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an Zwingli und Bucer orientierten, kurzfristig in einigen süddeutschen Ländern
etablieren konnten. Die Gravitationskraft des Luthertums und vor allem seines militärischen Arms, der Schmalkaldischen Liga, war allerdings zu stark, als dass sich die
süddeutschen Fürsten dieser Macht lange entziehen konnten. Schon 1537 waren
quasi alle süddeutschen Reformer an Luthers Seite zurückgekehrt (Wallace 2004:
99). Der Augsburger Religionsfriede von 1555, der auf die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen der Schmalkaldischen Liga und dem katholischen Kaiser
folgte, sanktionierte das lutherische Bekenntnis von Augsburg und gab den Landesfürsten das Recht, die Konfession ihrer Untertanen zu bestimmen. Kirchen und Gemeinden, die sich auf Zwinglis Lehre beriefen, waren seit diesem Zeitpunkt illegal
(Wallace 2004: 116).
5.1.2 Die Reformation in Dänemark
Die skandinavischen Monarchien waren die ersten Königreiche, die sich vom Katholizismus lossagten und zum Luthertum übertraten. Damit führte die Reformation
auch nicht zur konfessionellen Spaltung wie in Deutschland, der Schweiz oder den
Niederlanden, sondern förderte die nationale Entwicklung von Sprache und Kultur
(Vogler 1992: 438). Die Reformation kam auf Initiative der Monarchen (Österlin
1995: 59). Bereits 1537 holte sich Christian III, König von Dänemark, die Zustimmung der dänischen Ständeversammlung, des Riksdags, lutherische Reformen einzuführen.96 Katholische Bischöfe mussten ihr Amt niederlegen und wurden durch
Superintendenten ersetzt. Die Kirchengüter wurden an den König, den Adel und die
Städte verteilt (Vogler 1992: 438). Ein Jahr später schloss sich Dänemark der
Schmalkaldischen Liga an und unterzeichnete das Augsburger Bekenntnis. Damit
verpflichtete sich der König, alle seine Einwohner unter lutherischem Bekenntnis zu
halten. Artikel 6 der sogenannten „Lex Regia“ gab dem König alle exekutive Macht
hinsichtlich der Kirche insgesamt, der Kirchenverwaltung sowie dem Klerus (Dübeck 1996: 38). Pietas firmat regnam (Frömmigkeit stärkt Herrschaft) war das Motto der dänischen Könige (Madeley 2000: 30). „From 1536 to 1849, the Evangelical
Lutheran Church was the state church because it was the church of the royal family“
(Bruce 1999: 92).
Der dänische Monarch gewährte allerdings katholischen Klöstern, Konventen und
Bischofssitzen die Freiheit, unter Überwachung und Schutz seitens adliger Patrone
weiter zu existieren. Sein Schwerpunkt lag im Aufbau eines Bildungssystems. Das
Ziel war, eine geschulte, effektive und reformierte Pfarrergarde zu schaffen, die mit
der Aufgabe betreut wurde, den neuen Glauben innerhalb der dänischen Bevölkerung zu verbreiten (Wallace 2004: 101).
96 Vorausgegangen war unter Christians Vorgängern, Friedrich I und Christian II, eine offene
Rebellion seitens katholischer Adliger und Kirchenführer. Christian II wollte eine Art katholische Nationalkirche, in der die Rechte der Bischöfe eingeschränkt und die Appellation nach
Rom untersagt waren (Lienhard 1995: 756; Wallace 2004: 101).
