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III. Moderne Auslegung des humanitären Völkerrechts
1. Bedarf für eine moderne Auslegung
Seit der Schaffung des Haager und Genfer Rechts haben verschiedene Entwicklungen eingesetzt, die Anlass geben, das oben skizzierte Regime des Besatzungsrechts
in Frage zu stellen. Die Entwicklungen haben sich in tatsächlicher Hinsicht in ver-
änderten Rahmenbedingungen niedergeschlagen. In der internationalen Ordnung,
wie sie sich gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts präsentierte, koexistierten souveräne Staaten nebeneinander. Wurde das Staatengefüge durch einen
Krieg erschüttert, so war es Bestreben des Haager Rechts, schnellstmöglich dem aus
dem aus dem Amt verdrängten Souverän den Weg für seine Rückkehr zu ebnen.339
Dies erweist sich in der modernen Welt als nicht mehr zeitgemäß. Wie eingangs
bereits erwähnt, prägt staatliches Scheitern eine Vielzahl krisengeschüttelter Regionen.340 Die Länge der Anwesenheit einer Besatzungsmacht im besetzten Staat ist
daher oftmals ungleich größer als noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts.341 In rechtlicher Hinsicht hat sich der Kreis der dem humanitären Völkerrecht zugrunde liegenden Parameter erweitert. Neben dem Grundsatz der Souveränität bilden ein elaboriertes Menschenrechtssystem sowie das Selbstbestimmungsrecht der Völker den
normativen Rahmen, innerhalb dessen sich das Handeln einer Besatzungsmacht
vollzieht. Wie gesehen, treffen sie verbindliche Vorgaben für die Organisation eines
Staates.
Im Lichte dieser Entwicklungen betrachtet erweisen sich die Regeln des humanitären Völkerrechts über die Rechtsstellung einer Besatzungsmacht zwar nicht als
obsolet. Mehr denn je besteht der Bedarf, das Hegemonialstreben einiger Großmächte zu bändigen. Zwei Grenzsituationen lassen jedoch Rufe nach einer modifizierten
Auslegung des humanitären Völkerrechts laut werden: Zum einen die Situation, dass
im besetzten Staat staatliche Strukturen zerfallen.342 Hier droht der unmittelbare
Ausbruch eines Bürgerkrieges mit einhergehenden Menschenrechtsverletzungen,
wenn nicht unmittelbar reagiert wird. Zum anderen die Situation, dass das bestehende Regime ein Unrechtsregime ist, dessen Strukturen in eklatantem Widerspruch zu
völkerrechtlich zwingenden Vorgaben stehen.343 Hier erscheint es befremdlich, eine
Besatzungsmacht zu verpflichten, im Gehäuse eines Unrechtsstaates zu agieren.344
Angesichts dieser Grenzsituationen drängt sich die Frage auf, ob im Falle einer
339 Vgl. McGurk, Va. J. Int´l L. 45 (2004 – 2005), 451 (458); Goodman (Anm. 289), S. 1591.
340 Vgl. Harris, Berkeley J. Int´l L. 24 (2006), 1 (13).
341 Vgl. Goodman (Anm. 289), S. 1592; Gasser, in: FS Fleck, 2004, S. 139 (152).
342 Vgl. auch Thürer / MacLaren, in: FS Delbrück (Anm. 330), S. 764, die zutreffend darauf
hinweisen, dass das humanitäre Völkerrecht einen funktionierenden Staatsapparat voraussetzt.
343 Vgl. Zahawi, Cal. L. Rev. 95 (2007), 2295 (2335), die Genozid und ethnische Säuberungen
als eine derartige Grenzsituation kennzeichnet.
344 Vgl. Cohen (Anm. 290), S. 500. Vgl. auch McGurk (Anm. 339), S. 459.
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derartigen humanitären Besatzung eine Erweiterung der Befugnisse einer Besatzungsmacht in Betracht kommt.
2. Einwände
Gegen eine solche Ausweitung der Befugnisse können gewichtige Einwände erhoben werden. Entscheidend sind folgende Gesichtspunkte: die Unantastbarkeit der
Autonomie des besetzten Staates und seiner Bürger, die Gefahr von Machtmissbräuchen sowie die mangelnde Legitimität der Besatzungsmacht.
a. Unantastbarkeit der Autonomie des besetzten Staates und seiner Bürger
Auch wenn ein Staat infolge einer Besatzung faktisch an der Ausübung von Herrschaftsgewalt gehindert sein kann, bewahrt er gleichwohl de jure seinen Status als
souveräner Staat.345 Zwar ist diese Souveränität zweckgebunden, indem sie der Aufrechterhaltung einer Ordnung dient, deren Züge grob durch das Völkerrecht vorgezeichnet sind. Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass einem Staat
weitgehende Autonomie zugestanden wird. Ebenso wird seinen Bürgern durch das
Selbstbestimmungsrecht und die Menschenrechte ein Autonomieanspruch gewährt.
Die Souveränität, das Selbstbestimmungsrecht und die Menschenrechte bilden ein
Schutzschild gegen die Oktroyierung von Werten, die nicht universal konsentiert
sind.346 Eine erweiternde Auslegung des humanitären Völkerrechts darf diese Autonomieansprüche nicht unterwandern.
b. Missbrauch
Eine humanitäre Besatzung setzt die Machtasymmetrie347 zwischen Besatzungsmacht und besetztem Staat voraus. Dies folgt zwingend aus dem Umstand, dass es
sich um eine Form der externen Intervention handelt, die gegen den Willen des besetzten Staates geschieht. Angesichts dieses Machtgefälles wird zum Teil eine enorme Missbrauchsgefahr moniert. So sei es kaum zu vermeiden, dass eine Besatzungsmacht während der Dauer der militärischen Besatzung erheblich auf die Strukturen im besetzten Staat Einfluss zu nehmen versuche.348 Eine Ausweitung ihrer
345 Vgl. Imseis (Anm. 336), S. 92.
346 Vgl. Koskenniemi, Harv. Int´l L. J. 32 (1991), 397 (407).
347 Zum Verhältnis von Machtasymmetrie und Zwang vgl. allgemein Krasner (Anm. 34), S. 37.
348 Vgl. Oeter (Anm. 14), S. 49; Scheffer, Am. J. Int´l L. 97 (2003), 842 (851); Benvenisti (Anm.
336), S. 24.
