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4. Der Blick von oben: Engagement als Resultat freier Märkte
Bisher wurden Partizipationmuster, Kompetenzniveau und Sozialkapitalausstattung
auf Organisationsmerkmale zurückgeführt. So lautete das Verdikt von Putnam oder
aber auch Verba et al. schlicht, dass katholische Organisationen als „Schule der
Demokratie“ weit weniger geeignet seien als protestantische Vereine, da die katholische Hierarchie eine echte Partizipation der Gemeindemitglieder unmöglich mache.
Die flachere, kleinere und dezentralere Organisation des Protestantismus (wie Kapitel 3 zeigte, muss hier sehr viel stärker differenziert werden) mit seiner Betonung der
Laienbeteiligung dagegen, sei hervorragend geeignet, um den aktiven Gläubigen das
Einmaleins der Demokratie nahe zu bringen. Der konfessionelle Unterschied, den
Partizipationsstudien wie die von Verba et al. nachweisen, wird auf diese unterschiedlichen Organisationsstrukturen zurückgeführt. Folgt man dieser Argumentation, so müssten die in vergleichenden Länderstudien immer wieder aufscheinenenden
massiven Unterschiede hinsichtlich Partizipationsraten und Reservoirs an Sozialkapital durch solche Merkmale erklärt werden können: weil die Vereinslandschaft
mancherorts kleiner, dezentraler und flacher organisiert ist als anderswo, werden
dort mehr Menschen zu Engagement gereizt, effizienter zivilgesellschaftliche Kompetenzen geschult und mehr Sozialkapital generiert als dort, wo die Zivilgesellschaft
durch große, hierarchisch strukturierte und zentralisierte Vereinswelten geprägt
wird. Ist das plausibel? Ist der immer wieder festzustellende skandinavische Vorteil
reduzierbar auf protestantische Organisationsstrukturen? Ist das große Defizit südeuropäischer Zivilgesellschaften erklärbar durch katholische Organisationsmodelle?
Wie kommen die massiven Unterschiede zwischen diesen beiden Extrembeispielen
zustande, wenn doch – folgt man Weber und Troeltsch – lutherische und katholische
Vereinswelten sehr ähnlich strukturiert sind? Mehr noch: wieso finden sich in vergleichenden Untersuchungen gemischt-konfessionelle Länder wie Deutschland regelmäßig irgendwo zwischen dem skandinavischen Hoch und dem südeuropäischen
Tief platziert, obwohl sie organisationsstrukturell auch nichts anderes zu bieten
haben? Die rational choice Theorie der Religion bietet eine alternative Erklärung für
solche Variationen im Ländervergleich: dort, wo der Staat die Kirchen reglementiert, ist der religiöse Markt nicht frei. Nur der „freie“ Markt führt zu religiösem
Pluralismus und der Konkurrenz zwischen verschiedenen religiösen Anbietern.
Konkurrenz erhöht die Attraktivität religiöser Angebote, daher wird im freien Markt
mehr „konsumiert“ (partizipiert) als in regulierten Märkten. Kurz gesagt: institutionelle Varianten im Verhältnis zwischen Staat und Kirche sind für die unterschiedliche Vitalität des religiösen Sektors verantwortlich.57 Interessanterweise kommen sie
57 Dass Zivilgesellschaften nicht in einem „context-free space“ existieren und ihre Form, Dichte
und demokratische Rolle von „a wide range of contextual conditions“ (Roßteutscher 2005: 6)
beeinflusst wird, ist mittlerweile Teil des Standardrepertoires jüngerer Beiträge im Kontext
Sozialkapital. Vorgeschlagen wird eine große Bandreite institutioneller Kontextbedingungen:
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dabei auch inhaltlich zu ganz anderen Schlussfolgerungen als die vergleichenden
Studien, die Sozialkapital- und Partizipationsraten insgesamt – also nicht differenziert nach religiösem und säkularem Sektor – betrachten: skandinavische Märkte
sind hoch reguliert, religiöser Pluralismus und Konkurrenz daher unterentwickelt.
