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II. Der faktische Ehrbegriff
1. Beschreibung des faktischen Ehrbegriffs
Der Ausgangspunkt faktischer Ehrbegriffe liegt in der Existenz des Phänomens
Ehre, die zunächst in bestimmten Eigenschaften gesehen wird.126 Diese liegen auf
der einen Seite im Inneren des Menschen, im subjektiven Bereich des Ehrgefühls,
auf der anderen Seite im Äußeren, im Ansehen, im guten Ruf. Der faktische Ehrbegriff ist damit zu untergliedern in eine subjektive und in eine objektive Seite.
Ein rein faktischer Ehrbegriff127 wird zwar in der Diskussion der letzten Jahre
nicht mehr vertreten,128 dennoch macht die Abgrenzung zu den anderen Begriffsdefinitionen der Ehre es erforderlich, ihn als Oberkategorie darzustellen, da diese zum
Teil faktische Elemente enthalten. Des weiteren entspricht die Einteilung der Ehrbegriffe nach den Merkmalen normativ und faktisch der Tradition der juristischen
Literatur,129 und der später darzustellende normativ-faktische Ehrbegriff nimmt
Bezug auf die faktische Bestimmung der Ehre und damit auch auf die faktische
Ehrdefinition. Zudem ist es sinnvoll, den faktischen Ehrbegriff auch im Hinblick auf
seine Zugänglichkeit für eine mögliche Sanktion an der Ehre zu untersuchen, wiederum mit der Erklärung, dass Elemente zum Teil auch in Definitionen mit anderen
Ausgangspunkten vorhanden sind.
a) Die subjektivierte Ehre
Der faktische Ehrbegriff sieht in seiner subjektiven Form das Ehrgefühl des Einzelnen als Basis der Ehre an.130 Ehre soll also grundsätzlich das sein, was als Ehre empfunden wird. Minderungen oder Steigerungen kann die so bestimmte Ehre demzufolge nicht von außen, sondern nur durch das Verhalten oder die Gefühlswelt des
Einzelnen erfahren. Der faktische Ehrbegriff nimmt damit in seiner subjektiven
Ausformung keine direkte Ankoppelung der Ehre des Einzelnen an seine Stellung in
der Gesellschaft vor. Der Rechtsgutsträger wird nicht über die von ihm innegehabte
Rolle als Mitglied einer Gemeinschaft zum Inhaber der Ehre, sondern allein durch
die individuelle Möglichkeit, Ehre zu empfinden. Diese ergibt sich letztlich jedoch
aus der Zugehörigkeit zur Gattung Mensch, so dass trotz der Behauptung absoluter
Subjektivität das Menschsein zur objektiven Voraussetzung des Ehrgefühls des
Rechtsgutsträgers wird.
126 Liepmann, Die Beleidigung, Seite 12.
127 Liepmann, Die Beleidigung, Seite 11 ff.; Kerwitz, Die Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte, Seite 1.
128 Tröndle/Fischer Vor § 185, Rn. 3; Hirsch, FS Wolff, Seite 132, sieht ihn kaum noch vertreten.
129 Wolff, ZStW 81 (1969), Seite 887.
130 Liepmann, Die Beleidigung, Seite 14; Helle, Der Schutz der persönlichen Ehre, Seite 2;
Kerwitz, Die Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte, Seite 1.
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Die zentrale Kritik an der subjektiven Seite des faktischen Ehrbegriffs lautet, dass
Ehre nicht von der Empfindlichkeit des jeweiligen Betroffenen abhängig sein könne.131 Dies ist insofern verständlich, als die Sensibilität hinsichtlich der eigenen Ehre
letztlich nicht an kaum messbaren Gefühlsregungen des Einzelnen objektiviert werden kann. Vielmehr muss im Ergebnis auf gesellschaftlich getragene Werte und
Normen zurückgegriffen werden, die aber eigentlich nach den Grundsätzen des
faktischen Ehrbegriffes ohne Belang bleiben sollen. Das heißt, dass der Einzelne
gerade nicht für sich genommen im Rahmen seines Ehrgefühls beurteilt wird, sondern im Ergebnis – und für diese Meinung widersprüchlich – auf die Gesellschaft
zurückgegriffen wird. Überdies wird zu Recht angeführt, dass das subjektive Ehrgefühl nur ein Spiegelbild der Ehre sein kann,132 eine Reflektion auf etwas, was durch
diese Erklärung der Ehre nicht näher definiert wird.
b) Die objektivierte Ehre
Die objektive Ausformung des faktischen Ehrbegriffs sieht demgegenüber den guten
Ruf als nach außen erkennbare Form der Ehre an, die sich in gesellschaftlichem
Ansehen und gesellschaftlicher Anerkennung äußert.133 Es wird also zur Erklärung
der Ehre an deren äußeres Erscheinungsbild angeknüpft, die sich in letztlich im
gesellschaftlichen Status des Einzelnen niederschlägt.
Als Hauptkritikpunkt an der objektiven Ausformung des faktischen Ehrbegriffes
wird vorgebracht, dass das Messen der Ehre anhand des guten Rufes wiederum
letztlich nur ein Spiegelbild der eigentlichen Ehre sei.134 In der Tat ist es keine Objektivierung und vor allem keine Beschreibung der Ehre, sie auf ihren Phänotyp zu
beschränken.