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Befugnisse schaffe den Nährboden für neo-imperialistische Bestrebungen und ebne
den Weg für ein hegemonial geprägtes Völkerrecht.349
Bei der Auseinandersetzung mit diesem Argument ist zwischen zwei Ebenen sauber zu trennen. Der Hinweis auf eine mögliche Missbrauchsgefahr stellt nicht die
Berechtigung eines modifizierten Regimes als solches in Abrede. Schließlich zeichnet sich ein Missbrauch gerade dadurch aus, dass die rechtlichen Vorgaben verletzt
werden. Würde sich ein Staat in diesem Fall auf das entsprechende Regime berufen,
änderte dies nichts an der Rechtswidrigkeit seiner Maßnahme.350 Das Missbrauchsargument betrifft somit nicht den Inhalt einer Norm, sondern ihre Anwendung in der
Rechtswirklichkeit. Es kann einer Norm entgegengehalten werden, die Anreize dazu
setzt, die gezogenen Grenzen zu überschreiten. Dies geschieht typischerweise dann,
wenn in einem bestimmten Bereich zuvor ein umfassendes Verbot existierte und mit
der Gewährung einer Kompetenz erstmals eine bestimmte Hemmschwelle überschritten wird. Missbrauchsgefahren bestehen zudem dann, wenn keine Sanktionen
für pflichtwidriges Verhalten bestehen. Vor diesem Hintergrund erscheint es wenig
überzeugend, einer Ausweitung der bestehenden Kompetenzen im humanitären
Völkerrecht kategorisch unter Hinweis auf Missbrauchsgefahren entgegenzutreten.
Vielmehr kann nur ein konkreter Vorschlag einer Prüfung auf etwaige Missbrauchsgefahren in der Rechtspraxis unterzogen werden.
c. Mangelnde Legitimität
Schließlich wird als Einwand gegen eine Erweiterung der Befugnisse die mangelnde
Legitimität der Besatzungsmacht und eines von ihr initiierten Reformprozesses
geltend gemacht.351 Insbesondere drohe eine von außen oktroyierte Ordnung als
einseitig und parteiisch wahrgenommen zu werden.
aa. Begriff
Legitimität hängt nach diesem Verständnis entscheidend von der Anerkennungswürdigkeit einer Herrschaftsordnung aus Sicht der Herrschaftsunterworfenen ab.352
Damit misst dieser Legitimitätsbegriff zum einen der subjektiven Wahrnehmung der
Herrschaftsordnung Bedeutung bei. Zum anderen werden auch moralische Prinzipien als Maßstab der Herrschaftskontrolle herangezogen. Es ist fraglich, ob ein der-
349 Vgl. Cohen (Anm. 290), S. 521.
350 Vgl. Zygojannis (Anm. 4), S. 55, bei der Beurteilung humanitärer Interventionen. Dieser lässt
jedoch die zweite Ebene außer Betracht, die sogleich näher erläutert wird.
351 Vgl. Harris (Anm. 340), S. 11 ff. Vgl. auch Oeter (Anm. 14), S. 47.
352 Vgl. allgemein zu Legitimitätsbegriffen im Völkerrecht Wolfrum, Legitimacy in International
Law, 2008, S. 1 ff.
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artiger Legitimitätsbegriff im Rahmen einer rechtlichen Diskussion überhaupt Gültigkeit beanspruchen kann.
Einige Autoren verneinen dies. Prominenter Vertreter ist Carl Schmitt, demzufolge die Billigungswürdigkeit von Herrschaft allein an rechtlichen Maßstäben gemessen werden kann.353 Der Begriff der Legitimität hat nach der Ansicht von Carl
Schmitt neben der Legalität mithin keine eigenständige Berechtigung. Vertreter der
Gegenansicht sehen dies anders.354 Sie halten eine Kontrolle von Herrschaft an sittlichen Prinzipien für zulässig. Nach ihrer Ansicht kommt der Legitimität eigenständige Bedeutung zu.
Zweifelsohne ist die Entscheidung zwischen diesen zwei Ansichten zu einem wesentlichen Teil davon beeinflusst, welcher rechtsphilosophischen Denkschule man
sich anschließt. Vertreter der Naturrechtslehre betrachteten Recht als unverfügbar.
Das innerhalb einer bestimmten Herrschaftsordnung geltende positive Recht muss
ihrer Ansicht nach stets auf seine Vereinbarkeit mit verfassungstranszendenten Primärnormen überprüft werden.355 Vertreter des Rechtspositivismus wollen die Geltung von Normen demgegenüber lediglich auf ihre positive Setzung zurückführen.
Sie lehnen es grundsätzlich ab, Herrschaft an sittlichen Maßstäben zu messen.356
Unabhängig davon, welcher der beiden Schulen man folgt, finden sich jedoch auch
völkerrechtsimmanente Gründe, die es rechtfertigen, Herrschaft auf ihre Anerkennungswürdigkeit zu überprüfen. Zunächst ist hervorzuheben, dass ein Korrespondenzverhältnis von Sein und Sollen Anspruch einer jeglichen Rechtsordnung ist.357
Voraussetzung für die Effektivität einer Norm ist die Fügsamkeit der Normunterworfenen. Diese Akzeptanz wird unter anderem dadurch bewirkt, dass die Adressaten einer Norm von ihrer Richtigkeit überzeugt sind und sie daher internalisieren.358
Schon aus diesem Grund ist die Anerkennungswürdigkeit von Herrschaft aus rechtlicher Sicht relevant. Hinzu kommt, dass das Völkerrecht die Akzeptanz der Herrschaftsunterworfenen explizit fordert. Namentlich das Selbstbestimmungsrecht und
die Menschenrechte bringen dies zum Ausdruck. Das Völkerrecht reflektiert insoweit die neuralgischen Normen der Moral. Dies lässt die Notwendigkeit einer ver-
353 Vgl. nur C. Schmitt, Legalität und Legitimität, 1932, S. 14.
354 Vgl. Milano, Unlawful Situations in International Law, 2006, S. 17; Würtenberger, Die
Legitimität staatlicher Herrschaft, 1973, S. 22; Haaland Matlary, Values and Weapons –
From Humanitarian Intervention to Regime Change, 2006, S. 13; Mögelin (Anm. 12), S. 82;
Schliesky (Anm. 53), S. 160; Buchanan (Anm. 24), S. 235. Ähnlich auch Clark, Legitimacy
in International Society, 2005, S. 7 ff.
355 Vgl. zum Begriff Naturrecht Ellscheid, in: Kaufmann / Hassemer / Neumann (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 7. Aufl. (2004), S. 153 (162).
356 Vgl. Schliesky (Anm. 53), S. 167 f.
357 Vgl. H. Hofmann, Legitimität und Rechtsgeltung, 1977, S. 32, der die Wirksamkeit einer
Norm als aposteriorische Bedingung ihrer Geltung bertrachtet.
358 Vgl. T. Franck, in: Hathaway / Koh (Hrsg.), Foundations of International Law and Politics,
2005, S. 152 (152); H. Hofmann a. a. O., S. 32 f.; Hurd, in: Hathaway / Koh (Hrsg.), Foundations of International Law and Politics, 2005, S. 144 (146 ff.); Würtenberger (Anm. 354), S.
