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kannte Zukunft schickt“.295 Das Streben dieser an der Tätigkeit der Sudetendeutschen
Landsmannschaft oder des Bundes der Vertriebenen aktiv beteiligten Erlebnisgeneration bestimmt bis heute den politischen Willen, eine Wiedergutmachung des Unrechts
der Vertreibung zu erreichen. In der Gefühlswelt der Betroffenen stellt das „Heimatgefühl“ ein bedeutendes Element ihrer Identität dar.
Die große Gruppe bilden jene Vertriebenen, die noch eine vage Erinnerung an die
Heimat haben oder unmittelbar nach der Vertreibung (zwischen 1945 und 1955) geboren wurden. Für sie war nicht die Vertreibung das prägende Erlebnis ihrer Jugend,
sondern das Sichzurecht? nden in Deutschland, wo man „etwas anderes ist, aus unerklärlichen Gründen nicht dazugehört, in gewissem Sinne auf Grund dieses Andersseins auch diskriminiert wird und selbst alles tun muss, um möglichst nicht
aufzufallen“.296 Sie hätten daher oft ihre Herkunft und Geschichte verdrängt und seien
auf Distanz zu Organisationen gegangen, welche den Erinnerungen verhaftet waren
und weiter sind, heißt es von diesen Sudetendeutschen.
Die Enkelgeneration der Vertriebenen wiederum ist gekennzeichnet von der Wissenshaltung bezüglich der Herkunft ihrer Großeltern. Sie kann unbelastet fragen, weil
sie nicht mehr den Identitätsproblemen der Elterngeneration ausgesetzt ist. Die Enkel
sind somit eindeutige Bayern, Schwaben, Rheinländer geworden.297
Als Beispiel einer positiven Integration der Sudetendeutschen in die bundesdeutsche Gesellschaft gilt die Gründung von Neugablonz (heute Ortsteils von Kaufbeuren). Die abgeschobenen Deutschen aus der Gablonzer Gegend zeigten sich dabei
auch in Deutschland der unmittelbaren Nachkriegszeit als kunstfertige Schmuckhersteller, denn sie stellten aus Abfällen entsprechende Gegenstände her. Gegen den Willen der Amerikaner, die die Vertriebenen über ganz Deutschland verteilen wollten,
gründeten sie in Südbayern das neue Gablonz.
8.3 Organisationen der Vertriebenen
Die ersten Vertriebenenorganisationen auf dem Gebiet des ehemaligen Deutschen Reiches wurden Anfang Juni 1945 in Hamburg gegründet. Sie hießen die Notgemeinschaft der Ostdeutschen und Hilfstelle für Flüchtlinge aus den Sudetengebieten.298
Angesichts der allgemein schlechten sozialen Situation der Betroffenen de? nierten sie
sich als humanitäre Hilfseinrichtungen, die bei der wirtschaftlichen und sozialen Eingliederung der Angekommenen in das Alltagleben helfen sollten. Hier ist darauf
295 Ortfried Kotzian: Die Aussiedler und ihre Kinder. Eine Forschungsdokumentation über die Deutschen im Osten der Akademie für Lehrerfortbildung Dillingen und des Bukowina-Instituts Augsburg. Dillingen/Donnau 1991, S.83
296 Ebd., S. 84.
297 Ebd., S. 85.
298 Vgl. Linus Kather: Die Entmachung der Vertriebenen. Erster Band: Die entscheidenden Jahre.
München/Wien 1964, S. 20ff.
119
hinzuweisen, dass man insbesondere in der amerikanischen Besatzungszone darum
bemüht war, jegliche Form der sozialen und rechtlichen Diskriminierung der Neubürger zu vermeiden. Diese Stellen traten deshalb bald in Kon? ikt mit Anordnungen der
amerikanischen Verwaltungsorgane, die ausdrücklich jede politische Aktivität der
Flüchtlinge und Vertriebenen verboten. Auch die tschechoslowakische Regierung protestierte mehrmals gegen diese Tätigkeit der Sudetendeutschen. In einem Memorandum forderte Prag sogar das Verbot der Vertriebenenorganisationen, was die Amerikaner anlehnten.
In ersten Nachkriegsjahren spielte vor allem die Kirche ein wichtiges verbindendes
Element. Sie bot ein Dach zur Formierung der ersten politischen Zusammenschlüsse
der Vertriebenen. Bereits im Sommer 1945 wurde in Frankfurt am Main die Kirchliche
Hilfsstelle gegründet. Diese Hilfskomitees waren nach Herkunftsgebieten strukturiert
und bildeten Vorformen der sich nach der Aufhebung des Koalitionsverbots durch die
Alliierten konstituierenden Landsmannschaften. Besonders die Münchner Zweigstelle, die vom bayerischen Roten Kreuz unterstützt wurde, konzentrierte sich auf die Hilfe für die Deutschen aus der Tschechoslowakei.
