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6.2 Die Re-Konfessionalisierung der Gesellschaft
Die Phase der Vereinsbildung verlief parallel bzw. nachgeschaltet zu einer Phase der
spirituellen Erneuerungsbewegung und dem Aufblühen neuer Formen der Volksfrömmigkeit in ganz Europa. Der Bedeutungsgewinn von Religion und Konfession,
der alle gesellschaftlichen Schichten betraf, ist der Nährboden der Vereinsbildung
und Subkulturformierung, die ohne diese breite Massenbasis niemals so erfolgreich
verlaufen wäre. In der Tat gelten die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts als Zeit
der „starken spirituellen Quellen vergleichbar mit der Zeit der Gegenreformation im
17. Jahrhundert“ (Gadille 1997: 118). Blaschke setzt einen noch viel weiteren Zeitrahmen: „Was sich zwischen etwa 1800 und 1970 abspielte, erinnert sehr an die
Zeiten von Reformation und Gegenreformation. Die Parallelen sind frappierend“
(Blaschke 2002: 8).
Damit geschah etwas, was eigentlich kaum einer noch für möglich gehalten hätte.
Der Westfälische Friede, das Prinzip des cuis regio, eius religio, sowie der Diskurs
der Aufklärung, hatten dazu beigetragen, dass religiöse Konflikte nahezu verschwunden waren und sich die Menschen noch um 1800 längst nicht mehr primär
als Angehörige einer Konfession verstanden (Blaschke 2002b: 20). Die Mentalität
war toleranter geworden, die Beziehungen zwischen den Konfessionen eindeutig
verbessert (Hölscher 1995: 270-273). Dies änderte sich geradezu schlagartig.
Mehrere (katholische) Frömmigkeitsbewegungen prosperierten, die wie der Herz-
Jesu Kult, die Eucharistie-Bewegung und die aufblühende Marienverehrung, eine
breite und emotionale Massenbasis fanden. Eine neue Volksfrömmigkeit entstand,
Wanderprediger verschrieben sich der „Rechristianisierung“ (Gadille 1997: 123) der
ländlichen Bevölkerung. In Gemeindemissionen, die teilweise mehrere Wochen
dauerten, wechselten Predigten mit langen Beichtsitzungen, in der Regel unter
enthusiastischer Beteiligung der einheimischen (und zugereisten) Bevölkerung. Die
Bonifatius-Tradition wurde wiederbelebt und das Inland seitens der Ultramontanen
als Missionsland gedeutet (Weichlein 2002: 163). Wallfahrten erfreuten sich größter
Beliebtheit, eine neue volksnahe Andachtsliteratur boomte. Das 19. Jahrhundert
erlebte einen enormen Anstieg religiöser Leidenschaft, in deren Zuge auch die soziale Relevanz der Kirchen wuchs (McLeod 2003: 8). Der protestantische Sektor war
mit Sonntagsschulen, Bibelstunden, Erweckungsveranstaltungen und (inneren wie
äußeren) Missionierungsanstrengungen kaum weniger aktiv.
Woher kam dieses Bedürfnis nach Spiritualität? Immerhin war das Aufblühen der
Erweckungsbewegungen nicht auf einzelne Gesellschaften beschränkt, sondern gilt
als ein gesamteuropäisches Phänomen (Greschat 1997: 312). Unterschiedliche Erklärungen werden angeboten. Für das Viktorianische Großbritannien sieht Gadille
das erfolgreiche, öffentliche Wirken der neugegründeten sozialen Vereinigungen als
eine wichtige Ursache:
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„Diese Sehnsucht nach authentischen religiösen Lebensformen erfüllte nicht nur eine aufgeklärte Minderheit, sondern auch die Massen, die u.a. durch verschiedene Formen christlicher
Sozialarbeit dafür sensibilisiert worden waren“ (Gadille 1997b: 232).
