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Die enge Verbindung zwischen Menschenwürde und individueller Freiheit und
damit auch dem Recht auf Selbstbestimmung als Grundlage persönlicher Freiheit
erkennt auch der EGMR an.205
So verstanden erfasst und schützt Art. 8 EMRK das Recht auf Selbstbestimmung,
jedenfalls soweit Aspekte des Privat- oder Familienlebens betroffen sind.
B. Schutzbereich
Wie dargestellt, geht der Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts nach
dem Grundgesetz sehr weit. Eine genaue Begrenzung ist genau wie beim Schutzbereich des Rechts auf Achtung des Privatlebens nach Art. 8 EMRK nicht möglich.
Vor dem Ziel eines umfassenden Menschenrechtsschutzes besteht auch keine Veranlassung, den Schutzbereich des Privatlebens nach der EMRK enger zu fassen, solange der im Raum stehende Lebensbereich vernünftigerweise noch als Ableitung des
Privatlebens angesehen werden kann.
Dennoch bleibt festzuhalten, dass gerade das Recht am eigenen Bild nach wohl
überwiegendem Verständnis nicht als selbständiger Teil des Rechts aus Art. 8
EMRK verstanden wird. Genauso wie beim Recht am eigenen Wort kommt auch
dort eine Verletzung von Art. 8 EMRK nur in Frage, wenn gleichzeitig eine Verletzung des Privatlebens vorliegt.
Zudem bleibt offen, ob es im Anwendungsbereich der EMRK das im deutschen
Recht vorhandene Nebeneinander der Komponenten Selbstbestimmung im Hinblick
auf das persönliche Lebens- und Charakterbild und Ehre als Schutz des sozialen
Geltungsanspruchs gibt, weil fraglich ist, ob Art. 8 EMRK den Schutz der Ehre und
des guten Rufs überhaupt umfasst.206
Da diese Begriffe bei den Beratungen zur EMRK ausdrücklich aus der Fassung
des Art. 8 EMRK207 herausgestrichen wurden, lässt sich der Anwendungsbereich der
Ehre durchaus auf die Funktion als Rechtfertigungsgrund für (staatliche) Eingriffe in
die Medienfreiheit nach Art. 10 Abs. 2 EMRK begrenzen. Nicht erfasst von Art. 8
EMRK wären dann Verfälschungen und Manipulationen des Persönlichkeitsbildes.
205 Vgl. EGMR, Pretty gegen Vereinigtes Königreich, NJW 2002, S. 2851; EGMR, Goodwin
gegen Vereinigtes Königreich, 11. Juli 2002, Ziffer 90, www.echr.coe.int.
206 Bejahend: Breitenmoser, Der Schutz der Privatsphäre gemäß Art. 8 EMRK, S. 36; Doswald-
Beck, HRLJ 1983, S. 283, 286; Verneinend: Brömmekamp, Yearbook of Copyright and Media Law 2000, S. 67, 71.
207 Die verwandte Norm des Art. 12 AEMR schützt hingegen neben der Privatsphäre ausdrücklich auch Ehre und Ruf.
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Der Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ist insgesamt also weiter aber auch konturloser als der Schutzbereich auf Achtung des Privatlebens nach
Art. 8 EMRK, auch wenn sich die Gewährleistungen beider Menschenrechte doch in
vielen Fällen überschneiden.208
Der in beiden Systemen geschützte räumliche Lebensbereich einer Person, der
beschränkte Zugang zu Informationen über eine Person und deren Anspruch auf
weitestgehende Anonymität, lassen erkennen, dass das Schutzziel dahin geht, dem
Einzelnen einen gewissen Handlungsspielraum einzuräumen, seine Identität zu finden, seine Persönlichkeit frei von gesellschaftlichen Zwängen zu entwickeln und im
Rahmen der Gesetze auch gegen die gesellschaftliche Norm zu handeln und zu leben.
Wenn der EGMR ein allgemeines Persönlichkeitsrecht auch nicht kennt, so werden doch dessen wesentliche Ausprägungen verschiedenen Konventionsgarantien
zugeordnet und damit letztlich weitgehend geschützt.
Genau so, wie das Bundesverfassungsgericht für das allgemeine Persönlichkeitsrecht dessen Entwicklungsoffenheit bejaht,209 um adäquat auf aktuelle Herausforderungen reagieren zu können, ist auch Art. 8 EMRK einer dynamischen Entwicklung
hin zu einem umfassenden Persönlichkeitsschutz zugänglich.210 Im Grundsatz sollte
es daher nicht zu einem offenen Konflikt zwischen Bundesverfassungsgericht und
EGMR kommen, wenn der Persönlichkeitsschutz im Mittelpunkt der jeweiligen Entscheidungen steht.
208 Vgl. Rixecker, in: Münchener Kommentar, Band I/1, Anhang zu § 12 Rn. 16; Brömmekamp,
Yearbook of Copyright and Media Law 2000, S. 83.
209 Vgl. BVerfGE 54, S. 148, 153; BVerfGE 65, S. 1, 41; BVerfGE 72, S. 155, 170; BVerfGE 79,
S. 256, 268.
210 Giegerich, RabelsZ 63 (1999), S. 471, 473; vgl. Marauhn/Meljnik, in: Grote/Marauhn,
EGMR/GG, Kap. 16 Rn. 13.
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References
Zusammenfassung
Der Autor wendet sich der viel diskutierten Frage zu, wie Persönlichkeitsschutz einerseits, Meinungs- und Pressefreiheit andererseits in einer freiheitlichen Rechtsordnung zueinander stehen. Neu dimensionierte Verletzungsmodalitäten in der Medien- und Informationsgesellschaft verlangen eine Überprüfung der bisher nach deutschem Recht vor allem von der Rechtsprechung zum Verhältnis Persönlichkeitsrecht – Meinungs-/Pressefreiheit entwickelten Rechtsgrundsätze.
Ausgehend vom Schutzgut des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, dem fundamentalen und mit der Menschenwürde in Verbindung stehenden Recht auf Selbstbestimmung, misst der Verfasser die Grundsätze der Konfliktlösung nach deutschem Recht an europäischen Standards und rekonstruiert davon ausgehend den Problemzugang zum nationalen Recht.
Das Werk weist einen Weg, wie der Achtungsanspruch des Einzelnen in verfassungsrechtlich gebotener Weise aufgewertet werden kann, ohne die konstitutive Funktion der Meinungs- und Pressefreiheit für das europäische Modell der pluralistischen Demokratie zu vernachlässigen.