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Der Aufbau einer lutherischen Kirchenstruktur verlief so zunächst langsam, da die
amtierenden katholischen Priester nicht alle aus ihren Ämtern entfernt wurden, sondern nur allmählich durch Lutheraner ersetzt wurden. Auch blieb die bischöfliche
Kirchenstruktur erhalten. Erst 1569 wurde die Praktizierung katholischen Glaubens
offiziell verboten, und dies blieb so bis zu ihrer Tolerierung im Jahr 1849 (Lamont
1989: 162). Auf der Ebene der Einzelgemeinden kontrollierten Kirchen- und Staatsbeamte periodisch das Verhalten von Pastoren, Schulen und Laien. Die Reformation
gewann neuen Schwung unter dem in religiösen Fragen völlig desinteressierten und
als grundsätzlich schwach und erfolglos geltenden Christian IV, da es Superintendent Hans Poulsen Resen gelang, das dänische Luthertum institutionell zu zentralisieren und die Lehren zu standardisieren. Seit 1621 mussten alle Professoren der
Universität Kopenhagen auf das Augsburger Bekenntnis schwören, Pastoren und
Schullehrer wurden zu zwei Jahren Universitätsausbildung und zur Ablegung eines
Examens verpflichtet, bevor sie ihr klerikales Amt antreten durften. Auf der Lokalebene setzten Kirchenbeamten eine bibelorientierte Kindererziehung durch und eine
lutherische Elite durchlief ein System sekundärer Lateinschulen, die zur Universität
führten. 1629 wurde eine neue Kirchenordnung erlassen, die einen Kirchenrat aus
Laien kreierte, dessen Aufgabe es war, dem Gemeindeklerus zu „helfen“, die moralische und spirituelle Haltung der Gemeindemitglieder zu überwachen: „Ironically,
by the 1650s political defeat had helped build an official and oppressive religious
culture in Denmark’s state-controlled Church“ (Wallace 2004: 150).
Überhaupt war ein Kennzeichen der ersten Reformationswellen in allen Ländern,
dass sie – zu Zeiten, da 85 bis 90 Prozent der Bevölkerung im agrarischen Sektor
tätig waren (Wallace 2004: 119) - in dörflichen Zusammenhängen lebten und des
Schreibens und Lesens kaum mächtig waren – die Reformation bzw. Konversion
adliger und gehobenerer gebildeter, vermehrt auch städtischer Schichten bedeutete –
ein „urban event“, wie schon Dickens schrieb (Lienhard 1995b: 790).97 Die große
Betonung, welche die Reformer der Bibel und der eigenständigen Interpretation des
Wort Gottes gaben (sola scriptura), machte sie für einen Großteil der Bevölkerungen Europas schwer zugänglich. Allerdings erklärt die Wertschätzung der Bibel,
warum protestantische Kirchen nach ihrer Etablierung soviel Wert auf die Errichtung eines öffentlichen, allen zugänglichen und für alle verpflichtenden Schulwesens
legten.
Doch die Wertschätzung der Bildung kannte ihre Grenzen. Überall war man sich
der stabilitätsfördernden Rolle relativer Unwissenheit sehr wohl bewusst. Protestantische Bildung hatte so für die Massen eine mindestens so disziplinierende wie bildende Aufgabe. So schrieb noch 1763 der Preußenkönig Friedrich II an einen Minister:
„Daß die Schulmeister auf dem Lande die Religion und Moral den jungen Leuthen lehren, ist
recht und gut und müssen sie davon nicht abgehen, damit die Leuthe bei ihrer Religion hübsch
bleiben und nicht zur katholischen übergehen, denn die evangelische ist die beste und weit
besser wie die katholische. Darum müssen die Schulmeister sich Mühe geben, dass die Leuthe
97 So waren vermutlich nur drei bis vier Prozent der deutschen Bevölkerung zur Reformationszeit des Lesens mächtig (Lienhard 1995: 726).
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Attachement zur Religion behalten und sie so weit bringen, dass sie nicht stehlen und morden
[...] Sonsten ist es auf dem platten Land genug, wenn sie ein bisgen Lesen und Schreiben lernen, wissen sie aber zu viel, so laufen sie in die Städte und wollen Secretärs und so was werden, [...]“ (zitiert nach Schnabel-Schüle 2002: 75).
In anderer Hinsicht hatte die Reformation auf die Bevölkerung in den nordischen
Staaten relativ wenig Einfluss. Vieles, so Österlin (1995: 75), blieb wie es schon zu
katholischen Zeiten gewesen war: Kirche und Gesellschaft waren „inseperable, now
as before“; Gemeinde und Kirchengemeinde blieben „one and the same thing“; die
bischöfliche Struktur blieb unangetastet – viele Punkte einer „unbroken continuity“
zur mittelalterlichen Kirche (Österlin 1995: 76). Die Reformation führte zu einem
stabilen Gleichgewicht in dem beide Seiten ihre Aufgaben erfüllten: die Krone unterstütze die Kirche in ihrer geistlichen Mission, der „Christianisierung“ der gesamten Bevölkerung; die Kirche dagegen verhalf den Monarchen zur effizienten Aus-
übung staatlicher Autorität (Madeley 2000: 30).