Die Sozialvereine, die im protestantischen Milieu gegründet wurden, um die Gesellschaft zu re-christianisieren, hätten, sollte Greschat Recht haben, damit ihre Aufgabe
hervorragend erfüllt. Als mindestens ebenso wichtig gilt ein europaweiter „Wertewandel“ – weg von den rationalistischen Denkweisen, die Europa seit der Aufklärung dominierten, hin zur neuen Innerlichkeit der Romantik. Die Emotionalität im
Religiösen gilt somit als Teil und Echo eines „dramatischen Wandels“ europäischer
Kultur zu Beginn des 19. Jahrhunderts: „away from rationalism and materialism
towards spiritual, eternal values“ (Österlin 1995: 168). Der Geist der Romantik
verlangte eine andere Kirche und eine andere Religiosität als es bürokratische
Staatskirchen wie die Dänemarks offerierten.
Blaschke bietet dagegen eine eher machtpolitische Erklärung, die darauf abzielt,
dass die großen Kirchen angesichts ihres Bedeutungsverlustes in staatlichen Belangen, die Schäfchen der Gläubigen um sich scharren.
„Die Konfessionalisierung als binnenkirchliche Identitätskonstruktion geschah stets um den
Preis, pluralistische, magische und „eigensinnige“ Glaubensformen und -praktiken zu eliminieren, wenigstens aber zu nivellieren oder in ein Größeres zu integrieren. Die Amtskirchen
strebten eine strikte Uniformisierung der religiösen Sphäre an. Um ihre Standards durchzusetzen, wurden Dogmen errichtet, der Ämterapparat und sein Personal reformiert, aber auch die
Frömmigkeitspraxis bestimmten Normen unterworfen“ (Blaschke 2002b: 29).
Friedrich spricht in diesem Zusammenhang nicht von Konfessionalisierung, sondern
einer neuen Phase der „Kirchwerdung“, mit der das Christentum auf die Herausforderungen der Zeit reagiere (Friedrich 2002: 111). Als Merkmale dieses Prozesses
rechnet Friedrich ähnlich wie Blaschke mit Phänomenen wie Zentralisierung und
Institutionalisierung, Klerikalisierung begleitet von der gegenläufigen Tendenz der
Aufwertung des Laienelementes, sowie Prozesse der Vergesellschaftung, die vor
allem durch die massenhaft entstehenden Sozialvereine vorangetrieben wurden.
Bestritten wird der Prozess der Konfessionalisierung auch in seiner Interpretation als
(katholische) „Erneuerung“. Laut Weichlein ist vielmehr „der Rückbezug auf
Grundanliegen der Gegenreformation“ prägend. Nicht nur die große Bedeutung
eindeutig „anti-moderner“ Frömmigkeitsbewegungen wie die Bonifatius-Verehrung
oder der Herz-Jesu-Kult spricht für diese Sicht (Weichlein 2002: 156, 179), sondern
auch die eminent zentrale Rolle, welche der Jesuiten-Orden jetzt wie damals zu
Zeiten der Gegenreformation, einnahm. Aber auch die protestantischen Erweckungsbewegungen, die sich am Rande der großen lutherischen und calvinistischen
Kirchenapparate entzündeten, waren theologisch konservativ und anti-aufklärerisch
inspiriert. Erneuerung geschah somit auf beiden Seiten durch Rückbesinnung auf
ältere, häufig vor-demokratische Traditionen.
Gemeinsam war den Bewegungen auf katholischer und protestantischer Seite eine
tiefe Spiritualität und Emotionalität, die bis zur Ekstase reichte und nicht selten
durch das „Wunder“ individueller Bekehrungs- oder Rettungserlebnisse geprägt
war. Allerdings gibt es einen zentralen Unterschied zwischen der Re-
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Konfessionalisierung im katholischen und im protestantischen Milieu: Die Wiederbelebung des Katholizismus kam aus dem Herzen der Kirche und wurde von ihr
jederzeit wenn nicht direkt gelenkt, dann zumindest kontrolliert. Die protestantischen Erweckungsbewegungen dagegen sperren sich vielerorts Blaschkes Interpretation als amtskirchliche Maßnahmen der Uniformisierung. Sie entstanden in der Regel an den radikalen Rändern des Protestantismus und waren mindestens so sehr
gegen die in ihren Augen zu liberale, zu wenig dogmatische Mutterkirche gerichtet,
wie sie gegen Katholizismus und Liberalismus agierten.