18; Saladin, Wozu noch Staaten?, 1995, S. 191 f.
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fassungstranszendenten Legitimitätsprüfung verblassen.359 Zusammenfassend ist
somit zu konstatieren, dass das Völkerrecht die Legitimität von Herrschaftsgewalt
verlangt; es ist gleichzeitig Voraussetzung und Maßstab legitimer Gewalt.360
bb. Legitimitätsdefizite
Legitimitätsdefizite können zum einen den Ursprung der Herrschaftsgewalt, zum
anderen die Art und Weise ihrer Ausübung betreffen.361 Da eine Besatzungsmacht
ihre Rechtsstellung lediglich einem faktischen Umstand verdankt, kann bereits die
Legitimität des Ursprungs ihrer Herrschaftsgewalt in Zweifel gezogen werden. Es
besteht kein rechtliches Band, das eine Verknüpfung zwischen Volkswillen und
Entscheidung einer Besatzungsmacht schafft. Die Gefahr, dass die Interessen von
Besatzungsmacht und besetztem Staat divergieren, ist daher groß.
Der Interessenkonflikt zwischen Besatzungsmacht und besetztem Staat lässt sich
anhand eines Staatsverständnisses veranschaulichen, das von Gedankengut des Utilitarismus sowie der Rational Choice-Theorie beeinflusst ist.362 Hiernach liegt es in
der Natur der Staaten, gleich einem homo oeconomicus ihren eigenen Nutzen zu
maximieren. Entsprechende Ansätze finden sich in der Politikwissenschaft unter
Realisten und Institutionalisten.363 Ihnen ist entgegenzuhalten, dass sie zu sehr die
normativen Bindungen aus dem Blick verlieren, denen Staaten unterliegen. So ist es
grundlegendes Postulat der liberalistischen Theorie, dass Staaten bei der Ausübung
von Hoheitsgewalt in Einklang mit dem Willen der betroffenen Bevölkerung handeln und individuelle Freiheitssphären achten.364 Auch Liberalisten können jedoch
nicht in Abrede stellen, dass Staaten in Verfolgung eigener Interessen handeln.365
Rechtliche Bindungen sind gerade erforderlich, um ihr Verhalten zu lenken.
Geht man davon aus, dass Legitimitätsdefizite immer dann entstehen können,
wenn ein Interessenkonflikt zwischen Besatzungsmacht und besetztem Staat droht,
so folgt hieraus, dass die Legitimität der Besatzungsmacht dann nicht in Frage gestellt werden kann, wenn das Völkerrecht eine zwingende Vorgabe trifft. Wenn
nämlich ein bestimmter Zustand völkerrechtlich verpflichtend ist, kommt es nicht
darauf an, welcher Akteur diesen Zustand herbeiführt. Das Völkerrecht lässt somit
keinen Raum für etwaige Interessenkonflikte.
359 Vgl. H. Hofmann a. a. O., S. 77.
360 Vgl. Fink (Anm. 23), S. 338; Thürer, in: FS Pernthaler (Anm. 21), S. 387. Vgl. auch Isensee,
JZ 54 (1999), 265 (277).
361 Vgl. D´ Aspremont, N.Y.U. J. Int´l L. & Pol. 38 (2006), 877 (881). Vgl. auch Clark (Anm.
354), S. 18.
362 Vgl. hierzu Perrez, Cooperative Sovereignty, 2000, S. 177 ff., sowie Hathaway / Koh, Foundations of International Law and Politics, 2005, S. 26.
363 Vgl. hierzu Taubman, N.Y.U. J. Int´l L. & Pol´y 27 (2004), 161 (169 ff.).
364 Vgl. Taubman a. a. O., S. 172.
365 Vgl. hierzu Taubman a. a. O., S. 176.
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3. Dogmatische Ansätze
In der Literatur werden verschiedene dogmatische Ansätze diskutiert, die versprechen, einen Ausgleich zwischen den genannten Belangen zu schaffen.
a. Besatzung als Treuhandverhältnis
Von Gerson stammt der Vorschlag, das Institut der Treuhand (trusteeship) zu bemühen, um das Verhältnis zwischen Besatzungsmacht und besetztem Staat in geordnete
Bahnen zu lenken.366 Unter einem Treuhandverhältnis versteht man die Verwaltung
und Ausübung der Rechte einer Person (Treugeber) durch eine andere Person (Treuhänder) im eigenen Namen unter Wahrung von rechtlichen Bindungen gegenüber
dem tatsächlich Berechtigten.367 Der Treuhänder übt somit Rechtsmacht im Interesse
des Treugebers aus. Der Umstand, dass auch eine Besatzungsmacht im Interesse der
im besetzten Gebiet ansässigen Bevölkerung tätig werden muss, rechtfertigt in den
Augen von Gerson die Übertragung des Rechtsinstituts Treuhand. Ergänzend begründet dieser seine Ansicht unter Hinweis darauf, dass es einer Besatzungsmacht
nicht verwehrt bleiben könne, im besetzten Gebiet Änderungen vorzunehmen, die
der hier ansässigen Bevölkerung zum Vorteil gereichen. Eine teleologische Auslegung des humanitären Völkerrechts lasse das Gebot zur Wahrung des status quo ante
in diesem Fall obsolet werden.
Gerson konnte insofern einige Anhänger für seinen Ansatz gewinnen, als manche
Autoren das Verhältnis zwischen Besatzungsmacht und besetztem Staat ebenfalls als
treuhänderisch charakterisieren.368 Hervorzuheben ist jedoch, dass diese Autoren das
Institut der Treuhand in rein deskriptiver Weise verwenden, nicht hingegen, um
hieraus Schlüsse über die Befugnisse einer Besatzungsmacht zu ziehen. Indem sie
darauf hinweisen, dass die Besatzungsmacht ihre Befugnisse im Interesse des besetzten Staates und seiner Bevölkerung ausüben muss, wiederholen sie lediglich eine
grundlegende Prämisse des Besatzungsrechts.
Der Ansatz von Gerson geht hierüber hinaus. So möchte Gerson das Institut der
Treuhand auch als normative Quelle heranziehen, um eine erweiterte Rechtsstellung
der Besatzungsmacht zu verteidigen.369 Dieser Vorschlag begegnet schweren Bedenken: zunächst ist darauf hinzuweisen, dass es für eine Besatzungsmacht schier
unmöglich ist, ihre Befugnisse im Interesse der Bevölkerung des besetzten Staates
auszuüben. Grund ist, dass sich die Präferenzen einer heterogenen Bevölkerungs-
366 Vgl. Gerson, Harv. Int´l L. J. 14 (1973), 1 (40).
367 Vgl. Tilch / Arloth, Deutsches Rechtslexikon, 3. Aufl. (2001), S. 4190.
368 Vgl. zum Beispiel Boon (Anm. 313), S. 294; Feldman, What we owe Iraq, 3. Aufl. (2006), S.
57 ff. Vgl. zum politischen Konzept des sogenannten neotrusteeship Fearon / Laitin, Int´l Security 28 (2004), 5 (7 ff.). Vgl. allgemein auch Wilde, International Territorial Administration, 2008, S. 317 ff.