Im Januar 1946 entstand aus der Münchner Kirchlichen Hilfsstelle die Ackermann-
Gemeinde, eine Organisation der sudetendeutschen Katholiken, die sich zu der vor
dem Krieg tätigen deutschen Christlich-sozialen Partei bekannte und eine friedliche
Rückkehr der Sudetendeutschen in die Tschechoslowakei wünschte. Die Ackermann-
Gemeinde leitet ihren Namen von dem bedeutendsten Prosawerk des Frühhumanismus, dem „Ackermann aus Böhmen“ des Johannes von Saaz ab. Im Juli 1947 konstituierte sich die Arbeitsgemeinschaft zur Wahrung sudetendeutscher Interessen299, die
am 3. April 1955 in den Sudetendeutschen Rat umgewandelt wurde. Dieser Rat hat die
Aufgabe, die Politik der Landsmannschaft mit den Auffassungen der im Bundestag
vertretenen Parteien zu koordinieren. An die Nationalsozialisten und konkret an Henleins Sudetendeutsche Partei knüpfte der im Jahre 1947 gegründete Witiko-Bund an,
eine vom Repräsentanten der Landsmannschaft Walter Becher gegründete Organisation mit etwa 1000 Mitgliedern, die nach Adalbert Stifters Alterswerk „Witiko“ benannt ist. Kurt Nelhiebel kommt in seiner im Jahre 1962 publizierten Untersuchung
über die Zahl der Aktiven des Witiko-Bundes zu dem Ergebnis, dass sich Ende 1959
unter den 634 Personen nur etwa dreißig befanden, die früher nicht aktiv in der Heinlein-Partei oder der NSDAP waren.300 Der Witiko-Bund ist bis heute in der Sudetendeutschen Landsmannschaft eine der stärksten Meinungsfraktionen geblieben. 1948
entstand auf Initiative der sudetendeutschen Sozialdemokraten hin die Seliger-Gemeinde, die ihren Namen vom bedeutenden Arbeiterführer Josef Seliger (1870-1920)
ableitet. Sie erhob keine Ansprüche, für alle Sudetendeutschen zu sprechen, sondern
bezog sich auf die „sudetendeutsche Arbeiterbewegung“. In den Erfahrungen der sudetendeutschen Arbeiterbewegung sieht die Seliger-Gemeinde heute noch den wertvollsten Besitzstand des europäischen Sozialismus.
299 Ferdinand Seibt (Fn. 177), S. 366.
300 Vgl. Kurt Nelhiebel: Die Henleins gestern und heute. Hintergründe und Ziele des Witikobundes.
Frankfurt a.M. 1962.
120
Die Vertriebenen gründeten im Jahre 1950 sogar eine eigenständige Partei Block
der Heimatvertriebenen und Entrechteten.301 Eigentlich wollten gerade das die Westmächte verhindern, denn sie hielten die gesamte Einheitsideologie der sudetendeutschen Volksgruppe für eine juristische Fiktion. Abgesehen davon, dass dadurch die
politische Szene noch mehr segmentiert wurde, stieg damit auch das Risiko einer Radikalisierung des Vertriebenenproblems. Den ersten Erfolg konnte die Partei bei den
Landtagswahlen von 1950 in Schleswig-Holstein feiern. Dort erhielt sie 23,4 Prozent
der Stimmen.302 Um weiterhin die Erinnerung an die alte Heimat wach zu halten, wurden von den Landsmannschaften die „Tage der Heimat“ eingeführt. Der erste fand am
5. August 1950 vor dem Stuttgarter Schloss statt und war mit einer Kundgebung verbunden, bei der feierlich die Charta der deutschen Heimatvertriebenen verkündet
wurde. Seitdem organisieren die Vertriebenen alljährlich bundesweit zahlreiche Veranstaltungen unter diesem Motto. Auch die Sudetendeutschen trafen sich bei Großveranstaltungen. Die bedeutendste, der Sudetendeutsche Tag, ? ndet seit 1948 jeweils am
P? ngstwochenende statt.303
Zur Charta der deutschen Vertriebenen, die am 5. August 1950 verkündet wurde:
In diesem Dokument verzichteten auch die Sudetendeutschen auf Rache und Vergeltung.304 Sie ist ein Plädoyer für die Anerkennung des Schicksals der Heimatvertriebenen, der am „schwersten Betroffenen“, und bringt soziale, wirtschaftliche und juristische Forderungen nach Entschädigung, Gleichberechtigung und soziale Integration
der Vertriebenen zum Ausdruck.305 Schließlich appelliert sie auf die Europäisierung
der Sudetenfrage. Wie Erich Später jedoch anmerkt, konnte man auf Grund der politischen Konstellation von 1950 das eigentliche Ziel nicht offen fordern, das in der
Charta erscheint: nämlich die Wiederherstellung des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1939. Denn dies hätte die Bundesregierung zur sofortigen Distanzierung gezwungen.306 Ralph Giordano zufolge ist die Charta ein Beweis der Beziehungslosigkeit zur Welt der Naziopfer und zeugt von einer Geschichtsblindheit.307 Auf jedem Fall
ist die Charta der erste Versuch einer Vergangenheitsbewältigung der Sudetendeutschen Landsmannschaft und der anderen Organisationen, wie später noch gezeigt
wird.
301 Vgl. Franz Naumann: Der Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten 1950-1960. Ein Beitrag zur Geschichte und Struktur einer politischen Interessenpartei. Meisenheim 1968.
302 Vgl. Josef Foschepoth (Fn. 234), S. 103.
303 Vgl. Eva Hahnová: Sudeton?mecký problém: obtížné lou?ení s minulostí [Sudetendeutsches
Problem: Schwerer Abschied von der Vergangenheit]. Prag 1996, S. 67.
304 Vgl. Holger Kuhr: Geist, Volkstum und Heimatrecht. 50 Jahre Charta der deutschen Vertriebenen
und die eth(n)isch orientierte deutsche Außenpolitik. Hamburg 2000.
305 Vgl. Micha Brumlik: Wer Sturm sät. Die Vertreibung der Deutschen. Berlin 2005, S. 99.
306 Somit würde man gegen den Beschluss aller deutschen Parteien und vor allem der Alliierten
verstoßen, wonach Deutschlands Grenzen die vor Beginn der territoralen Expansion im Frühjahr
1938 sein sollten. Vgl. Erich Später (Fn. 114), S. 85.
307 Vgl. Ralph Giordano: Die zweite Schuld oder von der Last, ein Deutscher zu sein. Hamburg
1987.