„Ihre Versammlungen in kleinen, auf die Bibellektüre und die persönliche Beziehung zu
Christus konzentrierten Gruppen stellten einen lebhaften Protest gegen die Lauheit der etablierten Kirche dar“ (Tihon/van de Sande 1997: 212).
6.2.1 Re-Konfessionalisierung in gemischt konfessionellen und katholischen Staaten
Die Re-Konfessionalisierung in Deutschland erlebte einen besonderen Anstoß
durch die Neugliederung der Länder im Anschluss an die Napoleonischen Kriege.
Ehemals konfessionell mehr oder weniger homogene Staaten wie Preußen, Württemberg oder Bayern mussten nun starke katholische bzw. protestantische Minderheiten integrieren.140 Wenn möglich, blieben die Minderheiten unter sich. Die Milieubildung wurde zum „Ersatz für den 1803 untergegangenen Konfessionsstaat“
(Damberg 2002: 336). Vor allem aber die erzwungene Defensivposition während
des Kulturkampfs Bismarcks trug zum Zusammenschluss der Katholiken bei, „die
ihre letzte soziale und politische Identität in der Kirche suchten“ (Conzemius 1997b:
645; Loth 1984: 18).
„Die Kirche erschien den Katholiken nicht nur als letzte Sinninstanz irdischer Existenz; an sie
klammerten sie sich, um ihre soziale und kulturelle Besserstellung zu erreichen. Diese Verkirchlichung der gesellschaftlichen Wirklichkeit durchdrang alle Bereiche“ (Conzemius
1997b: 645).
Nicht nur die großen Erfolge des Zentrums als politische Partei lassen sich auf die
im Zuge der Konfessionalisierung entstehende katholische Identität zurückführen
140 Den Stein des Anstoßes bildete häufig die sogenannte Mischehenfrage. Alle Kinder einer
Mischehe sollten in der Konfession des Vaters erzogen werde. Die preußische Maßnahme
richtete sich gegen Katholiken, da auch in den katholischen Hochburgen des Rheinlandes
Mischehen in der Regel zwischen katholischen Frauen und protestantischen Männern bestanden. Der Kölner Erzbischof Droste zu Vischering bestand auf dem Recht katholischer Kindeserziehung und wurde 1837 verhaftet und in Festungshaft genommen. Diese unter dem
Namen „Kölner Wirren“ oder „Kölner Ereignis“ in die Geschichte eingegangene Episode
sollte die Stimmung zwischen den Konfessionen für lange Zeit irritieren (Conzemius 1997b:
298-300; Bendikowski 2002: 232). Grundsätzlich gilt: „Die Mischehe bildete das zentrale
Konfliktthema zwischen Katholizismus und Protestantismus, es war der Zankapfel im religi-
ös tief gespaltenen Deutschland“ (Bendikowski 2002: 215).
189
(Greschat 1997b: 665),141 auch die Durchschlagskraft katholischer Genossenschaften, karikativer Vereine, sowie der katholischen Arbeiterbewegung ist ohne sie
kaum erklärbar. Dabei verband die katholische mit der sozialistischen Arbeiterbewegung, deren materialistische Geschichtsphilosophie sie strikt ablehnte, die
„grundsätzliche Kapitalismuskritik und die Infragestellung der politischen Machtverteilung“ (Conzemius 1997b: 648).