Im Ergebnis sind Partizipationsraten extrem gering.
4.1 Der Unterschied zwischen Konfessionen: Marktorganisation als Kontextfaktor
In diesem Kapitel soll daher mit der rational choice Theorie der Religion ein zweiter, alternativer oder konkurrierender Theoriestrang vorgestellt werden. Wie die
Organisationstheorie geht sie davon aus, dass a) massive Partizipationsunterschiede
bestehen und b) die Konfession an sich solche Unterschiede nicht erklären kann. Im
Gegensatz zu Partizipations- und Sozialkapitaltheorien sind für sie aber auch Organisationsmerkmale irrelevant. Wie diese erhebt sie den Anspruch universaler Gültigkeit. Damit stehen beide Ansätze zunächst in direkter Konkurrenz: Wenn gewissen Organisationsmerkmalen (Größe, hierarchische Struktur) Auswirkungen auf
Ausmaß und Qualität inner-organisatorischer Partizipation zugewiesen wird, so gilt
dies unabhängig von den Makrostrukturen, in die solche Organisationen eingebettet
sind. Und umgekehrt, wenn grundlegende Prinzipien des Verhältnisses zwischen
Staat und Kirche das Ausmaß und die Qualität inner-organisatorischer Partizipation
bestimmen, so wird auf Unterschiede in der Organisationsstruktur, in der religiöses
Engagement eingebettet ist, keine Rücksicht genommen.
In diesem Kapitel soll die Argumentation der rational choice Theorie vorgestellt
werden, bevor in einem abschließenden Abschnitt herausgearbeitet wird, ob die
beiden Konkurrenten nicht auch als wechselseitige Ergänzung genutzt werden kön-
So finden z.B. Bühlmann/Freitag (2004: 344), dass die Verfügbarkeit direktdemokratischer
Beteiligungsmechanismen auf der Lokalebene Vereinsengagement fördert, da sie einerseits
die Kommunikation zwischen Mitbürgern anregen und andererseits „Anreize zur vereinsmä-
ßigen Bündelung individueller Interessen“ schaffen. Andere Autoren setzten die Lebendigkeit
der Zivilgesellschaft und den Reichtum an Sozialkapital in eine Beziehung zum Ausmaß sozialstaatlicher Arrangements (Uslaner 2003), zum Typus des Wohlfahrtsstaates (Rothstein/Stolle 2003), zur Qualität und Höhe staatlicher Unterstützung des Vereinswesens
(Skocpol et al. 2000), zu einzelnen Politikentscheidungen und der Rolle politischer Parteien
und klientelistischer Netzwerke (Huysseune 2003), zum Regierungssystem an sich
(Brehm/Rahn 1997; Levi 1996b), zur Qualität demokratischen Regierens (Misztal 1998, Offe
1999, Inglehart 1999), zur Regelhaftigkeit und Fainess demokratischen Regierens (Hadenius
2004; Rothstein 2004) oder der Wirtschaftskraft einer Region (Rothstein 2001, Gabriel et al.
2002, De Hart/Dekker 2003). Wieder andere verbinden Fragen sozialer Ungleichheit und
Machtverteilung mit Strukturen der Zivilgesellschaft (Molenaers 2005). Unendlich viele Verknüpfungen zwischen Kontextmerkmalen und bürgerschaftlichem Engagement sind denkbar,
der Phantasie sind fast keine Grenzen gesetzt. Viele jüngere Ansätze offerieren daher „context-dependent“ Versionen von Sozialkapital-Ansätzen (Diani 2004: 138, vgl. auch Roßteutscher 2005).
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nen, die gemeinsam erklären, warum Zivilgesellschaften und die religiösen Sektoren
mancher Länder vitaler, partizipativer und sozialkapitalreicher sind als die anderer
Länder.
Der Ausgangspunkt: ein Markt wie jeder andere?