121
Eine neue Situation entstand nach dem Beschluss der amerikanischen Besatzungsregierung, die Gründung der ersten Organisation unter dem Namen Sudetendeutsche
Landsmannschaft zu erlauben. Im August 1948 wurde das Koalitionsverbot aufgehoben. Die politische Vertretung der Sudetendeutschen konstituierte den Ausschuss der
Sudetendeutschen an der Spitze mit Lodgman von Auen. Dieses Organ setzte sich für
die Bildung einer Organisation ein, die die Forderungen der Sudetendeutschen gegen-
über der deutschen Öffentlichkeit und Politik und letztendlich auch gegenüber der
Tschechoslowakei formulieren sollte. Bereits im Jahre 1949 gab es etwa fünfzig regionale Landsmannschaften. Im selben Jahr wurde die Eichstätter Erklärung mit den
Zielen der republikweit wirkenden Organisationen beschlossen. Die Sudetendeutschen
agierten in diesem auf dem Selbstbestimmungsrecht basierenden Dokument gegen den
Kommunismus. Sie äußerten ihre Forderung nach Rückkehr, bezeichneten ihre Vertreibung als Unrecht und verzichteten auf eine Schuldzuweisung gegenüber der tschechischen oder polnischen Nation, riefen jedoch nach der Bestrafung der Täter.308
Die Sudetendeutsche Landsmannschaft (SL) entstand schließlich am 25. Januar
1950 in Detmold.309 Ziele waren die politische Vertretung aller Sudetendeutschen,
P? ege ihres Brauchtums und Unterstützung der Thesen der Eichstätter Erklärung. In
der bis heute gültigen Satzung de? niert sich die SL als „überparteiliche Volkstumsorganisation der Sudetendeutschen“ und als die „außerhalb der Heimat gegebene Gestaltung der sudetendeutschen Volksgruppe“. Als Vorsitzender wurde Lodgman von Auen
gewählt. Seine Nachfolger wurden in der Folgezeit Hans Christian Seebohm, Walter
Becher, Franz Neubauer und Bernd Posselt. Franz Pany leitet den Verband seit 2008.
In der Zeit ihrer Gründung versammelte die Organisation 26,7 Prozent aller auf dem
Bundesgebiet lebenden Sudetendeutschen.310
Organisatorisch gliedert sich die SL nach den Ursprungsgebieten der Mitglieder
und nach ihren Wohnorten in der Bundesrepublik. Es gibt zunächst die Sudetendeutsche Landsmannschaft und die Sudetendeutsche Landsmannschaft Österreichs. Auf
der mittleren Ebene folgen die Landesverbände, wobei Bayern als mitgliederstärkster
Verband nochmals in Bezirksgruppen unterteilt ist. Die Existenz dieser regionalen Organisationen suggeriert den Verwaltungsaufbau einer „Volksgruppe im Exil“. Diese
Gliederungen unterstützen viele deutschen Städte, Landkreise und Bundesländer durch
Übernahme sogenannter Patenschaften. Das oberste Gremium der Landsmannschaft
ist die Bundesversammlung. Sie tagt im Bayerischen Landtag und wählt aus ihren
Mitgliedern den Sprecher und den Bundesvorstand.
Eine bedeutende Rolle in der Existenz der Landsmannschaft spielen die christlichen Kirchen. Neben der Ackermann-Gemeinde entstand im Jahre 1947 das Sudetendeutsche Priesterwerk mit dem Visitator für die sudetendeutsche Volksgruppe. Die
308 Vgl. Josef Stingl: Die Gesinnungsgemeinschaften in der Sudetendeutschen Landsmannschaft,
in: Eichholz Brief 4, 1998, S. 21-25, hier 25.
309 Vgl. Ernst Nittner (Hrsg.): Dokumente zur Sudetendeutschen Frage 1916-1967. München 1967,
S. 426.
310 Václav Houžvi?ka (Fn. 99), S. 336.
122
Protestanten sind in der Gemeinschaft evangelischer Sudetendeutscher versammelt.
Die Sudetendeutschen geben auch viele konservativ orientierte Periodika heraus. In
Deutschland ist es die Sudetendeutsche Zeitung, in Österreich die Sudetenpost. Weiter
gibt es eine kulturell orientierte Vierteljahrespublikation Sudetenland und das beim
Adalbert-Stifter-Verein erscheinende Adalbert-Stifter-Jahrbuch. Zu nennen sind weiterhin Bildungseinrichtungen wie das Collegium Carolinum, die Redaktion der Fachzeitschrift Bohemia, das Sudetendeutsche Archiv, das Sudetendeutsche Bildungs- und
Sozialwerk, das Sudetendeutsche Musikinstitut in Regensburg u.a.
Noch im Laufe der 1950er Jahre bemühte sich die Sudetendeutsche Landsmannschaft um eine bilaterale Vereinbarung mit der tschechischen Seite. Ihre Position formulierte sie im Wiesbadener Abkommen von 1950 zwischen der Arbeitsgemeinschaft
zur Wahrung sudetendeutscher Interessen und dem Tschechischen nationalen Ausschuss im Exil.311 Darin vereinbarten sie die gemeinsame Vorgehensweise gegen das
kommunistische Regime und lehnten das Prinzip der Kollektivschuld ab. Beide Seiten
äußerten im Punkt III des Abkommens den Wunsch nach einer Rückkehr der vertriebenen Sudetendeutschen. Die tschechoslowakische Regierung distanzierte sich jedoch
sofort davon. Auch für die Entwicklung der deutsch-tschechoslowakischen Beziehungen nach 1989 spielte das Wiesbadener Abkommen keine Rolle mehr und wurde nicht
akzeptiert.312
Tschechischerseits äußerte die erste grundsätzliche Verurteilung der Vertreibung als
solcher der erbarmungslose Kritiker von Edvard Beneš, General Lev Prchala. Er ver-
öffentlichte eine Erklärung, wonach das tschechische und polnische Volk für die Deportation der Deutschen nicht verantwortlich seien, sondern einzig und allein die Regierungen die Schuld daran trügen.313 Prchala gab somit seine Kritik am Vorgehen des
Staatspräsidenten zum Ausdruck. Mit der Bewältigung der Vertreibung befassten sich
nach dem 28. Februar 1948 also auch die Exulanten, die ihre Polemiken in den Exilzeitschriften „Skute?nost“ und „Dnešek“ veröffentlichten.