369 Vgl. hierzu auch Perrit (Anm. 243), S. 414 f.
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gruppe nicht eindeutig ermitteln lassen. In einem demokratischen Staatswesen wird
dieses Organisationsproblem dadurch gelöst, dass Volksvertreter die Interessen der
Bevölkerung repräsentieren und ihren Entscheidungen zugrundelegen. Eine Besatzungsmacht kann diese Funktion jedoch nicht wahrnehmen.370 Sie genießt nicht die
Vermutung der Unparteilichkeit und Objektivität, die zur Vertretung der Interessen
erforderlich wäre.371 Dies beruht zum einen darauf, dass sie ihre Rechtsposition
nicht einer Wahl, sondern einem rein faktischen Umstand, nämlich der Ausübung
von Hoheitsgewalt, verdankt.372 Zum anderen besteht nicht die Aussicht, dass eine
Besatzungsmacht in einem bestimmten Territorium ein zweites Mal Hoheitsgewalt
ausüben wird. Im Unterschied zu einer gewählten Regierung werden ihr keine Anreize gesetzt, sich gegenüber den Bürgern im besetzten Staat zu bewähren.373
Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, dass Sicherungs- und Kontrollmechanismen konstitutives Element eines jeglichen Treuhandverhältnisses sind. So existierte
auch unter dem Treuhandsystem der Vereinten Nationen mit dem Treuhandrat ein
Organ, dessen Aufgabe darin bestand, über die Verwaltung der Treuhandgebiete zu
wachen. Vergleichbare Sicherungsmechanismen bestehen im Fall der kriegerischen
Besatzung jedoch nicht.374 Zwar wird zum Teil geltend gemacht, Meinungs- und
Versammlungsfreiheit böten ausreichend Schutz.375 Dem ist jedoch zu entgegnen,
dass diese kommunikativen Menschenrechte nur in einer gut funktionierenden Demokratie sicherstellen, dass der Stimme des Volkes Ausdruck verliehen wird. In
einer Situation, in der eine Bindung der Besatzungsmacht an den Willen des Volkes
institutionell nicht abgesichert ist, vermögen sie demgegenüber nicht ausreichenden
Schutz zu gewährleisten.376
In rechtlicher Hinsicht erweist sich Gersons Argument überdies als petitio principii. Gerson bemüht die Figur des Treuhandverhältnisses, um Kompetenzen einer
Besatzungsmacht zu begründen. Ein Treuhandverhältnis kommt jedoch überhaupt
erst dadurch zustande, dass dem Treuhänder entsprechende Kompetenzen übertragen
werden. Es beinhaltet keinen eigenen, unabhängigen Kompetenztitel. Das Institut
der Treuhand kann daher lediglich zur Veranschaulichung einzelner Befugnisse
einer Besatzungsmacht herangezogen werden; es erweitert nicht ihre Rechtsstellung.377
370 Als in der Praxis kaum realisierbar erweist sich auch der Vorschlag von Parameswaran
(Anm. 319), S. 179, dieses Manko durch Errichtung eines Mechanismus zur Partizipation der
Bevölkerung zu überwinden.
371 Vgl. oben S. 85 f.
372 Vgl. Feldman (Anm. 368), S. 64.
373 Vgl. Feldman a. a. O., S. 65.
374 Vgl. Wolfrum, Max Planck UNYB 9 (2005), 649 (672). Vgl. auch Fearon / Laitin (Anm.
368), S. 34.
375 Vgl. Feldman (Anm. 368), S. 66.
376 Vgl. Bâli, Yale J. Int´l L. 30 (2005), 431 (470).
377 Ähnlich Greenwood, in: Playfair (Anm. 306), S. 251; McCarthy (Anm. 276), S. 46.
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b. Multilaterale Besatzungen
Unter dem Eindruck des internationalen Engagements im Irak, Kosovo und in Afghanistan verheißt Harris eine neue Ära multilateraler Besatzungen.378 Kennzeichen
derartiger Besatzungen sei es, dass auf die Strukturen im besetzten Staat eingewirkt
werde, um die Lebensbedingungen der Bevölkerung zu verbessern und internationalen Vorgaben zur Geltung zu verhelfen. Da diese Aufgabe jedoch nur schwer allein
bewältigt werden könne, sähen sich Besatzungsmächte dazu veranlasst, weitere
Akteure hinzuzuziehen. Insbesondere die Vereinten Nationen würden häufig involviert. Die Multilateralisierung erlaube es, auf gemeinsame Ressourcen der Beteiligten zurückzugreifen und die Verantwortung zu teilen. Auf diese Weise werde nicht
nur die Effektivität, sondern auch die Legitimität der Besatzung erhöht.379 Harris
stellt nicht in Abrede, dass eine derartige Form multilateraler Besatzungen weder auf
das humanitäre Völkerrecht gestützt werden kann noch dem Völkergewohnheitsrecht entspricht. In seinen Augen handelt es sich bei multilateralen Besatzungen
jedoch um eine Realität, derer man sich nicht verschließen könne. Insbesondere sei
es unwahrscheinlich, dass das humanitäre Völkerrecht in Zukunft reformiert werde.
Es empfehle sich daher die Anerkennung des De facto-Regimes multilateraler Besatzungen unter Beibehaltung einzelner weiterhin relevanter Normen des humanitären Völkerrechts sowie der Menschenrechte.380
Dieser Ansicht ist zuzugestehen, dass multilaterale Besatzungen, wie sie in den
letzten Jahren das Weltgeschehen geprägt haben, ein Novum im Völkerrecht darstellen. Sie lassen kaum noch Züge des humanitären Völkerrechts in seiner ursprünglichen Form erkennen. Differentia specifica dieser friedenskonsolidierenden Maßnahmen ist jedoch nicht ihre Multilateralität, sondern ein konkretes Mandat des
Sicherheitsrates. Besatzungen, die eines eindeutigen UN-Mandates entbehrten, haben demgegenüber heftige Diskussionen entfacht.381 Prominentestes Beispiel ist die
Transformation des Irak, deren Beurteilung einem gesonderten Teil im Rahmen der
vorliegenden Arbeit vorbehalten bleiben soll.382 Soweit die Forcierung eines Regimewechsels unter Beteiligung weiterer Akteure befürwortet wird, scheint diese
Ansicht auf ein Argument zu rekurrieren, das im Zusammenhang mit der gewaltsamen humanitären Intervention erörtert wird. So wird in der Literatur als Kriterium
für die Rechtmäßigkeit einer humanitären Intervention häufig darauf hingewiesen,
dass nur ein kollektives Vorgehen Legitimität genießen könne.383 Allerdings handelt
es sich um eine Voraussetzung, die für einen Kriterienkatalog de lege ferenda erör-
