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werden die Schandstrafen des Mittelalters zu einem Strafinstrument der Gesellschaft, mit dem im Rahmen von geringfügigeren Straftaten Rechtstreue erreicht
werden sollte. Schandstrafen wurden daher auch an Leichnamen und Abwesenden
vollzogen, dort verbunden mit dem Gedanken der Abschreckung.471 Gemeinsamer
Zweck der Schandstrafen war weiter das Kenntlichmachen der Straftat gegenüber
der Öffentlichkeit, wobei das eigentliche Übel dann nicht durch die Strafe selbst,
sondern durch die Öffentlichkeit vollzogen wurde,472 welche die Ausgrenzung des
Einzelnen aus dem sozialen Leben erst durchführte. Auch die aus dem Mittelalter
bekannten Verstümmelungsstrafen hatten – wie auch die übrigen Schandstrafen –
den Zweck, den Straftäter dauerhaft als Bestraften in der Gemeinschaft zu erniedrigen.473 Sie wirkten neben ihrer Abschreckungswirkung gemeinschaftsbildend und
gemeinschaftsstärkend.474
II. Bewertung der Ehrenstrafe im Mittelalter
Das Mittelalter ist als Zeit zu charakterisieren, in der sich die Menschen verschiedenen obrigkeitlichen Gewalten gegenübersahen. Eine moderne Staatlichkeit im eigentlichen Sinne wird erst mit den Territorialstaaten erkennbar.475 Das bedeutet für
die Ehrenstrafe zunächst, dass von einem einheitlichen System der Ehrenstrafe, wie
von Strafen überhaupt, nicht ausgegangen werden kann, was sich auch in der Vielfältigkeit der hier dargestellten Sanktionen zeigt. Insbesondere die Quellenlage für
die Zeit bis zum 13. Jahrhundert ist als zu dürftig anzusehen,476 um allzu fundierte
Aussagen über den dargestellten Komplex treffen zu können. Somit muss sich die
Bewertung der Ehrenstrafe vor allem auf das Spätmittelalter beziehen. Dies hat seine
Ursache darin, dass wesentliche Impulse für die Entwicklung des mittelalterlichen
Strafrechts erst die Gottesfriedens- und die spätere Landfriedensbewegung sind,477
also ein Strafrecht im eigentlichen Sinne erst im Entstehen begriffen war.478 Das
Strafrecht des Mittelalters musste sich dementsprechend an den Augenblicksbedürf-
470 Quanter, Die Schand- und Ehrenstrafen, Seite 1; von Hentig, Die Strafe, Seite 416f. zeigt am
Beispiel des Prangers, dass dieser nachdem der Zusammenhang mit der Todesstrafe aufgegeben wurde, bei leichteren Delikten verhängt wurde.
471 Quanter, Die Schand- und Ehrenstrafen, Seite 56ff.
472 Schild, Alte Gerichtsbarkeit, Seite 212; Schüler-Springorum, FS Henkel, Seite 147.
473 Fuchs, Die Ehrenstrafen, Seite 45; Quanter, Die Schand- und Ehrenstrafen, Seite 184.
474 Schild, Alte Gerichtsbarkeit, Seite 212.
475 Schmidt, Die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, Seite 46; Eisenhardt, Deutsche
Rechtsgeschichte, Rn. 24ff., spricht davon, dass das Mittelalter auch nur eine mehr oder weniger entwickelte Staatlichkeit der Territorien an die Neuzeit weitergab.
476 His, Das Strafrecht des deutschen Mittelalters, Seite 1; Schmidt, Die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, Seite 46.
477 His, Das Strafrecht des deutschen Mittelalters, Seite 2ff.; Eisenhardt, Deutsche Rechtsgeschichte, Rn. 97.
478 Kennzeichen hierfür ist nach Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte, Band I, Seite 186, die
Ablösung der Geldbußen durch Leibes- und Lebensstrafen.