Schon die Namensgebung der protestantischen Vereine mit sozialer Zielsetzung
als Vereine der Inneren Mission bezeugt die religiöse Prioritätensetzung. Soziale
Aufgaben waren dem Ziel der Missionierung untergeordnet. Die Missionsvereine
unterhielten Gruppen von Wanderpredigern und Missionaren, die, mit Bibeln und
religiösen Traktaten bewaffnet, auszogen, die Entchristlichung der Gesellschaft zu
bekämpfen. Nach angelsächsischem Vorbild wurden auch in Deutschland Sonntagsschulen eingerichtet und Erweckungsveranstaltungen durchgeführt (Greschat 1997:
323). In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand – wie in anderen protestantischen Staaten auch – eine Gemeinschaftsbewegung an den Rändern der lutherischen Staatskirchen. „Hier ging es um Bekehrung, persönliche Heiligung, missionarische Aktivitäten gegenüber der Umwelt sowie engen Zusammenhalt und gegenseitige religiöse Stärkung“ (Greschat 1997b: 680).
Diese Frömmigkeitsbewegung fand Zuspruch in großen Teilen der evangelischen
Jugend und viele Vereinsgründungen gingen auf sie zurück.142 Die Landeskirchen
distanzierten sich von dieser „Pfingstbewegung“, vor allem, nachdem Berichte über
ekstatische Ausbrüche und das Erlebnis einer erneuten Ausgießung des Heiligen
Geistes die Runde machten. Ganz prinzipiell spiegeln die letzten Jahrzehnte vor der
Jahrhundertwende den deutschen Höhepunkt sektiererischer Abspaltungen von den
Staatskirchen wieder. Gemeinschaften der Herrnhuter, Irvingianer, Baptisten, Mennoniten, Methodisten und ähnliche Gruppierungen entstanden deutschlandweit. Als
Begründung für den Übertritt wird die „routinierte Kälte“ in der Mutterkirche, die
dort mangelnde Seelsorge und fehlende brüderliche Gemeinschaft genannt. Wie
auch in Skandinavien konnten die als bürokratisch empfundenen Landeskirchen die
zeitgenössische Sehnsucht nach Spiritualität und Gemeinschaftserlebnis offensichtlich nicht befriedigen. Dabei darf allerdings nicht vergessen werden, dass die Verbreitung der Sekten und Freikirchen selbst auf ihrem Höhepunkt äußerst gering war.
Nach der amtlichen Statistik in Preußen waren 1875 nicht mehr als 35.100 Menschen im gesamten freikirchlichen Sektor aktiv (Greschat 1997b: 680).
In den Niederlanden führte der „Aufstand der Frommen“ (Tihon/van de Sande
1997: 212) nach Jahren der Verfolgung und Unterdrückung schließlich 1869 zur
Gründung einer zweiten neo-calvinistischen Kirche, der Christelijk Gereformeerde
141 Einen Höhepunkt erreichte das Zentrum im Anschluss an den Kulturkampf im Jahr 1881 als
es ihm gelang, bei Reichstagswahlen die Stimmen von 86,3 Prozent aller katholischen Wähler
zu gewinnen (Besier 1998: 25).
142 Wichtig sind neben unzähligen Schülerbibelkreisen, die Deutsche Christliche Studentenvereinigung (DCSV), der Bund für Entschiedenes Christentum (EC) und der Christliche Verein
junger Männer (CVJM) (Greschat 1997b: 680).
190
Kerk, die um 1880 circa 3,5 Prozent der Bevölkerung umfasste. Die orthodoxere
Variante wehrte sich nicht nur gegen die Ideen der Aufklärung und die religiöse
Laxheit des Mehrheitsprotestantismus, der die Synoden und lokalen Gemeinden
beherrschte, sondern verstand sich auch als Vertretung des ökonomisch benachteiligten „kleinen Mannes“ (de kleine luyden, Andeweg/Irwin 2002: 18; van Holstey/Irwin 2000: 77). Die Bewegung galt als kleinbürgerlich-dogmatisch. Sie trug,
zumindest am Anfang, eindeutig romantische Züge und träumte von der Wiedererrichtung eines puritanischen, calvinistischen Staates ohne katholischen Einfluss
(Zahn 1993: 168). Die orthodoxen Calvinisten sahen sich als Hüter des alten Glaubens und, wie Zahn formuliert, „sittlicher Werte in den Zersetzungserscheinungen
des modernen Lebens“ (Zahn 1993: 169). In den Niederlanden ging aus dieser Bewegung 1878 eine politische Partei hervor, die Antirevolutionäre Partei, die sich als
Instrument zur Rückdrängung des Geistes der Französischen Revolution verstand.