378 Vgl. Harris (Anm. 340), S. 12 ff.
379 Vgl. Harris a. a. O., S. 38.
380 Vgl. Harris a. a. O., S. 78.
381 Dieser Einsicht scheinen sich freilich einige wenige Autoren zu verschließen, die ohne besonderen Begründungsaufwand argumentieren, unilaterale transformative Besatzungen seien
völkergewohnheitsrechtlich anerkannt. Vgl. z.B. Yoo (Anm. 286), S. 13; Lancaster, Mil. L.
Rev. 189 (2006), 51 (52).
382 Vgl. hierzu unten S. 143 ff.
383 Vgl. Wellhausen (Anm. 4), S. 244. Vgl. auch Zygojannis (Anm. 4), S. 105.
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tert wird. Sie entspricht nicht dem geltenden Völkerrecht. Aus diesem Grund erscheint es wenig überzeugend, den Typus multilaterale Besatzung als Neuerrungenschaft des Völkerrechts zu proklamieren.
c. Grundsätze der debellatio
Vereinzelt geblieben ist ebenfalls der Vorschlag, die Grundsätze der debellatio im
Lichte moderner Entwicklungen zur Anwendung kommen zu lassen. Die debellatio
bot im klassischen Völkerrecht nach der vollständigen Niederringung eines feindlichen Staates einen Titel für die Annexion desselben.384 Als Minusmaßnahme bestand das Recht, umfassende Strukturänderungen im besetzten Staat vorzunehmen.
So werden die nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland ergriffenen transformativen Maßnahmen teilweise unter Hinweis auf die Grundsätze über die debellatio zu
rechtfertigen versucht.385
Obwohl der umfassende Geltungsanspruch des humanitären Völkerrechts eine
derartige Rechtsfigur hat obsolet werden lassen386, wollen einige Autoren einzelne
ihrer Facetten auch heute noch fruchtbar zu machen. So argumentiert Heintschel von
Heinegg, die debellatio habe zwar ihre Berechtigung als Titel zur Annexion verloren. Liege jedoch ihr Tatbestand vor, sei eine Modifikation des Besatzungsrechts
geboten. Im Ergebnis müsse eine Besatzungsmacht zur Vornahme umfassender
Strukturänderungen im besetzten Staat berechtigt sein.387 Dies gelte nur dann nicht,
wenn der Sicherheitsrat etwas anderes mandatiere. Auch wenn er sich als Kritiker
der debellatio geriert, ist zu bemerken, dass Heintschel von Heinegg einer Besatzungsmacht beträchtliche Befugnisse zugesteht. Eine derartige Vermutung für die
Existenz weit reichender Rechte erscheint ohne weitere Begründung kaum überzeugend.
Ein anderer Vorschlag wird dahingehend gemacht, die Rechtsfigur der debellatio
in den Schranken der Menschenrechte und des Selbstbestimmungsrechts erneut zur
Geltung zu bringen.388 Das humanitäre Völkerrecht stehe dem nicht entgegen, da es
keine Regelungen für den Fall treffe, dass eine der am Konflikt beteiligten Parteien
den rechtlichen Titel über den besiegten Staat erlangt habe.389 Diese Ansicht ver-
384 Vgl. Schweisfurth, in: Bernhardt (Hrsg.), Encyclopedia of Public International Law, Bd. II,
1995, S. 582 (586 f.). Es ist darauf hinzuweisen, dass das Institut der debellatio verschiedene
Ausprägungen hat.
385 Vgl. Bhuta (Anm. 312), S. 734; Benvenisti (Anm. 288), S. 93; Patterson, Harv. Int´l L. J. 47
(2006), 467 (475); Sassoli (Anm. 275), S. 672. Dies ist im Einzelnen jedoch sehr umstritten.
Die völkerrechtliche Diskussion um den Status Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg
soll und kann hier nicht wiedergegeben werden. Für eine Darstellung anderer Ansichten vgl.
nur Wright, Am. J. Int´l L. 46 (1952), 299 (299 ff.).
386 Vgl. Harris (Anm. 340), S. 20.
387 Vgl. Heintschel von Heinegg (Anm. 331), S. 863.
388 Vgl. Patterson (Anm. 385), S. 476 ff.
389 Vgl. Patterson a. a. O., S. 479.
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sucht somit, die Rechtsfigur der debellatio nicht nur faktisch, sondern unmittelbar
zur Geltung kommen zu lassen. Es mutet befremdlich an, wenn gleichzeitig suggeriert wird, in ihrer modernen Ausprägung setze die Doktrin einer Besatzungsmacht
enge Schranken.390 Tatsächlich stellt auch diese Ansicht eine Vermutung für umfassende Befugnisse einer Besatzungsmacht auf, die in den Menschenrechten und im
Selbstbestimmungsrecht eine nur unzureichende Grenze findet.
Beide Ausprägungen dieser Ansicht vermögen somit nicht zu überzeugen. Ihr historischer Bezug zum Recht der freien Kriegsführung und zur Annexion391 lassen die
debellatio als Anachronismus erscheinen. Jedwede Versuche, diese Rechtsfigur
wiederzubeleben, negieren die Existenz und Autonomie des besetzten Staates.
d. „Human rights exception“
Mehrere Autoren befürworten schließlich unter Rückgriff auf die Menschenrechte
eine Durchbrechung des im Haager und Genfer Recht verankerten Kontinuitätsprinzips.392 Ausgangspunkt dieser Ansicht ist die Prämisse, dass Staaten bei extraterritorialem Agieren nicht nur den Bindungen des humanitären Völkerrechts, sondern
auch menschenrechtlichen Verpflichtungen unterliegen. Die Menschenrechte beschränken sich nicht darauf, Staaten ein bestimmtes Verhalten zu untersagen. Vielmehr können sie in ihrer positiven Dimension auch zur Vornahme bestimmter Handlungen verpflichten. In den Augen dieser Vertreter rechtfertigt dies, im besetzten
Staat vom Grundsatz des Respekts der Rechtsordnung abzuweichen.
