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Zusammenfassung in Thesen
1. Die Wasserverbands-Entscheidung des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts stellt einen Meilenstein in der Dogmatik zur demokratischen Legitimation
funktional dezentralisierter Verwaltung dar. Das in der unmittelbaren Staatsverwaltung sowie der kommunalen Selbstverwaltung vorherrschende Denken in formalen
Legitimationskategorien, insbesondere in ununterbrochenen personellen Legitimationsketten, weicht danach in der funktional dezentralisierten Verwaltung einer vorwiegend materiellen Betrachtungsweise. Maßgebend ist das Erreichen eines bestimmten Legitimationsniveaus, wobei ausreichende Selbstbestimmung gewährleistet sein muss.
2. „Zwischen den Zeilen“ klingt in der Wasserverbands-Entscheidung an, dass einerseits eine auf das Wesen der Aufgabe fokussierte Prüfung angezeigt ist. Die
Exemtion einer Aufgabe aus der unmittelbaren Staatsverwaltung heraus ist nur zulässig, wenn hierfür besondere Rechtfertigungsgründe vorliegen. Der Rechtfertigungsbedarf erklärt sich daraus, dass die unmittelbare Staatsverwaltung das legitimatorische Basismodell verkörpert. Deren Legitimationsniveau muss, wenn auch
nicht exakt, so doch zumindest annähernd erreicht werden. Da der funktional dezentralisierten Verwaltung die charakteristischen legitimatorischen Qualitäten der unmittelbaren Staatsverwaltung typischerweise fehlen, bedarf es besonderer Gründe, die
dieses Defizit ausgleichen oder doch zumindest hinnehmbar erscheinen lassen. Diese rechtfertigenden Gründe müssen zwar nicht verfassungsrechtlich gerade als solche mit just dieser Funktionalität normiert sein. Sie müssen jedoch im Licht des
demokratischen Prinzips eine spezifische Valenz besitzen und auch vor der Verfassung insgesamt werthaltig und billigenswert sein.
3. Auch die Entscheidungstätigkeit des Bundesausschusses gehört zur funktional
dezentralisierten Verwaltung. Als deren Teil ist sie legitimationsbedürftig. Ihrem
Wesen nach handelt es sich bei den Entscheidungen nicht um abstrakt-generelle
Regelungen, sondern am ehesten um Typengenehmigungen. Denn ihr Gegenstand
ist in erster Linie eine ganz bestimmte Untersuchungs- und Behandlungsmethode.
Die Genehmigungsbedürftigkeit wird durch § 135 Abs. 1 Satz 1 SGB V begründet.
4. Die Aufgabe, über neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden in der gesetzlichen Krankenversicherung zu entscheiden, darf aus der unmittelbaren Staatsverwaltung herausverlagert, also dezentralisiert werden, ohne dadurch die demokratischen Rechte der Versicherten zu verletzen. Art. 87 Abs. 2 GG schreibt für die
einzelnen Krankenversicherungsträger zwingend die Dezentralisierung vor. Der
Bundesausschuss hat seinen Platz im Rahmen einer Arbeitsteilung zwischen ihm
und den Krankenkassen. Deren gesetzlich vorgesehenes Zusammenwirken dient
dem gemeinsamen Ziel „Absicherung der Versicherten gegen das Risiko Krankheit“. Diese Aufgabe ist im Prinzip dezentralisierungsfähig; das bringt Art. 87
Abs. 2 GG zum Ausdruck. Wenn aber der Bundesausschuss gerade in Wahrneh-
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mung dieser Aufgabe in Erscheinung tritt, vermag Art. 87 Abs. 2 GG auch hinsichtlich der Dezentralisation der Entscheidungstätigkeit über neue Untersuchungs- und
Behandlungsmethoden rechtfertigend zu wirken; denn diese bildet lediglich einen
Ausschnitt aus der übergeordneten Aufgabenstellung. Daneben vermögen auch Effizienzgesichtspunkte eine Rechtfertigung dafür zu liefern, die Entscheidungstätigkeit
zu dezentralisieren. Die in Frage stehende Aufgabe ist so zugeschnitten, dass durch
eine dezentralisierte Wahrnehmung einerseits eine erhöhte Richtigkeitsgewähr, andererseits gesteigerte Akzeptanz bei den Regelungsunterworfenen erreicht werden
kann. Gründe, die einer Dezentralisierung der Aufgabe verfassungsrechtlich entgegenstehen könnten, gibt es nicht.
