem Dekret verbunden worden
war.352
Die Ansprüche der Sudetendeutschen Landsmannschaft hat die tschechische Politik
immer wieder zurückgewiesen. Andererseits beschuldigten die extrem-nationalistischen Parteien Václav Havel, für das Hochspielen der sudetendeutschen Frage verantwortlich zu sein. Außerdem hatte die Teilung des Staates die Position der Landsmannschaft noch verstärkt. Der Zerfall der Föderation wurde als Endphase der tschechischen historischen Expansion betrachtet. Die SL erwartete die Schwächung der
Stellung des Nachfolgerlandes, der Tschechischen Republik, und versprach sich bessere Chancen bei der Erreichung ihrer Ziele.
Paradoxerweise kam es nach der Unterzeichnung des Freundschaftsvertrags sogar
zu einer Verschlechterung der gegenseitigen staatlichen Beziehungen. Die regierende
CSU übte Druck auf seinen Koalitionspartner aus und setzte sich noch intensiver für
die Forderungen der Sudetendeutschen ein. Die verstärkte Unterstützung ihrer Belange verkomplizierte die Stimmungslage in Tschechien. Selbst Präsident Havel, der die
Diskussion über die Vertreibung ausgelöst hatte, fühlte sich genötigt, zum Thema Stellung zu beziehen. Wie er in seinen Memoiren ausführt, herrschten in der tschechischen
Öffentlichkeit Unsicherheit und Angst vor der eventuellen Erfüllung der Forderungen
der Vertriebenen.353 In seiner Ansprache an der Karlsuniversität vom 17. Februar 1995
anlässlich des Staatsbesuches von Richard von Weizsäcker wandte er sich kritisch
nicht nur an die tschechische, sondern auch an die sudetendeutsche Seite.354
Für die Aufnahme eines Dialogs zwischen der tschechischen Regierung und den
politischen Vertretern der Sudetendeutschen plädierte freilich im Aufruf Versöhnung
1995 eine Handvoll deutscher wie tschechischer Intellektueller. Dieser Dialog sollte
352 Vgl. Berliner Zeitung vom 23. Juni 1995.
353 Vgl. Václav Havel: Prosím stru?n? [Bitte kurzfassen]. Prag 2006, S. 101.
354 Vgl. Václav Havel: ?eši a N?mci na cest? k dobrému sousedství. Rozhovory o sousedství
[Tschechen und Deutsche auf dem Weg zu einer guten Nachbarschaft. Gespräche über die Nachbarschaft]. Prag 1997, S. 36. – Vgl. Prager Zeitung vom 5. Oktober 2006, S. 1.
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die Lösung des Kon? ikts in den gegenseitigen Beziehungen herbeiführen und damit
einen Schlussstrich im Vergangenheitsdiskurs zwischen beiden Völkern ziehen. Die
Initiatoren empfahlen die Aufarbeitung der Geschichte auf Grund entgegenkommender Gesten wie der Einrichtung eines sudetendeutsch-tschechischen Fonds, der gemeinsamen Diskussionen und der Rückkehrmöglichkeit für Ausgewiesene dienen
sollte, die dies wünschten.355
9.3 Der lange Weg zu einer gemeinsamen Erklärung
Als Lösung der offenen Vergangenheitsfragen schlug die tschechische Diplomatie die
Abfassung einer gemeinsamen Erklärung vor. Beide Seiten hatten jedoch unterschiedliche Ansichten darüber, was die Intention dieses Dokuments sein sollte. Für die Bundesrepublik war es offenbar wichtig, neben der Verbesserung der gegenseitigen Beziehungen einen Erfolg in der Sudetenfrage zu erzielen. Wahrscheinlich ging es nicht
einmal um die volle Durchsetzung der Forderungen der Sudetendeutschen. Vielmehr
wollte die Bundesregierung mit kleinen und pragmatischen Schritten das „Heimatrecht“ der Vertriebenen anerkennen lassen. Nicht zuletzt sollte die Erklärung ein Signal für den Rest der Welt sein, dass Deutschlands neue Bedeutung in Mitteleuropa in
keiner Weise einer imperialen Rolle gleicht. Tschechien dagegen beharrte weiterhin
auf einem Schlussstrich unter der Vergangenheit.356 Es wollte den Staat und seine Bürger vor Forderungen schützen und wegen einer Entschädigung für die tschechischen
NS-Opfer verhandeln. Dabei war es für Prag nicht einfach, die eigenen Missetaten
während der Vertreibung anzuerkennen. Auf praktischer Ebene erwartete die tschechische Diplomatie von der Unterzeichnung einer Deklaration die Unterstützung eines
schnellen Beitritts der Tschechischen Republik zur NATO und zur Europäischen
Union.
Die Verhandlungen über den Text der Erklärung verliefen ausschließlich auf der
Regierungsebene. Sie waren streng vertraulich und schwieriger als erwartet. Im Dezember 1995 schienen die meisten Fragen schon gelöst zu sein. Die beiden Außenminister gaben während des EU-Gipfeltreffens von 1995 bekannt, der gemeinsame Text
werde im Frühjahr 1996 unterzeichnungsreif sein. Das Treffen der Chefs der Diplomatien am 12. Januar in Bonn endete jedoch nicht mit der zu erwarteten Beendigung
der Gespräche, sondern mit dem Auseinandergehen beider Positionen.357 Auf einer
Pressekonferenz in Prag kritisierte der verärgerte Außenminister Zieleniec seinen Kollegen Kinkel dafür, dass er den vereinbarten Text der Erklärung plötzlich ändern wollte. Kinkel begegnete der Kritik in einem Pressegespräch mit der FAZ, indem er die
Position der tschechischen Seite während der Verhandlungen als wenig ? exibel bezeichnete.358 Er formulierte seine Unterstützung für die Forderungen der Sudetendeut-
355 Vgl. MF Dnes vom 13. April 1995.
356 Vgl. Die Welt vom 25. Januar 1996.
357 Vgl. Die Welt vom 25. Januar 1996.
358 Vgl. FAZ vom 18. Januar 1996.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
In den deutsch-tschechischen Beziehungen spielt die Geschichte eine wichtige Rolle. Sie wird zum einen als Argument für die Gestaltung der gemeinsamen Zukunft benutzt, zum anderen aber auch als Waffe, um die andere Seite möglichst negativ darzustellen.
Die Arbeit untersucht an Hand eines qualitativen Datenmaterials die Funktion der Vergangenheitsdiskurse in der deutsch-tschechischen Nachbarschaft.