Uneinigkeit besteht indes darüber, auf welche Art und Weise Menschenrechte in
einer Besatzungssituation zur Geltung kommen können. Während einige Autoren
eine denkbar weite Implementierung menschenrechtlicher Vorgaben durch eine
Besatzungsmacht befürworten, will ein anderer Teil dies nur in eingeschränktem
Umfang zulassen. Wiederum andere lehnen eine unmittelbare Umsetzung menschenrechtlicher Vorgaben im besetzten Staat ab. Nach dieser Auffassung können
menschenrechtliche Wertungen jedoch mittelbar dadurch zur Geltung kommen, dass
sie die Auslegung des humanitären Völkerrechts beeinflussen.
390 Vgl. Patterson a. a. O., S. 486 f.
391 Vgl. Meyn, in: Bernhardt (Hrgs.), Encyclopedia of Public International Law, Bd. I, 1992, S.
969 (970).
392 Vgl. Benvenisti, Isr. L. Rev. 26 (1992), 24 (31 f.); Lorenz, Der territoriale Anwendungsbereich der Grund- und Menschenrechte, 2005, S. 94; Jung, Denver J. Int´l L. & Pol´y 33 (2004
– 2005), 391 (407); Sassoli (Anm. 275), S. 677 ff.; Ben-Naftali / Shany, Isr. L. Rev. 37 (2003
– 2004), 17 (104 ff.); Goodman (Anm. 289), S. 1600 ff., sowie Gillard, in: Coomans / Kamminga (Hrsg.), Extraterritorial Application of Human Rights Treaties, 2004, S. 25 (36). Vgl.
auch den Vorschlag Kollers, Harv. Int´l L. J. 46 (2005), 231 (263), eines human rights based
law of war. Vgl. auch Migliazza, RCADI 137 (1972), Bd. III, 149 (224) zur erweiterten Auslegung von Art. 43 HLKO.
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aa. Umfassende Durchsetzung menschenrechtlicher Vorgaben
Zu den Verfechtern einer möglichst weitgehenden Implementierung menschenrechtlicher Vorgaben gehören Benvenisti und Lorenz. Nach der Ansicht von Benvenisti
hat eine Besatzmacht das Recht, im Einklang mit internationalen Standards Maßnahmen zu ergreifen, die dem Wohlbefinden der hier ansässigen Bevölkerung zu
Gute kommen.393 Das humanitäre Völkerrecht berechtige daher grundsätzlich zur
Implementierung der menschenrechtlich verpflichtenden Vorgaben. Benvenisti fügt
ergänzend hinzu, dass eine Besatzungsmacht sogar dazu verpflichtet sein könne, in
Berichten an die zuständigen Vertragsausschüsse Rechenschaft über die Implementierung der menschenrechtlichen Vorgaben abzulegen. Zwar sei die Besatzungsmacht nicht souverän. Ihr obliege jedoch die Berichterstattung, da sie für die Gewährleistung der Menschenrechte im von ihr kontrollierten Gebiet zuständig sei.394
Eine ähnlich weite Auffassung vertritt Lorenz.395 Dieser plädiert für eine umfassende Bindung einer Besatzungsmacht an menschenrechtliche Vorgaben. Zur Begründung weist er auf das Namibia-Gutachten des IGH.396 Gegenstand dieses Gutachtens war die Besatzung Namibias durch Südafrika. Der Gerichtshof hatte diese
für rechtswidrig erklärt und ausgeführt, den Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen
sei es verwehrt, Verträge zu vollziehen, die Südafrika im Namen Namibias geschlossen hatte. Eine Ausnahme gelte für humanitäre Verträge.397 Dieses Diktum
des Gerichtshofs kann in den Augen von Lorenz verallgemeinert werden. Lorenz
schließt aus den Ausführungen des IGH, dass eine Besatzungsmacht stets dazu befugt sei, Verträge mit humanitärem Charakter auf fremdem Territorium zu vollziehen. Dies gelte erst recht, da die Rechtsordnung im besetzten Gebiet rechtstechnisch
eine solche der Besatzungsmacht sei. Es ist hervorzuheben, dass es nach der Ansicht
von Lorenz zu keinen Kollisionen von Menschenrechten und humanitärem Völkerrecht kommt. Denn die Verwirklichung des Menschenrechtsschutzes stellt in seinen
Augen ein zwingendes Hindernis im Sinne von Art. 43 HLKO dar, das den Respekt
der Rechtsordnung im besetzten Staat entbehrlich macht.398
bb. Eingeschränkte Durchsetzung menschenrechtlicher Vorgaben
Andere Autoren lehnen eine umfassende Durchsetzung menschenrechtlicher Verpflichtungen ab. So argumentiert Krieger, es könne zu Kollisionen zwischen Men-
393 Vgl. Benvenisti a. a. O., S. 31 f.
394 Vgl. Benvenisti a. a. O., S. 32.
395 Vgl. Lorenz (Anm. 392), S. 94.
396 Vgl. Lorenz a. a. O., S. 94.
397 Legal Consequences for States of the Continued Presence of South Africa in Namibia (South
West Africa) notwithstanding Security Council Resolution 276 (1970) (Anm. 86), S. 55.
398 Vgl. Lorenz (Anm. 392), S. 93.
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schenrechten und humanitärem Völkerrecht kommen.399 Aus diesem Grund könnten
Menschenrechte nur in eingeschränktem Maß im besetzten Staat implementiert
werden. Insbesondere müssten dem weiten Ermessensspielraum der Staaten bei der
Umsetzung ihrer Pflichten durch das humanitäre Völkerrecht Grenzen gesetzt werden. Als Beispiel führt sie an, dass ein Staat in Umsetzung seiner menschenrechtlichen Pflichten nicht den Status von Beamten oder Richtern antasten dürfe, da dies
mit dem in Art. 54 IV. Genfer Konvention verankerten Verbot unvereinbar sei.400
Eine ähnliche Position vertritt Fox.401 Auch Fox befürwortet eine Umsetzung
menschenrechtlicher Vorgaben im Rahmen einer Besatzung. Die uneingeschränkte
extraterritoriale Anwendung positiver Menschenrechtsverpflichtungen führt in seinen Augen jedoch zu einer Kollision mit dem bewahrenden Charakter des humanitären Völkerrechts und dem dahinter stehenden Selbstbestimmungsrecht der Völker.