Insgesamt ist der faktische Ehrbegriff aus dem Grund nicht tragbar, dass sowohl
der gute Ruf als auch das subjektive Ehrgefühl letztlich nur Reflexe des tatsächlich
vorhandenen Wertes einer Person sind,135 auf den noch zurückzukommen sein wird.
2. Faktischer Ehrbegriff und Ehrenstrafe
Für die Definition der Ehrenstrafe würde das Zugrundelegen eines faktischen Ehrbegriffs bedeuten, dass die Sanktion sich gegen das Ehrgefühl bzw. das Ansehen des
Einzelnen richten müsste. Sie müsste also den Einzelnen in seiner Person kränken,
bzw. in den Augen anderer verächtlich machen, also auf die Zerstörung seines guten
131 Kaufmann, ZStW 72 (1960), Seite 430; Wolff, ZStW 81 (1969), Seite 887.
132 Kaufmann, ZStW 72 (1960), Seite 429.
133 Liepmann, Die Beleidigung, Seite 14; Helle, Der Schutz der persönlichen Ehre, Seite 1;
Kerwitz, Die Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte, Seite 1; Quanter, Die Schand- und
Ehrenstrafen, Seite 19.
134 Kaufmann, ZStW 72 (1960), Seite 429.
135 SK-Rudolphi, Vor § 185, Rn. 5.
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Rufes ausgerichtet sein. Derartige Sanktionen wurden in früheren Arbeiten zur Ehrenstrafe auch Kränkungsstrafen genannt.136
Ehrenstrafe wäre also eine Sanktion, die das subjektive Ehrgefühl oder das gesellschaftliche Ansehen des Einzelnen dadurch angreift, dass dem Einzelnen oder der
Gemeinschaft dessen Unwürdigkeit vor Augen geführt wird.
III. Der normative Ehrbegriff
1. Beschreibung des normativen Ehrbegriffs
Von einem einheitlichen Verständnis der Ehre kann im Rahmen des normativen
Ehrbegriffs137 bisher noch nicht die Rede sein,138 eher von einem gemeinsamen
Ausgangspunkt. Dieser besteht in der Feststellung, dass die Ehre des Einzelnen den
Wert der Person darstellt. Dabei ist der normative Ehrbegriff nicht frei von faktischen Bezügen, vielmehr findet eine Akzentuierung statt.139 Dementsprechend soll
die Ehre im Rahmen der Beleidigungsdelikte nach normativem Ehrverständnis vor
unverdienter Herabsetzung schützen, 140 wobei der faktische Bezug mit dem Merkmal „unverdient“ zum Ausdruck kommt. Ungeklärt ist innerhalb des normativen
Ehrverständnisses aber, wie der eigentliche Inhalt der Ehre, der Wert der Person zu
bestimmen ist.141 Die Differenzierung des normativen Ehrbegriffs kann – grob gesagt – in drei denkbare Kategorien erfolgen, die jeweils von einem anderen Ansatzpunkt ausgehen.142 Ausgangspunkt hierfür ist der Betrachtungswinkel, aus dem der
Wert der einzelnen Person hergeleitet wird. Der Betrachtungswinkel kann sowohl
durch die Position in der Gemeinschaft, als sozialer Wert, der Betrachtung der Individualität als personaler Wert als auch durch die Wertung der Position in der Gemeinschaft und der Eigenschaft als Individuum als personaler und sozialer Wert
vorgenommen werden.
a) Ehre als sozialer Wert
Im Rahmen der sozialen Wertbestimmung wird der Wert des Einzelnen alleine über
die Gesellschaft, also nur in der Eigenschaft des Individuums als Teil von ihr be-
136 Z.B. Esser, Die Ehrenstrafe, Seite 37.
137 Arzt/Weber § 7, Rn. 2; LK-Herdegen, (10. Auflage), Vor § 185, Rn. 1ff.; Marach/Schröder/
Maiwald § 24 I Rn. 3; Wessels/Hettinger, Strafrecht BT I, Rn. 464; Tenckhoff, JuS 1988, Seite 203; Kaufmann, ZStW 72 (1969), Seite 430; alle m.w.N.
138 Hirsch, FS Wolff, Seite 133; MüKo-Regge, Vor §§ 185ff., Rn. 24.
139 Küpper, JA 1985, Seite 454.
140 Arzt/Weber § 7 Rn. 2.
141 Otto, FS Schwinge, Seite 76, sieht die Frage der Bestimmung des Wertes als generelle Frage
der Ehrdefinition.
142 Rengier, Strafrecht BT II, § 28, Rn. 2; MüKo-Regge, Vor § 185, Rn. 25.
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References
Zusammenfassung
Die statusmindernden Nebenfolgen stellen die Ehrenstrafen des heutigen StGB dar. Dieses Ergebnis steht am Ende einer Untersuchung, in der der Autor sich mit den Nebenfolgen, aber auch mit den Begriffen Ehre und Strafe auseinandersetzt. Dabei gelingt es ihm, die Verbindung von Ehrverständnissen und Ehrenstrafen durch die Geschichte nachzuweisen und zu zeigen, dass die Geschichte der Ehrenstrafe in Deutschland mit der Strafrechtsreform von 1969 keinen Abbruch gefunden hat. Gleichzeitig stellt er sich die Frage nach der Notwendigkeit von Ehrenstrafen in heutiger Zeit, die er in begrenztem Umfang für notwendig erachtet.