Während des Sudetendeutschen Tages 1954 übernahm schließlich der Freistaat
Bayern die symbolische Schirmherrschaft über die Sudetendeutschen. Sie wurden neben Schwaben, Franken und Altbayern zum „vierten Stamm“ ernannt,314 stellen jedoch keinen einheitlichen „Stamm“ dar. Die Böhmerwäldler waren den Niederbayern,
die Egerländer den Oberpfälzern und Oberfranken, die Erzgebirgler den Sachsen, die
Schlesier den Norddeutschen, die Nordmährer, Südmährer und die Bewohner von
Österreich-Schlesien den Niederösterreichern durch Dialekt und Brauchtum verbunden. Die bayerische CSU an der Spitze mit dem ersten Ministerpräsidenten Wilhelm
311 Vgl. Ernst Nittner (Fn. 310), S. 357.
312 Vgl. Václav Kural u.a.: Studie o sudeton?mecké otázce [Studien über die Sudetenfrage]. Prag
1996, S. 40.
313 Vgl. Petr Pithart/Petr Píhoda: Die abgeschobene Geschichte. Ein politisch-historisches Lesebuch. Prag 1998, S. 32. – Rudolf Hilf (Fn. 175), S. 149.
314 Vgl. Erich Maier: 40 Jahre Sudetendeutscher Rechtskampf. München 1987. - Rudolf Ohlbaum:
Bayerns vierter Stamm die Sudetendeutschen. München 1980.
123
Hoegner sicherte sich somit die Mehrheit der Wählerstimmen der Sudetendeutschen
und ihr Vorsitzender Hans Ehard konnte dominanter Sieger der Landtagswahlen von
1954 werden. Dieser Erfolg trug deutlich zur Herausbildung der hegemonialen Stellung der CSU seit Anfang der siebziger Jahre in Bayern bei. Am 25. November 1962
bestätigte der bayerische Ministerpräsident Ehard die Übernahme der Schirmherrschaft über die Sudetendeutschen.
Wie wichtig sie für die CSU in Bayern sind, zeigten auch weitere großzügige Gesten der bayerischen Regierung. Im August 1970 erhielt die Landsmannschaft 12 Millionen DM, die die Sudetendeutsche Stiftung verwalten sollte. Dieser Betrag wurde
innerhalb der nächsten zehn Jahre mehr als verdoppelt und auf 29 Millionen DM erhöht. Am 24. März 1974 beschloss sie den Bau eines sudetendeutschen Zentrums und
ließ in München für 22 Millionen Mark das Sudetendeutsche Haus bauen, um der
Schirmherrschaft einen sichtbaren Ausdruck zu verleihen. Einen Teil der Finanzen
übernahmen die Patengemeinden. Eröffnet wurde das Haus im Jahre 1985.315
Diese Vertriebenenorganisation war von Anfang an um die Unterstützung durch die
politischen Parteien und um deren Identi? zierung mit ihren Zielen bemüht. Deshalb
wurden noch im Jahre 1961 ein Abkommen mit den beiden größten Willensträgern,
der CDU und SPD, abgeschlossen. Der sozialdemokratische Kontakt in Bergneustadt
am 23. Januar 1961 führte zur Anerkennung der politischen Ziele der Sudetendeutschen Landsmannschaft und zur Feststellung, dass die „Sudetenfrage mit der Vertreibung nicht gelöst wurde“.316 Anerkannt wurde auch die Forderung nach einer Veränderung der Staatsgrenzen der Tschechoslowakei. Im Juni desselben Jahres sind die
Programmpunkte der SL auch von der CDU bestätigt worden. Die CSU unterstrich die
Anerkennung der Sudetendeutschen als „vierten Stamm“ Bayerns. Der Prozess der
Akzeptanz der Ziele von deren Interessenvertretung durch die politischen Parteien war
insofern im Jahre 1964 abgeschlossen, als nun auch die FDP ihre Unterstützung der
erwähnten außenpolitischen Forderungen deklarierte und sich für die Verteidigung
dieser Politik in den diplomatischen Beziehungen aussprach. Dieser außenpolitischen
Proklamation schloss sich ebenfalls die CDU an. Somit wurde das Thema auf die bundesdeutsche Ebene gehoben. Schließlich verfasste man dazu im Bundestag ein gemeinsames Dokument aller politischen Parteien. Bundeskanzler Ludwig Erhard gab
bekannt, dass die Lösung der sog. Sudetenfrage im Interesse aller bundesdeutschen
Verfassungsorgane stehe. Dass die Bundesrepublik Deutschland keine Gebietsforderungen gegenüber der Tschechoslowakei stelle, schließe Erhard zufolge nicht das
Selbstbestimmungsrecht der Sudetendeutschen aus.317
Eine qualitativ neue Situation innerhalb der westdeutschen Politik ergab sich erst
nach der Entstehung der großen Koalition CDU/SPD im Jahre 1966. Die SPD und ihr
315 Wie Eva Hahn anmerkt, hat das Sudetendeutsche Haus eine symbolische Bedeutung und zeugt
von der erfolgreichen Schaffung einer kollektiven Identität bei den Sudetendeutschen in Bayern.
Vgl. Eva Hahn (Fn. 293), S. 254.