Es ging ihr darum, wie ihr Gründer Abraham Kuyper polemisierte, mit der französischen Revolution „die zutiefst sündige Auffassung der Volkssouveränität, welche
auf die Ausschaltung des Allmächtigen aus dem gesamten Staatsleben abzielt“,
rückgängig zu machen (Kuyper 1879, zitiert nach Zahn 1993: 169). Auf katholischer
Seite mehrten sich seit den 1840er Jahren Anzeichen eines eigenständigen Selbstbewusstseins. Dieses produzierte aber gerade im Nordwesen der Republik scharfe
calvinistische Gegenwehr, da man – wie auch viele Protestanten in Deutschland –
weiterhin davon ausging, dass „nur die Protestanten die Nation verkörperten“ (Lademacher 1993: 444). Die Re-Konfessionalisierung in den Niederlanden steht in
einem engen Zusammenhang mit der Verfassungsreform von 1848, welche die Marginalisierung und Benachteiligung des katholischen Bevölkerungsteils weitgehend
aufhob. Nun hatten die Katholiken, was sie lange einklagten: eine liberale Verfassung mit Trennung von Staat und Kirche, sowie (seit 1853) die Wiederherstellung
ihrer kirchlichen Organisationsstruktur (Damberg 1997: 525). Viele orthodoxe Calvinisten liefen dagegen Sturm. In gewisser Weise hat der liberale Staat so zur Befriedigung des katholischen, aber zur Re-Konfessionalisierung und Radikalisierung
des calvinistischen Milieus beigetragen. Auf katholischer Seite entwickelten sich
zwar ähnliche Formen der Volksfrömmigkeit wie in Deutschland: Ordensgemeinschaften blühten auf, Laienkongregationen mit dem Ziel „religiöser Vervollkommnung“ gründeten sich, Wallfahrtsbruderschaften entstanden (Damberg 1997: 528).
Wichtiger in der spezifisch niederländischen Situation war aber möglicherweise der
gezielte Versuch, den katholischen Beitrag in Kunst, Wissenschaft und Politik
herauszustellen. Man wollte zeigen, dass katholisch und niederländisch sehr wohl
miteinander vereinbar seien. In diesem Sinne entstand eine Unzahl von Publikationen, Bildwerken und Geschichtsbüchern, die den katholischen Anteil an niederländischer Kultur und Geschichte betonten (Lademacher 1993: 447-448). Im Gegensatz
zu den deutschen Katholiken lag den niederländischen Katholiken nichts ferner als
mit dem Ultramontanismus assoziiert zu werden, da man nicht unter den Verdacht
der „Vaterlandslosigkeit“ geraten wollte (Lademacher 1993: 448). Autoren wie
Lademacher sehen daher die Versäulung des niederländischen katholischen Milieus
weniger als einen Emanzipationsversuch, sondern als eine Schutzmaßnahme zur
Konservierung des mühselig Erreichten (1993: 449).
191
In der Schweiz agierte eine freikirchliche, konservative Erweckungsbewegung (Réveil) gegen die Nationalkirche auf Landesebene, indem sie der gängigen Gleichsetzung von Protestantismus mit Fortschritt und Demokratie die Vorstellung einer
scharfen Trennung von Staat und Kirche gegenüberstellte. Die Erweckungsbewegungen opponierten so gleichermaßen gegen den mainstream Calvinismus und kantonale Regierungsmacht (Campiche 1972: 512). „Reveil und Pietismus kam im
Schweizer Protestantismus jene Rolle zu, die gewissermaßen der Ultramontanismus
im katholischen Raum erfüllte“ (Conzemius 1997: 242-243).