Insbesondere drohe die Gefahr, dass eine vollständige Transformation des besetzten
Staates unter Hinweis auf die Menschenrechte gerechtfertigt würde. Eine solche
Oktroyierung eigener Standards sei aus der Perspektive des humanitären Völkerrechts betrachtet schlichtweg nicht hinnehmbar. Den Konflikt zwischen Menschenrechten und humanitärem Völkerrecht will Fox durch eine restriktive Anwendung
der Menschenrechte lösen.402 So weist er zunächst darauf hin, dass allein international konsentierte Menschenrechte Maßstab für das Handeln einer Besatzungsmacht
sein können. Gesetze des besetzten Staates, die in klarem Widerspruch zu derartigen
menschenrechtlichen Standards stehen, dürften von einer Besatzungsmacht abgeschafft werden. In Ausnahmefällen sei eine Besatzungsmacht auch dazu berechtigt,
neue Gesetze oder Institutionen zu schaffen. Diese gelte jedoch nur, wenn auf diese
Weise unmittelbar einer Verletzung von Menschenrechten Abhilfe geschaffen werde. Der bloße Verweis auf potentielle künftige Menschenrechtsverletzungen oder
Effizienzerwägungen demgegenüber rechtfertigen seiner Ansicht nach ein derartiges
Vorgehen nicht.
Sassoli betrachtet den Ermessensspielraum bei der Umsetzung von positiven
Pflichten als kritischen Punkt.403 Er weist zutreffend darauf hin, dass grundsätzlich
verschiedene Wege existieren, um menschenrechtlichen Verpflichtungen nachzukommen. Es bestehe damit ein Ermessensspielraum hinsichtlich der Wahl des geeigneten Mittels. Die Ausfüllung dieses Ermessensspielraumes obliege jedoch
grundsätzlich allein dem besetzten Staat. Einer Besatzungsmacht sei es daher in der
Regel verwehrt, an die Stelle eines besetzten Staates zu treten und dessen Ermessen
auszuüben. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz sei nur dann geboten, wenn die
Strukturen im besetzten Staat eindeutig in Widerspruch zu internationalen Menschenrechtsstandards stehen. In dieser Situation dürfe auch eine Besatzungsmacht
unter Berufung auf ihre menschenrechtlichen Verpflichtungen regulative Maßnah-
399 Vgl. Krieger, J. Conflict & Security L. 11 (2006), 265 (282 ff.).
400 Vgl. Krieger a. a. O., S. 284. Vgl. zu Art. 54 IV. Genfer Konvention unten S. 164 f.
401 Vgl. Fox, Geo. J. Int´l L. 36 (2005), 195 (272 ff.).
402 Vgl. Fox a. a. O., S. 277 f.
403 Vgl. Sassoli (Anm. 275), S. 677 f.
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men ergreifen. Dabei sei sie jedoch verpflichtet, die rechtlichen und wirtschaftlichen
Traditionen im besetzten Staat zu respektieren. Den gleichwohl verbleibenden Verstoß gegen das Selbstbestimmungsrecht der Völker rechtfertigt Sassoli als einen dem
temporären Zustand der Besatzung immanenten Umstand.
Eine vermittelnde Ansicht vertritt schließlich auch Meron.404 Dieser veranschaulicht die Problematik der Implementierung von Menschenrechten im besetzten Staat
am Beispiel der ILO-Konventionen. Meron weist darauf hin, dass in den ILO-
Konventionen menschenrechtliche Standards verankert seien. Ihre Anwendung im
besetzten Staat gereiche dem hier ansässigen Volk zum Vorteil. Gleichzeitig sei die
Unterzeichnung und Ratifikation einer solchen Konvention Prärogativ eines jeden
souveränen Staates. Eine Besatzungsmacht dürfe diese souveräne Entscheidung
nicht schlichtweg ignorieren. Ausgehend von diesem Konflikt unterscheidet Meron
drei verschiedene Fallkonstellationen. Zunächst betrachtet er die Situation, dass der
besetzte Staat bereits Partei eines menschenrechtlichen Übereinkommens ist und
dieses innerstaatlich umgesetzt hat. In dieser Konstellation müssten die zur Implementierung ergangenen Maßnahmen respektiert werden.405 Der Besatzungsmacht sei
es verwehrt, aus eigener Initiative neue Umsetzungsmaßnahmen zu ergreifen. Ähnliches gelte für den umgekehrten Fall. Habe der besetzte Staat ein menschenrechtliches Übereinkommen nicht unterzeichnet, so müsse diese souveräne Entscheidung
grundsätzlich respektiert werden. Die Besatzungsmacht könne hier nicht den eigenen, höheren Menschenrechtsstandard oktroyieren. Eine Ausnahme von diesem
Grundsatz könne im Einzelfall abhängig von den Bedürfnissen der Bevölkerung und
dem Ausmaß der erforderlichen Reformen anerkannt werden. Als dritte Konstellation betrachtet Meron die Situation, dass ein Staat zwar ein Menschenrechtsübereinkommen unterzeichnet hat, jedoch noch keine Maßnahmen zur Umsetzung seiner
Verpflichtungen unternommen hat. In diesem Fall könne die Besatzungsmacht an
Stelle des besetzten Staates treten und Maßnahmen zur Umsetzung der Konvention
ergreifen. Zusammenfassend ist zu konstatieren, dass Meron eine Implementierung
von Menschenrechten nur dann zulässt, wenn Besatzungsmacht und besetzter Staat
den gleichen Bindungen unterliegen. Die Besatzungsmacht kann dabei nur dann
tätig werden, wenn der besetzte Staat seinen Pflichten noch nicht nachgekommen
ist.
cc. Berücksichtigung menschenrechtlicher Vorgaben im Wege der Auslegung
Vertreter der dritten Unteransicht lehnen die unmittelbare Durchsetzung von Menschenrechten durch eine Besatzungsmacht ab. In ihren Augen können die menschen-
404 Vgl. Meron (Anm. 304), S. 550 f. Die Aussagen Merons beziehen sich dabei nur auf ILO-
Konventionen. Ihnen liegt jedoch ein allgemeiner Gedanke zugrunde.
405 So auch Bothe / Marauhn, in: Tomuschat (Hrsg.), Kosovo and the International Community,
2002, S. 217 (237).
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rechtliche Wertungen jedoch richtungweisend die Auslegung des humanitären Völkerrechts bestimmen.
Zu den Protagonisten dieser Position gehört Goodman. Ausgangspunkt der Ansicht von Goodman ist die These, Art. 43 HLKO sei Ausdruck eines überkommenen
Rechtsverständnisses. Die Norm werde nicht dem Umstand gerecht, dass Staaten
zunehmend in Bereiche der Gesellschaft eindringen und dort regulativ tätig werden.406 Denn im Interesse der Bevölkerung könne auch eine Besatzungsmacht dazu
verpflichtet sein, im besetzten Staat Änderungen vorzunehmen.407 Auf welche Art
und Weise dies geschehen solle, lasse das Besatzungsrecht jedoch offen. Angesichts
dessen plädiert Goodman dafür, grundlegende menschenrechtliche Prinzipien auch
im humanitären Völkerrecht fruchtbar zu machen.408 Die Menschenrechte böten eine
Richtlinie, um die Belange von Besatzungsmacht und zu schützender Bevölkerung
in Ausgleich zu bringen.