316 Vgl. Ernst Nittner (Fn. 310), S. 440f.
317 Vgl. Frankfurter Rundschau vom 9. Juni 1964. - Ferdinand Seibt (Fn. 177), S. 375.
124
Vorsitzender Willy Brandt bemühten sich schrittweise um Entspannung in den Beziehungen zu den Ländern des Ostblocks. Dies war mit der gleichzeitigen Vertretung der
Ziele der Landsmannschaft unvereinbar. Die SPD distanzierte sich also schrittweise
von den Forderungen der SL nach einer Grenzänderung. Aus der Ostpolitik Willy
Brandts gegenüber der Tschechoslowakei sind die ansprechenden Programmpunkte
der Landsmannschaft ausgeschlossen wurden.318 Das hatte die Verschlechterung der
Beziehungen zwischen ihr und der Bundesregierung zur Folge. Den Kon? ikt kann
man am Beispiel der unterschiedlichen Interpretation des Münchner Abkommens in
einer Friedensnote der großen Koalition vom 13. Dezember 1966 dokumentieren. Die
Bundesregierung an der Spitze mit Kurt Kiesinger verurteilte dort die expansive Politik Hitlers und die Zerschlagung der Ersten Republik. Sie bezeichnete das Abkommen
für ungültig und als Ergebnis von Gewaltandrohung. Der betreffende Text eröffnete
schließlich den Weg zu einer Annäherung beider Länder, die nach einem traurigen Intermezzo – der Zerschlagung des Prager Frühlings, des tschechoslowakischen Reformversuchs – in der Unterzeichnung des Prager Abkommens von 1973 gipfelte. Auf
diese diplomatische Offensive der deutschen Politik wie auch bereits auf den relativ
pragmatischen Kurs von Präsident Antonín Novotný hatte Moskau empört reagiert.
Bei der Konferenz der kommunistischen Parteien im April 1967 in Karlsbad musste
die ?SSR deshalb nachdrücklich die „unabänderliche“ Position in der deutschen Frage bestätigen. Die bilateralen Verträge zwischen der Tschechoslowakei und Polen einerseits und der DDR andererseits sollten ebenfalls diesen neuen politischen Trend
Westdeutschlands neutralisieren und die Kontrolle Moskaus über die tschechoslowakische Außenpolitik erhöhen.
In der Geschichte der Beziehungen zu beiden deutschen Staaten erscheint der „Prager Frühling“ als bedeutender historischer Meilenstein, als hochgradige Hoffnung auf
eine demokratische Wandlung des sowjetkommunistischen Systems. Angesichts der
Reformversuche des im Januar 1966 an die Parteispitze tretenden Alexander Dub?ek,
die mit der Neubelebung der Aktivität der nichtkommunistischen Parteien, der Entstehung Dutzender politischer Verbände und Interessenorganisationen sowie der Einschränkung der Zensur verbunden wurde, reagierte vor allem die politische Führung
der DDR radikal ablehnend.319 Im März 1968 deklarierte Walter Ulbricht, dass die
SED nicht mit der Unterstützung eines militärischen Eingreifens gegenüber der Tschechoslowakei zögern würde.320 Die gegenseitigen Beziehungen erreichten ihren Tiefpunkt. Noch eine Woche vor der Invasion besuchte Walter Ulbricht Prag. Der SED-
Vorsitzende hatte dabei Gelächter unter den tschechoslowakischen Journalisten her-
318 Václav Kural (Fn. 313), S. 42-45.
319 Vgl. Beate Ihme-Tuchel: Von der „Kampfgemeinschaft“ zur Entfremdung. Die DDR und
die Tschechoslowakei in den frühen sechziger Jahren, in: Frank König (Hrsg.): Im Schatten
der Vergangenheit. Deutsche und Tschechen – Aussöhnung mit Hindernissen. Potsdam 1999,
S. 58-71.
320 Vgl. Peter-Claus Burens: Die DDR und der „Prager Frühling“. Berlin 1981. - Stefan Wolle:
Die DDR-Bevölkerung und der Prager Frühling, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 36 (1992),
S. 35-45.
125
vorgerufen, als er auf einer Pressekonferenz mit Alexander Dub?ek behauptete, in der
DDR gebe es keine Zensur. Tausende Bürger der DDR besuchten in diesen Tagen Prag
und andere Städte, um die Begeisterung der Tschechen und Slowaken für den neuen
Sozialismus mitzuerleben.321 Viele von ihnen bekundeten der tschechoslowakischen
Gesellschaft gegenüber ihre Sympathie und entschuldigten sich hernach auch für die
Beteiligung der DDR an der Besetzung.
Der tschechoslowakische „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ und seine Entideologisierungs- und Liberalisierungstendenzen fanden ebenfalls in Westdeutschland
viele Sympathisanten. Dennoch verhielt sich die Bundesregierung sehr zurückhaltend.
Wahrscheinlich wollte man den „verbrüderten“ Staaten der Tschechoslowakei keinen
Impuls für eine Beein? ussung der Reformtrends geben. Einerseits sympathisierte man
mit der Entwicklung in der Tschechoslowakei, andererseits befürchtete man negative
Reaktionen der Sowjetunion und der DDR. Nichtsdestoweniger führte diese Entwicklung schrittweise zur weiteren Annäherung beider Länder, was insbesondere in den
Bereichen Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur bemerkbar war.
Anlässlich des dreißigsten Jahrestages der Unterzeichnung des Münchener Abkommens sollte 1968 sogar eine gemeinsame Erklärung zwischen der Bundesrepublik und
der Tschechoslowakei verfasst werden. Es zeigten sich Tendenzen, den status quo der
Beziehungen zwischen den beiden Staaten zu überwinden. Zu einem Durchbruch sollte es aber nicht mehr kommen: Am 21. August 1968 marschierten fünf Armeen des
Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei ein, darunter waren angeblich auch Truppen aus der DDR. Die Sowjets stoppten die Reformen, verhafteten die wichtigsten
politischen Repräsentanten, im Lande wurden russische Einheiten stationiert. Es folgte ein harter Normalisierungskurs des KS?-Chefs und Nachfolgers von Alexander
Dub?ek, Gustav Husák, der die volle Rückendeckung der DDR hatte. Die neue politische Führung setzte sich allmählich unter Gewaltanwendung, Parteidisziplin, Entpolitisierung der Öffentlichkeit und Kadersäuberungen durch. Die bundesdeutsche Politik zog sich zurück und musste die neue Entwicklung im Nachbarland zur Kenntnis
nehmen. Eine großzügige Geste beschloss die österreichische Regierung, die nach
dem Prager Frühling auf Anweisung des Botschafters (und späteren Bundespräsidenten) Rudolf Kirchschläger tschechoslowakischen Antragstellern österreichische Einreisevisa erteilte. In Spitzenzeiten waren es bis zu 5 000 am Tag.322
Trotz des harten Normalisierungstrends, der wiederum eine neue Emigrationswelle
hervorrief, während der 120.000 Menschen das Land verließen, war Westdeutschland
weiterhin an der Gestaltung guter of? zieller politischer Beziehungen zu Prag interessiert. Basis dafür bildete die Anerkennung der Nachkriegsrealitäten sowie die Vertiefung der wirtschaftlichen Kontakte. Diese wurden 1970 mit einem Langzeitabkommen über Handel und wirtschaftliche Zusammenarbeit intensiviert. Beide Vertragssei-
321 Vgl. Bernd Eisenfeld: Hoffnung, Widerstand, Resignation. Die Auswirkungen des Prager Frühlings und seiner Zerstörung auf die DDR, in: Deutschland Archiv. Zeitschrift für das vereinigte
Deutschland 5 (2003), S. 789-807.