Die Plausibilität der rational choice Theorie beruht zentral auf der Annahme, dass
Marktgesetze auch auf den religiösen Sektor anzuwenden sind, dieser sich also wie
jeder andere Markt durch das Zusammenwirken von Angebot und Nachfrage erklären lässt. Dabei geht die ökonomische Schule davon aus, dass Menschen ein relativ
unveränderliches Bedürfnis nach Religion verspüren. Die Nachfrage (demand-side)
nach religiösen Angeboten sei mehr oder weniger konstant, da sie durch die menschliche Natur determiniert ist – „rooted in fundamental human needs“ (Finke/Iannaccone 1993: 28)58. Um dies zu beweisen, zeigen Vertreter dieses Ansatzes, dass
zwar enorme nationale Unterschiede hinsichtlich Kirchgangshäufigkeit und Engagement in religiösen Organisationen zu finden sind, dass aber relativ hohe Prozentsätze der Bevölkerung auch in europäischen Gesellschaften – und auch in solchen
Gesellschaften, in denen die Säkularisierung anscheinend weit fortgeschritten ist –
angeben, an Gott zu glauben bzw. sich als religiöse Menschen definieren. Es gibt
demnach keine großen Unterschiede im „potential demand“; Partizipationsunterschiede beruhen auf Unterschieden bezüglich „the vitality and variety of religious
suppliers“ (Stark/Iannaccone 1994: 245). Kurz gesagt: Variationen hinsichtlich
Religiösität und religiösem Engagement sind das Resultat unterschiedlicher Angebotsstrukturen (supply-side).59
58 Ganz ähnlich klingt dies auch aus deutscher staatsrechtlicher Perspektive: „Es bewahrheitet
sich, dass Religion – verstanden im Sinne der Öffnung für und Bindung an etwas, das den
Menschen übersteigt und ihm zugleich Sinn und Halt gibt – ein Anthropologicum ersten
Ranges ist [...]“ (Hollerbach 1998: 29). Allerdings, so Riesebrodt, ist Religion zwar ein
„Grundzug des menschlichen Gattungswesen“, aber nur als Möglichkeit und nicht als Notwendigkeit (2000: 44). Soll heißen, manche wenden sich ihr zu, andere aber nicht. Unterschiede im „demand“ sind daher sehr wohl realistisch. Der Grundgedanke von Religion als
Wesensmerkmal des Menschen lässt sich bis mindestens ins 17. Jahrhundert zurückverfolgen,
als man mit dem Begriff des religio naturalis die Vorstellung ausdrückte, dass in jedem Menschen eine religiöse Anlage – jenseits der Konfessionen – vorhanden sei (Kaufmann 2000:
86).
59 Auch wenn es nicht das Thema dieser Studie ist, soll erwähnt werden, dass die rational
choice Theorie der Religion, die sich als supply-side Theorie versteht, zeigen muss, dass es in
der Tat eine konstante und nicht-veränderliche Nachfrage (demand-side) nach religiösen Angeboten gibt. Folgerichtig werden gängige Säkularisierungsthesen vehement bestritten und
die gesamte Theorie der Säkularisierung als unwissenschaftlicher, empirisch nicht zu bestätigender Mythos enttarnt (als Paradebeispiel, siehe Stark 1999). So formulieren Stark und Iannaccone: „We dispute that any European nation is very secularized. Taking this heresy even
further, we propose dropping the term secularization from all theoretical discourse, first, on
the grounds that it has served only ideological and polemical, not theoretical, functions – as
David Martin (1969) has long argued; second, because observable instances to which to apply
it seem lacking” (Stark/Iannaccone 1994: 231). In der Tat entzweit die Frage um die Gültig-
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Sie unterstellt weiterhin, dass Kunden im religiösen Markt in ihrer Motivation und
ihrem Verhalten keinen Unterschied zu Kunden nicht-religiöser Märkte aufweisen:
„In their dealings with the gods, people bargain, shop around, procrastinate, weigh
costs and benefits, skip instalment payments, and even cheat“ (Stark 1999b: 286).