Eine solche Berücksichtigung der Menschenrechte als Auslegungshilfe wird ebenso von einigen anderen Autoren befürwortet.409 Erwähnung verdient die Ansicht
von Jung. Dieser rückt das Selbstbestimmungsrecht der Völker in den Mittelpunkt
des Interesses.410 Nach der Konzeption von Jung kann das Selbstbestimmungsrecht
in zweierlei Weise auf das Besatzungsrecht Einfluss nehmen. Zum einen weise es
die Befugnisse der Besatzungsmacht in enge Schranken. So sei zu berücksichtigen,
dass bereits die bloße Anwesenheit einer fremden Besatzungsmacht in Konflikt mit
dem Selbstbestimmungsrecht trete. Die Besatzung müsse daher ihren Charakter als
temporären Zustand wahren.411 Zum anderen erweitere es auch die Befugnisse einer
Besatzungsmacht. So dürfe eine Besatzungsmacht Strukturen etablieren, die es einem unterdrückten Volk erlauben, in Selbstbestimmung über sein politisches
Schicksal zu befinden.412
dd. Fazit
Die obigen Ansichten sind trotz ihrer Vielfalt von einem einheitlichen Gedanken
geprägt. Ihnen liegt die Einsicht zugrunde, dass die rudimentären Regelungen des
Besatzungsrechts der Ergänzung bedürfen. Nicht von ungefähr befürworten sämtliche Autoren – in unterschiedlicher Ausprägung – den Rückgriff auf die nuancierteren Standards der Menschenrechte, um das Rechtsregime des humanitären Völker-
406 Vgl. Goodman (Anm. 289), S. 1591 f.
407 Vgl. Goodman a. a. O., S. 1594.
408 Vgl. Goodman a. a. O., S. 1600 ff.
409 Vgl. Migliazza (Anm. 392), S. 224; Jung (Anm. 392), S. 406 ff. Vgl. allgemein zur Auslegung des humanitären Völkerrechts im Lichte der Menschenrechte auch Ben-Naftali / Shany
(Anm. 392), S. 104 ff.; Gillard, in: Coomans / Kamminga (Anm. 392), S. 36. Vgl. auch Koller (Anm. 392), S. 263, der für das Konzept eines human rights based law of war eintritt.
410 Vgl. Jung a. a. O., S. 402 ff. Jung betrachtet das Selbstbestimmungsrecht als Menschenrecht.
411 Vgl. Jung a. a. O., S. 406.
412 Vgl. Jung a. a. O., S. 407.
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rechts zu ergänzen. Denn die Herausbildung des Menschenrechtsschutzes gehört zu
den grundlegenden Entwicklungen des Völkerrechts im 20. Jahrhundert. Die Auslegung und Anwendung des humanitären Völkerrechts muss dieser Entwicklung
Rechnung tragen. Meron hat hierfür den Ausdruck humanization of humanitarian
law geprägt.413
Bei Lichte betrachtet bereitet das Zusammenspiel von Menschenrechten und humanitärem Völkerrecht indes Schwierigkeiten. Zunächst ist fraglich, ob die Menschenrechte im Falle einer Besatzung überhaupt Anwendung finden, oder ob sie
durch das humanitäre Völkerrecht als spezielleres Regime verdrängt werden. Weiterhin stellt sich das Problem, dass Menschenrechte primär das Verhalten auf eigenem Territorium betreffen. Es bedarf daher eingehender Untersuchung, welchen
menschenrechtlichen Bindungen eine Besaztungsmacht unterliegt, wenn sie auf
fremdem Territorium agiert. Die Erörterung dieser Fragen soll den folgenden Abschnitten vorbehalten bleiben.
B. Verhältnis Menschenrechte und humanitäres Völkerrecht
Menschenrechte und humanitäres Völkerrecht teilen im Ausgangspunkt gemeinsame
Eigenschaften. Beide Regime zielen auf den Schutz des Individuums ab.414 Sie werden gleichermaßen geprägt vom Prinzip der Unverletzlichkeit der menschlichen
Person, dem Prinzip der Nichtdiskriminierung im Anspruch auf Schutz und Behandlung sowie dem Prinzip der Sicherheit der Person.415 Das Schutzniveau im humanitären Völkerrecht entspricht jedoch nicht dem der menschenrechtlichen Verbürgungen: gleiche Sachverhalte können von den beiden Regimen unterschiedlich bewertet
werden. Diese Kollision ist Hintergrund der im Völkerrecht geführten Diskussion
über das Verhältnis von Menschenrechten und humanitärem Völkerrecht. Während
einige Stimmen dem humanitären Völkerrecht a priori den Anwendungsvorrang
attestieren, befürwortet die Mehrheit der Autoren eine parallele Anwendung der
Menschenrechte. Hier stellt sich die Frage, nach welcher Konkurrenzregel das Zusammentreffen miteinander unvereinbarer Bestimmungen zu beurteilen ist.
413 So der Titel eines einflussreichen Aufsatzes aus dem Jahre 2000. Vgl. Meron, Am. J. Int´l L.
94 (2000), 239 (239 ff.).
414 Vgl. ICTY, Urt. v. 10. Dezember 1998 – Case No. IT-95-17/1-7 – Prosecutor v. Anto Furundzija, Rn. 183: „The general principle of respect for human dignity is the basic underpinning and indeed the very raison d´être of international humanitarian law and human rights
law; indeed in modern times it has become of such paramount importance as to permeate the
whole body of international law.“ Vgl. auch Meron, in: Warner (Hrsg.), Human Rights and
Humanitarian Law, 1997, S. 97 (100); Robertson, in: FS Pictet, 1984, S. 793 (795), sowie
Gasser, in: FS Bothe, 2008, S. 417 (422).
415 Vgl. Pictet, Humanitarian Law and the Protection of War Victims, 1975, S. 33 – 44.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Für den Zeitraum nach der Beendigung bewaffneter Konflikte existieren bislang nur wenige völkerrechtliche Regeln. Zu den ungelösten Problemen des ius post bellum gehört die Frage, ob externe Akteure zum Wohle der Bevölkerung regimeändernde Maßnahmen in Post-Konflikt-Staaten ergreifen dürfen.
Im vorliegenden Band wird untersucht, inwieweit die Konstitutionalisierung des Völkerrechts zur Herausbildung von Vorgaben für die Organisation von Staaten geführt hat. Am Beispiel der jüngsten Transformationsprozesse im Irak und im Kosovo werden die Kompetenzen einzelner Staaten und der Vereinten Nationen zur zwangsweisen Implementierung dieser Vorgaben einer kritischen Analyse unterzogen.