5.1.3 Reformation in der Schweiz
Die Geschichte der Reformation in der Schweiz verlief ähnlich und doch völlig
anders. Die Schweiz, als freiwilliger Zusammenschluss einzelner Kantone, Städte
und ländlicher Gemeinden, die seit 1291 im Laufe zweier Jahrhunderte der Schweizer Konföderation beigetreten waren, war eine Anomalie im Konzert absolutistischer Monarchien, die das Bild Europas zur Reformationszeit bestimmten. Zürich
war Ausgangspunkt der Schweizer Reformbewegung, wo Huldrych Zwingli vom
Züricher Stadtrat 1519 zum sogenannten Leutpriester, höchste priesterliche Instanz
der Stadt, berufen wurde. Der Berufungsakt durch die Stadt Zürich war bereits ein
aufsehenerregender Reformakt, da bischöfliche Rechte (Zürich gehörte zur Diözese
Konstanz) schlicht ignoriert wurden. Obwohl Zwingli anfänglich von Luther beeinflusst war, entwickelte er ganz eigene Vorstellungen vor allem hinsichtlich der Sakramente und des Verhältnisses von Staat und Kirche (Wallace 2004: 94). Zwingli
löste sich völlig von der traditionellen kirchlichen Liturgie und verfolgte das Ziel
einer Rückkehr zum Urzustand des Christentums. So galt die Taufe bei Zwingli als
rein spiritueller Akt, losgelöst von Priestertum und Weihwasserzeremonien und er
verleugnete die Vorstellung einer physischen Anwesenheit Christi bei der Kommunion. Nur drei Jahre nach seiner Berufung verzichtete Zwingli auf die klerikale Stellung und arbeitete von nun an in noch engerer Verbindung mit dem Stadtmagistrat
als Laie an der Verwirklichung seiner Ideale.98 Vor dem Hintergrund der Bauernkriege erließ der Züricher Magistrat unter Zwinglis Anleitung eine neue Kirchenver-
98 Ein Problem Zwinglis war, dass seine Anhänger seine öffentlichen Darlegungen in die Tat
umsetzten. So folgten z.B. Zwinglis Kritik an der bildhaften Darstellung Gottes massive bilderstürmerische Attacken auf Kirchengut. Diese Unruhe und Gewaltsamkeit war für Zwingli,
der aufs Engste mit den zivilen Autoritäten zusammenarbeitete, ein echtes Problem (Wallace
2004: 95).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Sind protestantische Vereine und Netzwerke ein besserer Nährboden für die Demokratie als katholische Organisationen? Brauchen auch Religionen den Wettbewerb des freien Marktes ohne staatliche Einmischung, um sich kraftvoll und lebendig zu entfalten? Das Buch untersucht die demokratische und sozial integrative Wirkung katholischer, lutherischer, calvinistischer und säkularer Organisationsformen in Deutschland, der Schweiz, den Niederlanden, Dänemark, Spanien und Schottland. Dargestellt wird die gesellschaftliche und demokratische Rolle von Religion und Kirche seit den Zeiten der Reformation bis heute. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die demokratieförderliche oder aber hemmende Wirkung von Religion und Konfession als Bestandteil europäischer Zivilgesellschaften am Beginn des 21. Jahrhunderts. Auf der Basis einer international vergleichenden Organisationsstudie kontrastiert das Buch ökonomische Theorien der Religion mit dem klassischen Säkularisierungsparadigma, sowie Sozialkapitalansätze mit Organisationstheorien, die behaupten dass die kleine, dezentral organisierte Organisationsform des Protestantismus der großen, zentralistischen und hierarchischen Organisationsstruktur des Katholizismus überlegen sei.