322 Vgl. Pemysl Janýr: Rakousko a Pražské jaro, in: Britské listy vom 9. Dezember 2003 (www.
blisty.cz/2003/12/9/art16200.html)
126
ten präzisierten das Abkommen im Jahre 1975 mit einem weiteren über die Entwicklung
dieser Kooperation. Die entsprechenden Bemühungen halfen in Zeiten der politischen
Spannungen, die Gesamtbilanz der gegenseitigen Kontakte zu verbessern.
Die pragmatische Haltung Prags und Bonns in der gegenseitigen Zusammenarbeit
stärkte auch der Prager Vertrag vom 11. Dezember 1973.323 Hier spielte Moskau eine
besondere Rolle: Nach der Anerkennung des status quo durch Bonn und der ´Disziplinierung´ der tschechoslowakischen Politik in den Jahren 1968-69 verzichtete man
auf die ursprüngliche Forderung, das Münchener Abkommen für ungültig zu erklären,
und zwar von Anfang an, und wirkte auf Prag ein, den gleichen Standpunkt einzunehmen.324 Die Formulierung über die „Nichtigkeit“ bot jedoch beiden Seiten unterschiedliche Interpretationen. Für Prag blieb es weiterhin von Anfang an ungültig, für
Bonn galten einige Rechtsakte, die auf der Grundlage des Abkommens bis zum Kriegsende vollzogen worden waren. Für die deutsche Diplomatie war die Annullierung
„von Anfang an“ nicht akzeptabel, denn somit wären alle deutschen Rechtshandlungen auf dem abgetretenen Territorium rechtswidrig geworden. Dies hätte unter anderem auch Eheschließungen, das Zivilrecht oder Strafrecht – und am Ende ebenfalls die
Vertreibung betroffen. Die Forderung der tschechoslowakischen Verhandlungsseite
nach der Annullierung des Abkommens „von Anfang an“ beruht andererseits auf der
Staatskontinuität. „Es macht wohl doch einen Unterschied, ob die Vertriebenen von
1945 deutsche Staatsbürger waren, aufgrund des Münchener Abkommens, das auch
die Tschechoslowakei von ehedem in seinem Vollzug akzeptiert hatte, oder ob sie desertierte hochverräterische Tschechoslowaken gewesen sind.“325 Der tschechoslowakischen Verhandlungsseite gelang es damals außerdem nicht, die Forderung nach Entschädigung der Opfer des Nationalsozialismus durchzusetzen. Auf jeden Fall schloss
das Prager Ergebnis faktisch die Diskussion über die Fragen der Vergangenheit aus der
Zeit von 1938 bis 1947 ab und schuf einen breiten Rahmen für die Entwicklung der
gegenseitigen Zusammenarbeit.
Nach der Rati? zierung des Vertrags ging der Ein? uss der Sudetendeutschen Landsmannschaft auf die Außenpolitik der Bundesregierung merklich zurück. Die SL gab
erneut ihre Nichtzustimmung zur Eingliederung der sog. Sudetengebiete in die Tschechoslowakei bekannt und stellte die Nichtgültigkeit des Münchener Abkommens in
Frage. Sie initiierte sogar in den 1970er Jahren eine Petition mit 250.000 Unterschriften für die Vereinten Nationen, in der sie das „Selbstbestimmungsrecht“ forderte.
Nach der Verabschiedung der Schlussakte von Helsinki 1975 wurden schließlich
das Thema der Einhaltung der Menschenrechte und die Familienzusammenführung
der nicht vertriebenen Sudetendeutschen aktuell. Denn in der Tschechoslowakei waren
auf Grund der Volkszählung von 1950 noch 159.000 Deutsche geblieben. Infolge restriktiver Maßnahmen bezüglich ihrer ethnischen Identität sowie des Gebrauchs des
323 Vgl. Radko Bach: Die Bedeutung des Prager Vertrags von 1973 für die deutsche Ostpolitik, in:
Hans Lemberg/Jan Ken/Dušan Ková? (Hrsg.): Im geteilten Europa. Tschechen, Slowaken und
Deutsche und ihre Staaten 1948-1989. Essen 1998, S. 169-191.