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nissen der politischen Gemeinwesen orientieren,479 was sich in den einzelnen Ehrenstrafen zeigt. Innerhalb des mittelalterlichen Strafrechts waren als Zweckgedanken
vor allem der Sühnegedanke (Compositionenstrafrecht)480, der aufkommende Talionsgedanke,481 der Abschreckungsgedanke482 sowie generalpräventive Erwägungen483 zu finden.484 Auffällig an den dargestellten Sanktionen ist ihr gemeinsamer
Angriffspunkt im Rahmen der eigentlichen Übelzufügung. Dieser lag in den dem
Einzelnen aus seinem Stand zukommenden Rechten,485 die durch den Begriff der
Ehre ausgedrückt wurden. Die Art und Weise des Eingriffs spielte dabei offenkundig keine wesentliche Bedeutung, die Vielfalt der Sanktionen ist mit dem Fehlen
einer straffen Zentralgewalt zu erklären.486 Sowohl bei den direkten Statusminderungen wie auch bei den Schandstrafen ergab sich die Verminderung der dem Einzelnen aus dem Stande zukommenden Rechte entweder direkt oder durch die Mitwirkung der Öffentlichkeit. Dies kann nur damit erklärt werden, dass die Sicherung
und Stabilisierung der Gesellschaftsorganisation im Vordergrund gestanden haben
muss. In einer ungleichen Gesellschaft wie der mittelalterlichen Ständegesellschaft,
die ohnehin Beteiligungsrechte nur in sehr beschränktem Maße und vermittelt über
die Standeszugehörigkeit kannte, musste es auf einen Sicherungs- und Stabilitätsaspekt der Ehrenstrafe ankommen, da sonst die Integrität des entsprechenden Rechtskreises insgesamt gelitten hätte. Dies hätte die Funktionsfähigkeit der Ständegesellschaft und damit die Legitimität der aus ihr fließenden Rechte in Frage gestellt.
Somit ist für das mittelalterliche Recht insgesamt festzuhalten, dass die Ehrenstrafe
mit der Stabilisierung der Gesellschaft zwar eine einheitliche Funktion, jedoch keine
einheitliche Form hatte.
Vor diesem Hintergrund werden die Ehrenstrafen des Mittelalters als Ausgangspunkt für die Weiterentwicklung späterer Ehrenstrafen angesehen.487 Die Ehrenstrafen des Mittelalters bedeuteten bei den härtesten ihrer Statusminderungen den totalen Ausschluss des Straftäters aus der Rechtsgemeinschaft. Dieser Ausschluss birgt
auch hier den Gedanken der milderen Minderung von Rechten in sich, da ein qualitativer Unterschied zur endgültigen Vernichtung der persönlichen Existenz besteht.
Es lässt sich also bei den härtesten Ehrenstrafen an eine abgemilderte Form der
Todesstrafe denken, zu der auch die Parallele gehört, dass jedermann einen Geächteten töten durfte.488
479 Schmidt, Die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, Seite 68.
480 Vgl. His, Das Strafrecht des deutschen Mittelalters, Seite 367 ff.
481 Vgl. His, Das Strafrecht des deutschen Mittelalters, Seite 371 ff.
482 Vgl. His, Das Strafrecht des deutschen Mittelalters, Seite 374 ff.
483 Vgl. His, Das Strafrecht des deutschen Mittelalters, Seite 376 f.
484 Wolfslast, Staatlicher Strafanspruch, Seite 68, spricht für die Zeit der Landfrieden von einer
Veränderung der Strafzwecke, wobei Vergeltung und Abschreckung zur Genugtuung, Sühne
und zum Schadensausgleich hinzutreten.
485 Vgl. Schüler-Springorum, FS Henkel, Seite 149, der die Minderung des sozialen Status als
zentrales Element auch der Prangerstrafen ansieht.