Aus den Reihen der Abweichler entstanden bedeutende Missionsvereine und –
vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – eine massenhafte Verbreitung
der Diakonievereine und -Häuser, die sich sozialer, karitativer und pädagogischer
Aufgaben widmeten. Ganz in calvinistischer Tradition rührte die diakonische Sozialarbeit nicht an den ökonomischen oder politischen Ursachen der Verarmung,
„sondern führte sie weitgehend auf die Lebensuntüchtigkeit der Betroffenen als
Folge von Arbeitsscheu und Alkoholismus zurück“ (Conzemius 1997: 243). Auch
der schweizerische Katholizismus war in der Inneren Mission tätig. Mit Hilfe ihrer
eigenen Presselandschaft, mit Vereinen und Wallfahrten propagierte die katholische
Kirche nach 1850 ein ultramontanes Frömmigkeitsideal und merzte lokale Besonderheiten katholischer Volksfrömmigkeit erfolgreich aus (Altermatt 1991: 66). Erst
diese „zweite Missionierungswelle im 19. Jahrhundert“ vollbrachte die eigentliche
Bildung des katholischen Milieus: „Wie nie zuvor gelang es der Amtskirche, einheitliche Vorstellungen über den guten Katholiken zu propagieren und die Masse
der kleinen Leute damit zu disziplinieren“ (Altermatt 1991: 66).
Auch im katholischen Spanien kam es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu
neuen Formen der Volksfrömmigkeit. In ihrem Widerstand zum liberalen Verfassungsstaat, der periodisch die Harmonie zwischen katholischer Kirche und konservativ-autoritärem Staat irritierte und ihr immer wieder viele Privilegien nahm (und
vor allem ihr Monopol in Wohlfahrts- und Bildungsangelegenheiten dauerhaft gebrochen hatte), förderte der Klerus Herz-Jesu Verehrungen, Eucharistiefeiern und
Marienkulte und es folgte die Wiederbelebung der Volksmission, ein herkömmliches Mittel zur Festigung des Glaubens gegen „Unsittlichkeit und Gleichgültigkeit“
(Matos-Ferreira 1997: 292).
„Sie legte auf die Volksfrömmigkeit besonderen Wert, weil sie darin im Gegensatz zu den von
der Aufklärung geprägten Tendenzen im vorausgegangene Jahrhundert eine Möglichkeit zur
Verankerung ihres Einflusses sah“ (Matos-Ferreira 1997: 291).
Die spirituelle Erweckungsbewegung, sowie der mit ihr eng verknüpfte konfessionelle Gründerboom im Vereinswesen haben gerade auch in der hierarchischen katholischen Kirche einen unbestreitbaren Effekt: die Aufwertung des Laienelements.
So stellte bereits ein Zeitgenosse fest:
„Zu keiner Epoche verfügten die Laien über mehr Einfluß in der Kirche; und mit den Laien
drangen auch die Anliegen der profanen Welt in das Heiligtum ein. [...] Die Anstöße gingen
öfter von den Glieder als vom Haupt aus“ (Anatole Leroy-Beaulieu, zitiert nach Mayeur 1997:
474-475).
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6.2.2 Re-Konfessionalisierung in protestantischen Staaten
In Großbritannien erlebten unterschiedliche dissenter Bewegungen eine enorme
Blüte und umfassten unter der Führung der Methodisten schließlich ein Fünftel der
englischen Bevölkerung, die gegen die Stellung der Staatskirche protestierten und
letztendlich ihre Entstaatlichung verlangten (Gadille 1997b: 221-223). Schottland
war von der Radikalisierung im besonderen Maße betroffen, bedeutete sie doch das
Ende der alten Staatskirche (vgl. Kapitel 5). Schon 1820 waren 38 Prozent der
schottischen Bevölkerung Mitglieder einer dissenting church oder römischkatholisch (Devine 1999: 90). Die Stimmung radikalisierte sich auch unter dem
Eindruck massiver Einwanderung ärmerer Arbeiterschichten aus dem katholischen
Irland in den 1830er Jahren: „... Protestant antagonism to this influx was able to
disguise itself as concern for law and order“ (Mitchison 2002: 381). Die Erweckungsbewegungen hielten sich an einen extremen Calvinismus, der die absolute
Priorität in der Rettung der Seele sah und individuelle Schicksale als direkten Ausdruck von Gottes Willen verstand.