324 Vladimír Handl (Fn. 9), S. 77.
325 Vgl. Ferdinand Seibt (Fn. 177), S. 399f.
127
Deutschen in der Öffentlichkeit hatte ein Teil von ihnen in der zweiten Hälfte des
20. Jahrhunderts auf das Bekenntnis zur deutschen Herkunft verzichtet. Ein anderer
Teil entschloss sich zur Emigration. Sie erfolgte einerseits spontan, andererseits auf
Initiative des Roten Kreuzes. Die Frage der Familienzusammenführung regelte auch
der Briefwechsel zum Prager Vertrag von 1973. Die Zahl der Angehörigen der deutschen Minderheit, die bis 1968 gesetzlich nicht als Minorität anerkannt worden war,
verringerte sich entscheidend. Im Jahre 1970 lebten in der Tschechoslowakei nur noch
85.000 Deutsche, im Jahre 1991 waren es lediglich 48.000. Erst im Jahre 1969 konnte als Ergebnis der Verhandlungen aus der Zeit des Prager Frühlings die erste Organisation der deutschen Minderheit, der Kulturverband der Bürger der Tschechoslowakei
deutscher Nationalität, entstehen. Die Normalisierung erfasste freilich auch ihn. Politisch illoyale Funktionäre wurden beseitigt und die Organisation bot ein Dach nur
noch für Gruppen von Deutschen in Städten des Grenzlandes zur DDR.
Ähnlich ablehnend wie während des Prager Frühlings blickte die DDR auf die Wiederbelebung des Reformsozialismus von 1968, als sich mit der Charta 77 erneut Protest gegen die Kommunisten in der Tschechoslowakei formierte. Hier kann ebenfalls
gezeigt werden, inwiefern die Entstehung oppositioneller Aktivitäten unter totalitären
Verhältnissen kompliziert war. Trotzdem standen auf der Signatarliste bis Ende der
1980er Jahre 1800 Namen tschechischer Persönlichkeiten. Beunruhigt verfolgte
die DDR-Führung insbesondere die Verbindungen ostdeutscher Bürgerrechtler wie
Matthias Domaschk zur Charta-Bewegung. Mit der Ausbürgerung Wolf Biermanns,
dem Hausarrest Robert Havemanns oder der Inhaftierung Rudolf Bahros zeigte
Ostberlin ihre Entschlossenheit zum Kampf gegen diese „Störer“. Die Wirkung der
Charta 77 auf das gesellschaftliche Selbstbewusstsein war freilich zu nachhaltig. Im
folgenden Jahr (1978) veröffentlichte der slowakische Historiker Jan Mlynárik unter
dem Pseudonym Danubius in der Exilzeitschrift „Sv?dectví“ in Paris ein Bündel von
Thesen, in denen er die Vertreibung der Deutschen kritisierte.326 Der absichtlich provokant verfasste Text ent? ammte eine leidenschaftliche Polemik, die auch das tschechische politische Exil erfasste.327
Im Jahre 1979 trat unter dem Namen „Bohemus“ eine kleine Gruppe von Dissidenten mit dem Ziel hervor, die Danubius-Thesen zu verteidigen. Damals entstand ein
gemeinsamer Text unter dem Titel „Stellungnahme zum Transfer der Deutschen aus
der Tschechoslowakei“, der die Vertreibung verurteilte. Außerdem wurde auf die Umstände hingewiesen, die die Vertreibung ermöglichten, und darauf, welche verhängnisvollen Folgen sie für die tschechische Gesellschaft selber nach sich zogen.
Die tschechoslowakischen Dissidenten (später führende Repräsentanten der Tschechoslowakei, darunter der nachmalige Staatspräsident Václav Havel sowie Außenminister Jií Dienstbier), beteiligten sich aktiv an der Verfassung des Prager Aufrufs vom
11. März 1985, der die Beseitigung der Berliner Mauer und die Wiedervereinigung
Deutschlands befürwortete. In diesem Dokument war unter anderem zu lesen, dass
326 Vgl. Leopold Grünwald: Wir haben uns selbst aus Europa vertrieben. München 1985.
327 Petr Pithart/Petr Píhoda (Fn. 314), S. 39
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man den Deutschen offen das Recht zugestehen soll, „frei zu entscheiden, ob und in
welcher Form sie die Vereinigung ihrer beiden Staaten innerhalb der heutigen Grenzen
wollen.“ Die tschechischen Dissidenten waren überhaupt die erste organisierte Gruppe, die das Thema der deutschen Einigung ansprach. Im Jahre 1983 unterzeichnete die
Bundesrepublik mit der ?SSR dann ein Kulturabkommen, das weitere Möglichkeiten
der Zusammenarbeit eröffnete. Diese entfaltete sich auf der Ebene der Tschechischen
und Slowakischen Republik sowie der einzelnen Bundesländer.
Noch wenige Wochen vor dem Umbruch im Jahre 1989 demonstrierte die politische Führung zusammen mit der DDR Solidarität und Einmütigkeit. Man glaubte fest
an die Fortbestehung des Sozialismus. SED-Generalsekretär Erich Honecker und sein
Gegenüber Miloš Jakeš trafen sich im Mai 1989, also ein halbes Jahr vor den Demonstrationen in Leipzig, Berlin und Prag. Bei einer Beratung ließen sie keinen Zweifel
daran aufkommen, dass der „real existierende Sozialismus“ weiter bestehen wird.
Kurz danach, am 27. Mai 1989, durchtrennten freilich der ungarische Außenminister
Gyula Horn und sein österreichischer Amtskollege Alois Mock den Stacheldraht an
der Grenze ihrer beiden Länder. Budapest öffnete damit die Grenze für ungarische
Staatsbürger, am 11. September dann für alle. Tausende Ostdeutsche ? ohen deshalb
über die ?SSR nach Ungarn. Gnadenlos wurde hierauf die Staatsgrenze zu Ungarn
dichtgemacht. Den Ge? ohenen blieb nur noch ein Weg: über die Prager bundesdeutsche Botschaft. Wie sich Ostberlin und Prag gegenseitig unterstützten, so sympathisierten freilich auch die Menschen in beiden Ländern miteinander und waren gegen
die totalitären Regimes. Zum ersten Mal zeigten sie dies bei dem bekannten Flüchtlingsdrama in der westdeutschen Botschaft, wo Hunderte in den schmalen Straßen der
Prager Kleinseite zurückgelassenen Trabis und Wartburgs den Verkehr erheblich behinderten und Tausende über den Zaun in den Garten der Residenz kletterten. In der
Vorburg der Prager Burg, direkt vor Augen der Führung der Kommunistischen Partei
der Tschechoslowakei, begann die Berliner Mauer zu bröckeln.