486 Eisenhardt, Deutsche Rechtsgeschichte, Rn. 106.
487 Kühne, Die Ehrenstrafen, Seite 5.
488 Schmidt, Die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, Seite 63.
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Die Mitwirkung der Öffentlichkeit an der Bestrafung ist den mittelalterlichen Ehrenstrafen immanent, da sie auf die Umsetzung durch die entsprechende Ehrengemeinschaft angewiesen waren. Eine hieraus begründete Ablehnung mittelalterlicher
Ehrenstrafen als Ausgangspunkt späterer Sanktionen wäre also verfehlt. Darüber
hinaus war die mittelalterliche Gesellschaft wegen des Fehlens anderer Sicherungsinstrumente auf die Einbindung der Öffentlichkeit in den Strafakt zwangsläufig
angewiesen, da ein modernes Staatsystem, dass die Bestrafung hätte übernehmen
können, noch nicht existierte und so die Öffentlichkeit das effektivste Mittel war,
um die Ehrenminderung tatsächlich durchzusetzen. Ihr Zweck kann wegen der Anknüpfung an die Ehre als gesellschaftsstabilisierendes Element nur darin bestehen,
die Standesgesellschaft zu stabilisieren, was, jenseits der inhaltlichen Anbindung an
die Standesgesellschaft, die Stabilisierung einer Gesellschaftsordnung als übergeordneten Zweck bedeutet.
D. Die Ehrenstrafe und die Rezeption
I. Darstellung der Veränderungen durch die Rezeption
Mit dem Aufkommen der Universitäten und dem sich vertiefenden Prozess der Rezeption489 römischen Rechtsdenkens erfuhr auch das System der Ehrenstrafen Ver-
änderungen.490 Entscheidend für die Rezeption römischer Rechtsgedanken war vor
allem der so genannte Gerichtsgebrauch.491 Da die Reichsgewalt im Strafrecht nur
schwach war, waren es zu dieser Zeit die einzelnen Territorien, die das Strafrecht
weiterentwickelten, wobei sie sich jedoch an der Constitutio Criminalis Carolina
Kaiser Karls V. aus dem Jahr 1532492 orientierten.493
In den Territorialrechten lassen sich nun an eine Verurteilung geknüpfte Minderungen der Ehre im Sinne von geminderten Beteiligungsmöglichkeiten nachweisen.494 Diese Entwicklung wurde durch den Umstand begünstigt, dass sich in den
Territorien nun auch eine Idee des Verhältnisses zum eigenen Territorium entwickelte, die der römischen Vorstellung des Bürgers näher kam.495 So rückte also mit
der Eigenschaft als Untertan bzw. Bürger eine weitere Anknüpfungsmöglichkeit für
die Ehrenstrafe im Sinne der Vermittlung von Rechten über einen allgemeineren
gesellschaftlichen Status in den Vordergrund. Der Abschreckungsgedanke spielte
bei den Ehrenstrafen des gemeinen Rechts eine zentrale Rolle.496
489 Zum Begriff der Rezeption vgl. Eisenhardt, Deutsche Rechtsgeschichte, Rn. 137.
490 Anders Freisler, ZStW 42 (1922), Seite 438, der keinen wesentlichen Einfluss der Rezeption
auf die Ehrenstrafen sieht.
491 Marezoll, Über die bürgerliche Ehre, Seite 322.
492 Abgedruckt bei Buschmann, Textbuch zur Strafrechtsgeschichte.
493 von Liszt, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, Seite 26.
494 Dolles, Die Nebenstrafen an der Ehre, Seite 25.
495 Fuchs, Die Ehrenstrafen, Seite 45.
496 Fuchs, Die Ehrenstrafen, Seite 49.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die statusmindernden Nebenfolgen stellen die Ehrenstrafen des heutigen StGB dar. Dieses Ergebnis steht am Ende einer Untersuchung, in der der Autor sich mit den Nebenfolgen, aber auch mit den Begriffen Ehre und Strafe auseinandersetzt. Dabei gelingt es ihm, die Verbindung von Ehrverständnissen und Ehrenstrafen durch die Geschichte nachzuweisen und zu zeigen, dass die Geschichte der Ehrenstrafe in Deutschland mit der Strafrechtsreform von 1969 keinen Abbruch gefunden hat. Gleichzeitig stellt er sich die Frage nach der Notwendigkeit von Ehrenstrafen in heutiger Zeit, die er in begrenztem Umfang für notwendig erachtet.