Wie anderenorts führte der Kirchenkampf zu einer Revitalisierung von Religion und
Konfession. Zwischen 1830 und 1914 verdoppelte sich die Kirchenmitgliedschaft
(Brown 1997). Gerade der (bereits tot geglaubten) katholischen Kirche war es gelungen, viele Anhänger aus der Gruppe der ehemals kirchenungebundenen unteren
Schichten zu gewinnen. Irische Einwanderer, die häufig die ärmsten Schichten der
ungelernten Arbeiter stellten, verbanden sich mit der katholischen Kirche auf der
Suche nach einem Stück heimatlicher Identität in einem fremden Land. Allein in
Glasgow ist die katholische Gemeinde in den letzten dreißig Jahren des 19. Jahrhunderts um über 100.000 Gläubige gewachsen.143 Ebenso gelang es der im 18. und 19.
Jahrhundert in die Bedeutungslosigkeit versunkenen episkopalischen Kirche ihre
Mitgliederzahl bis 1914 zu verdreifachen (Devine 1999: 378-379). Aber auch das
calvinistische Milieu wurde durch den Erfolg der evangelischen Erweckungsbewegungen revitalisiert.
„It was the spiritual source of the endless stream of Sunday schools, mission societies, benevolent societies, Bible classes and prayer groups that enveloped urban Scotland in the nineteenth
century“ (Devine 1999: 370).
Der missionarische Eifer unterschiedlichster Erweckungsbewegungen wurde von
Thomas Chalmers in kohärentere Bahnen gelenkt. Seine Ideale beruhten auf der
Vorstellung eines „godly commonwealth“, in dem es keine Trennung von Staat und
Kirche gibt, sondern beide eine heilige Allianz eingehen, um eine gottgefällige Gesellschaft zu bauen. Ganz im Sinne älterer calvinischter Traditionen, sah auch
Chalmers Armut als ein Resultat individuellen moralischen Fehlverhaltens. Aufgabe
143 Die katholischen Hochburgen waren nun in den städtischen Einwanderungsgebieten des
industrialisierten Westens, wohingegen traditionell katholische Gebiete seit der Reformation
in Aberdeenshire, Banffshire und „some districts of Inverness-shire“ lagen (Devine 1999:
379).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Sind protestantische Vereine und Netzwerke ein besserer Nährboden für die Demokratie als katholische Organisationen? Brauchen auch Religionen den Wettbewerb des freien Marktes ohne staatliche Einmischung, um sich kraftvoll und lebendig zu entfalten? Das Buch untersucht die demokratische und sozial integrative Wirkung katholischer, lutherischer, calvinistischer und säkularer Organisationsformen in Deutschland, der Schweiz, den Niederlanden, Dänemark, Spanien und Schottland. Dargestellt wird die gesellschaftliche und demokratische Rolle von Religion und Kirche seit den Zeiten der Reformation bis heute. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die demokratieförderliche oder aber hemmende Wirkung von Religion und Konfession als Bestandteil europäischer Zivilgesellschaften am Beginn des 21. Jahrhunderts. Auf der Basis einer international vergleichenden Organisationsstudie kontrastiert das Buch ökonomische Theorien der Religion mit dem klassischen Säkularisierungsparadigma, sowie Sozialkapitalansätze mit Organisationstheorien, die behaupten dass die kleine, dezentral organisierte Organisationsform des Protestantismus der großen, zentralistischen und hierarchischen Organisationsstruktur des Katholizismus überlegen sei.