Jetzt wurde die Bereitschaft der KS? zur weiteren Verfestigung des realen Sozialismus auf eine harte Probe gestellt. Sollte man den Zugang zum Botschaftsgelände
sperren oder freimachen? Die Befehle änderten sich ständig. Außerdem erkannte man,
wie die Tschechen und Slowaken den Flüchtlingen allseitig geholfen haben. Sie brachten ihnen Decken und Lebensmittel und halfen bei der Überwindung der Gitterstäbe
an der Botschaft. Nun zeigte sich, dass man offensichtlich nicht mehr bereit war, für
die SED-Führung die Kastanien aus dem Feuer zu holen. Die Strategie war, sich so
wenig wie möglich einzumischen und fest daran glauben, dass die tschechoslowakische Öffentlichkeit diese Vorgänge für ein deutsch-deutsches Problem halten wird,
ohne Auswirkungen auf die anderen sozialistischen Staaten. Eine der letzten Verzweiflungsakte der SED-Regimes war dann die Aufhebung der Visafreiheit für DDR-Bürger
beim Grenzübertritt in die Tschechoslowakei, und zwar unmittelbar nach der Ausreise
der Botschafts? üchtlinge mit Sonderzügen Anfang Oktober 1989.
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8.4 Die Nicht-Vertriebenen und ihr Schicksal
Nach den großen Aussiedlungswellen blieben insgesamt höchstens 250.000 Menschen
deutscher Nationalität im Lande zurück. Die of? ziellen Zahlen sprechen sogar nur von
160.000 Deutschen (zum Jahre 1950). Der Anteil an Minderheiten, der noch im Jahr
1930 32 Prozent betrug, erreichte nach der Volkszählung des Jahres 1950 lediglich 6
Prozent. Die Zahl der Tschechen und Slowaken im Lande war damit im Verhältnis
entscheidend gestiegen und betrug im Jahre 1970 94 Prozent, während es im Jahr 1930
66 Prozent waren.328 Das Regime behielt vor allem den Kreis brauchbarer Fachleute
zurück, ohne den eine ganze Reihe von Betrieben im ausgesiedelten und nur langsam
neubesiedelten Grenzland produktiv nicht mehr weiterexistieren hätte können.329 Etwa
35 Prozent von allen nicht vertriebenen Deutschen blieben allein aus diesem Grund in
der alten Heimat zurück. Eine weitere Gruppe, die etwa 50 Prozent ausmachte, bildeten Partner in nationalgemischten Ehen.330 Diese Personen verzichteten am schnellsten auf das Bekenntnis zur deutschen Nationalität und übernahmen die des Ehepartners, meist die tschechische oder slowakische. In die letzte Gruppe der Zurückgebliebenen gehörten auch Antifaschisten und Menschen ohne Eigentum.
Die „zurückbehaltenen“ Deutschen haben es anfangs als Privileg betrachtet, dass
sie nicht abgeschoben wurden. Sie hatten aber oft ein hartes Leben vor sich. Sie konnten vor allem nicht in ihren Häusern bleiben und verstreuten sich im Landesinnern.
Dort mussten viele von ihnen Zwangsarbeit leisten. Falls man sie beim Deutschsprechen erwischte, wurden sie beschimpft, da ihre Muttersprache im kommunikativen
Umgang verboten war.
Schon im Jahr 1946 hat das tschechoslowakische Innenministerium gewarnt, die
nichtvertriebenen Deutschen könnten freundschaftliche und verwandtschaftliche Beziehungen über die Grenze hinweg unterhalten. Deshalb sollten die unmittelbar an der
Grenze lebenden ins Landesinnere umgesiedelt werden. Im Jahre 1947 verwarf zwar
Klement Gottwald die These von der Kollektivschuld der Deutschen mit dem Ziel, sie
für den sozialistischen Aufbau zu gewinnen. Denn viele von ihnen waren eben wirtschaftlich oder sonst unabkömmliche Personen. Aber selbst diese Deutschen hat man
von wenigen Ausnahmen abgesehen wie alle anderen behandelt. Auf sie bezog sich
die Enteignung, ein spezielles Präsidialdekret machte sie zu Staatenlosen.331 Teilwei-
328 Stephan M. Horak: Eastern European National Minorities 1919/1980. A Handbook. Littleton
1985, S. 2.
329 Vgl. Beate Ihme-Tuchel: Die tschechoslowakische Politik gegenüber der deutschen Minderheit
und das Verhältnis zur DDR zwischen 1949 und 1960, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft
44, (1996), S. 965-978. – Rudolf Hilf (Fn. 247), S. 112f.
330 Vgl. Heinrich Kuhn: Die kulturelle Lage der Deutschen in der ?SSR, in: Menschen vor dem
Volkstod. 200 000 Deutsche in der ?SSR. München 1961, S. 49-58, hier 51.
331 „Ob?an?m n?mecké národnosti zapojených do odboje a uznaným antifašist?m z?stalo zachováno státní ob?anství podle § 2 dekretu 33/45, dalším ob?an?m na základ? jejich kladného postoje
k republice a specialist?m jednotlivých pr?myslových odv?tví bylo státní ob?anství podle § 3
dekretu 33/45 vráceno. [Den Bürgern deutscher Nationalität, die in den Widerstand eingebunden
waren, und allen anerkannten Antifaschisten blieb die Staatsangehörigkeit erhalten gemäß § 2
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
In den deutsch-tschechischen Beziehungen spielt die Geschichte eine wichtige Rolle. Sie wird zum einen als Argument für die Gestaltung der gemeinsamen Zukunft benutzt, zum anderen aber auch als Waffe, um die andere Seite möglichst negativ darzustellen.
Die Arbeit untersucht an Hand eines qualitativen Datenmaterials die Funktion der Vergangenheitsdiskurse in der deutsch-tschechischen Nachbarschaft.