Der religiöse Markt ist in dieser Perspektive ein Markt wie jeder andere, den gleichen Prozessen ausgesetzt und durch identische Variablen reglementiert, wie der
Automobilmarkt oder der Markt für Lebensmittel:
„Religious economies are like commercial economies. They consist of a market and a set of
firms seeking to serve that market. Like all market economies, a major consideration is their
degree of regulation. Some religious economies are virtually unregulated, while others are restricted to state-imposed monopolies“ (Finke/Stark 1988: 42).
Aus dieser Marktanalogie ergibt sich folglich, dass Monopole die Bedürfnisse potentieller Kunden nur unzureichend befriedigen, da sie sich keiner Konkurrenz stellen müssen, während Anbieter in einer Konkurrenzsituation marktfähige Produkte
anbieten müssen und daher zu höherem Konsum anregen:
„At the macro level, the central insight is that religious markets ought to function like other
markets in that more competition should produce a religious product that is more to the liking
of consumers. Hence religious ‚consumption’ should be higher where religious markets are
more ‚free’” (Chaves/Cann 1992: 272).
Im Folgenden werden die einzelnen Argumentationschritte detaillierter nachvollzogen, mit vorhandenen empirischen Befunden kontrastiert, auf ihre Plausibilität hin
kritisch überprüft, um schließlich einige Hypothesen hinsichtlich der Anwendbarkeit
des rational choice Rahmens für eine vergleichende Analyse europäischer religiöser
Zivilgesellschaften zu formulieren.
4.2 Staat und Kirche: zur Ineffizienz religiöser Monopole
Obwohl sich die säkularisierten Staaten der westlichen Welt heutzutage der religiösen Neutralität verpflichtet haben und die Religionsfreiheit zu den allgemein anerkannten Grundrechten gehört, haben sich historisch sehr unterschiedliche Muster des
Staat-Kirche-Verhältnisses herausgebildet, die noch heute ihre Spuren hinterlassen.
Das engste, symbiotischste Verhältnis wird durch die Konstruktion einer Staatskirche definiert. Die Staatskirche ist offizielle Religion, sie wird vom Staat rechtlich
geschützt, häufig sogar von Konkurrenz befreit (durch staatliche Regelungen, welche die Praktizierung anderer Religionen erschweren, wenn nicht sogar verhindern),
ihre Priester und professionellen Kirchendiener werden direkt oder indirekt durch
die Staatskasse finanziert, das Staatsoberhaupt ist häufig auch Oberhaupt der Staatskirche. In der rational choice Theorie der Religion gelten solche Konstrukte als ein
keit der Säkularisierungsthesen seit Martins Angriff auf die These Religionssoziologen bis
heute und führte zur Bildung zweier sich heftig streitender Lager (Gill 2002: 337; Beckford
2000; Cox 2003; eine knappe Zusammenfassung geben auch Need/Evans 2001: 231/Willems
2001: 220-226).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Sind protestantische Vereine und Netzwerke ein besserer Nährboden für die Demokratie als katholische Organisationen? Brauchen auch Religionen den Wettbewerb des freien Marktes ohne staatliche Einmischung, um sich kraftvoll und lebendig zu entfalten? Das Buch untersucht die demokratische und sozial integrative Wirkung katholischer, lutherischer, calvinistischer und säkularer Organisationsformen in Deutschland, der Schweiz, den Niederlanden, Dänemark, Spanien und Schottland. Dargestellt wird die gesellschaftliche und demokratische Rolle von Religion und Kirche seit den Zeiten der Reformation bis heute. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die demokratieförderliche oder aber hemmende Wirkung von Religion und Konfession als Bestandteil europäischer Zivilgesellschaften am Beginn des 21. Jahrhunderts. Auf der Basis einer international vergleichenden Organisationsstudie kontrastiert das Buch ökonomische Theorien der Religion mit dem klassischen Säkularisierungsparadigma, sowie Sozialkapitalansätze mit Organisationstheorien, die behaupten dass die kleine, dezentral organisierte Organisationsform des Protestantismus der großen, zentralistischen und hierarchischen Organisationsstruktur des Katholizismus überlegen sei.