5. Damit das verfassungsrechtlich notwendige Legitimationsniveau erreicht wird,
muss auch das die dezentralisierte Aufgabe wahrnehmende Organ, hier also der
Bundesausschuss, bestimmte binnendemokratische Strukturen aufweisen. Der Bundesausschuss in seiner momentanen Form wird dem nicht gerecht. Zwar bildet die
zweifellos bestehende Interessenheterogenität innerhalb des Organs keine unüberwindbare Hürde, über neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden in dezentralisierter Verwaltung zu entscheiden. Der dadurch hervorgerufenen abstrakten Gefahr
der Fremdbestimmung könnte durch eine entsprechende Besetzung und durch ein
entsprechendes Verfahren begegnet werden. Eine solche institutionelle Absicherung
fehlt indes. Struktur, Organisation, Verfahren und Besetzung des Bundesausschusses
ermöglichen zwar die effiziente Einbringung von Sachverstand. Dabei bleiben die
Versicherten, die von den Entscheidungen unmittelbar und einschneidend tangiert
werden, aber unterrepräsentiert. Die Vertreter der Krankenkassen können nicht als
Anwälte der Versicherten begriffen werden; denn die Interessenlage der Krankenkassen unterscheidet sich massiv von der der Versicherten. Notwendig wäre, dass
Versichertenvertretern im Bundesausschuss ein Mitentscheidungsrecht zustünde
(wobei eine Patientenvertretung, wie sie de lege lata gegeben ist, für eine hinreichende Repräsentanz der Versicherten genügen würde); ein bloßes Antrags- und
Mitberatungsrecht verkörpert zwar bereits einen Schritt in die richtige Richtung,
bleibt aber hinter dem verfassungsrechtlich geforderten Mindeststandard noch zurück.
6. Die vom Gesetzgeber mit § 140 f SGB V eingeschlagene Richtung kann
grundsätzlich beibehalten werden. Das bedeutet vor allem, dass die Versichertenvertreter im Bundesausschuss nicht - analog der Parlamentswahlen - über eine ununterbrochene personelle Kette von der Gesamtheit der Versicherten zu bestimmen sind.
Das gewählte Verfahren, den in § 140 f Abs. 1 SGB V genannten Organisationen die
Bestellung zu überlassen, mag unkonventionell erscheinen und an ständestaatliche
Strukturen erinnern. Dennoch würde mit der Mitwirkung so rekrutierter Patientenvertreter aus Sicht der Versicherten trotz gewisser Bedenken ein ausreichendes Legitimationsniveau erreicht. Vor allem die Patientenbeteiligungsverordnung trifft effiziente Vorkehrungen, damit diese tatsächlich als Sachwalter der Versicherteninteressen auftreten. Zudem lässt es der besondere funktionale Charakter des Bundesausschusses - er ist weniger ein Repräsentationsorgan, sondern eher Gremium zur Lösung spezifischer komplexer Probleme - zu, auch ungewöhnliche Wege zu beschrei-
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ten und solche ausgewählten und qualifizierten „Seiteneinsteiger“ an der Ausübung
von Staatsgewalt partizipieren zu lassen. Jedenfalls braucht der Bundesausschuss
nur deswegen, weil Versichertenvertreter schon aus praktischen Gründen nicht mit
einer idealtypischen personellen Legitimation - im Sinn einer ununterbrochenen
personelle Legitimationskette bis hin zur Versichertengemeinschaft - ausgestattet
werden können, nicht auf Regelungen mit unmittelbarer Wirkung nur im Leistungserbringungsverhältnis beschränkt zu werden.
Nach der hier vertretenen Auffassung ist es de lege ferenda verfassungsrechtlich
zwingend notwendig, den Patientenvertretern ein Mitentscheidungsrecht einzuräumen.
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References
Zusammenfassung
Der Gemeinsame Bundesausschuss gestaltet wesentlich den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung. Seine demokratische Legitimation wurde in der Vergangenheit intensiv und kontrovers diskutiert.
Der Autor hat die aktuelle Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur demokratischen Legitimation eingehend ausgewertet und daraus ein neues, praxisgerechtes Legitimationsmodell für den Gemeinsamen Bundesausschuss nach dem SGB V entwickelt. Die bei dieser Betrachtung berücksichtigten, zahlreichen rechtlichen Parameter sind differenziert, objektivierbar und generalisierbar herausgearbeitet. Nicht zuletzt deshalb erweist sich die Arbeit auch für andere Verwaltungsformen außerhalb der klassischen, ministerial gesteuerten Verwaltung als aufschlussreich. Für diese „unkonventionellen“ Verwaltungstypen darf an der in ununterbrochenen Legitimationsketten verhafteten Dogmatik nicht mehr festgehalten werden. Die flexiblen verfassungsrechtlichen Vorgaben lassen es vielmehr zu, pragmatische Erwägungen in angemessener Weise zu berücksichtigen, wobei der Autor auf seine Erfahrungen als Sozialrichter zurückgreifen konnte.