Erster Teil
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Trotz der wenigen ihm vergönnten Jahre hat Lask ein beachtliches Werk hinterlassen, das schon früh durch eine Gesamtausgabe geadelt wurde75. Einschlägig
für unsere Zwecke ist vor allem die bei Wilhelm Windelband entstandene Heidelberger Habilitationsschrift »Rechtsphilosophie« (1905)76, die auch in der Festschrift für Kuno Fischer von 1905 wiederabgedruckt wurde.
Zur Ausarbeitung eines philosophischen Systems konnte Lask gleichwohl nur
Vorarbeiten leisten: wie etwa zur Kategorienlehre mit der Arbeit »Die Logik der
Philosophie und die Kategorienlehre« (1911)77 oder zur Urteilslehre mit der
Schrift »Die Lehre vom Urteil« (1912)78.
§ 3
Hauptaspekte des Südwestdeutschen Neukantianismus
Im folgenden Abschnitt sollen die Hauptaspekte des Südwestdeutschen Neukantianismus dargestellt werden.
Die Darstellung des neukantianischen Theorieprogramms erfolgt anhand
von drei Hauptaspekten79: 1. der Grundlegungscharakter der Erkenntnistheorie
(Methodenaspekt), 2. die Bedeutung der Kultur als Vorgabe und Aufgabe des
Philosophierens (Kulturaspekt) sowie 3. die Legitimationsfunktion der Wertphilosophie (Legitimationsaspekt). Die drei Hauptaspekte orientieren sich an ihrer
argumentativen Funktion innerhalb des neukantianischen Begründungsprogramms. Erst in ihrem Zusammenwirken ergeben sie ein Bild des Südwestdeut-
75 Gesamtausgabe von Eugen Herrigel (Hrsg.), Emil Lask, Gesammelte Schriften,
3 Bde., Tübingen 1923–1924.
76 Emil Lask, Rechtsphilosophie, in: Windelband (Hrsg.), Die Philosophie im Beginn
des 20. Jahrhunderts. Festschrift für Kuno Fischer, 2. Aufl. 1907, S. 269–320
(1. Aufl. 1905); wiederabgedr. in: Herrigel (Hrsg.), Lask, Gesammelte Schriften,
Bd. 1, 1923, S. 275–331.
77 Emil Lask, Die Logik der Philosophie und die Kategorienlehre. Eine Studie über
den Herrschaftsbereich der logischen Form, Tübingen 1911 (2. Aufl. 1923); wiederabgedr. in: Herrigel (Hrsg.), Lask, Gesammelte Schriften, Bd. 2, 1923, S. 1–282.
78 Emil Lask, Die Lehre vom Urteil, Tübingen 1912; wiederabgedr. in: Herrigel
(Hrsg.), Lask, Gesammelte Schriften, Bd. 2, 1923, S. 283–463.
79 Ich folge an dieser Stelle den kurzen Hinweisen Olligs (»Neukantianismus«, 1979),
der bei der einführenden Charakterisierung des Südwestdeutschen Neukantianismus zwischen dem »Primat der Erkenntnistheorie« als »methodische Form« des
Philosophierens und dem »Primat der Kultur« als »Inhalt der philosophischen Kritik« unterscheidet (Ollig, aaO., S. 4). Ich gehe jedoch insofern über Ollig hinaus, als
zusätzlich als dritter Aspekt die Wertphilosophie in ihrer Funktion als „argumentatives Kernstück“ des Südwestdeutschen Neukantianismus in den Blick genommen
werden soll (dazu unten § 3 III. >S. 70 ff.<).
Die Philosophie des Südwestdeutschen Neukantianismus
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schen Neukantianismus als „transzendentale“ bzw. „kritische Kulturphilosophie“80.
I. Methodenaspekt:
Der Grundlegungscharakter der Erkenntnistheorie
Ein erster Hauptaspekt des Südwestdeutschen Neukantianismus – sowie des
Neukantianismus überhaupt81 – ist der „Grundlegungscharakter“ der Erkenntnistheorie82. Damit ist diese These gemeint, dass jede wissenschaftliche Philosophie und jedes Philosophieren zuallererst auf einer Erkenntnistheorie aufbauen
muss (daher hier „Methodenaspekt“ genannt; Einzelheiten sogleich).
Zum besseren Verständnis der Neu- und Weiterentwicklungen der Kantischen Erkenntnistheorie im neuen Kantianismus der Südwestdeutschen Schule
ist es erforderlich, an dieser Stelle zunächst das ursprüngliche Konzept von
Kants Erkenntnistheorie in ihren Grundlinien darzustellen (1.). Anschließend
geht es um die Fortschreibung der Kantischen Erkenntnistheorie im Südwestdeutschen Neukantianismus (2.).
1. Die Ursprünge der neukantianischen Erkenntnistheorie in der
Erkenntnistheorie Kants
Zunächst zu den Ursprüngen der neukantianischen Erkenntnistheorie in der
Erkenntnistheorie Kants.
Die Kantische Erkenntnistheorie findet sich vor allem in der ersten Kritik
Kants, der »Kritik der reinen Vernunft« (1781, 2. Auflage 1787)83. Von Bedeutung sind zudem die »Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als
80 Siehe z. B. Ollig, Neukantianismus, 1979, S. 4/5; Krijnen, Philosophieren im Schatten des Nihilismus, in: Krijnen/Orth (Hrsg.), Sinn, Geltung, Wert, 1998, S. 23.
81 Zur Bedeutung der Erkenntnistheorie für den Marburger Neukantianismus s. die
Hinw. bei Ollig, Neukantianismus, 1979, S. 111 ff.
82 Gelegentlich auch als »Primat der Erkenntnistheorie« bezeichnet (z. B. Ollig, Neukantianismus, 1979, S. 4). Wenn ich mich dieser Formulierung verschließe, so hat
dies den Sinn, zu vermeiden, dass das Theorieprogramm des Südwestdeutschen
Neukantianismus auf Erkenntnistheorie reduziert wird. Insbesondere der Blick auf
die neukantianische Kulturphilosophie zwingt zu einer differenzierteren Charakterisierung (Einzelheiten s. unten § 3 II. >S. 56 ff.<).
83 Kant, Kritik der reinen Vernunft (1. Aufl. Riga 1781, 2. Aufl. 1787), Weischedel
(Hrsg.), Kant. Werke in zwölf Bänden, Bd. 3 u. 4, künftig „KdrV“. – Zur Einführung in die erste Kritik s. Höffe, Kants Kritik der reinen Vernunft, 4. Aufl. 2004.
Für eine Wirkungsgeschichte der Kritik der reinen Vernunft s. zudem Gadamer,
Kants „Kritik der reinen Vernunft“ nach 200 Jahren, in: ders., Gesammelte Werke,
Bd. 4, 1987, S. 336–348.
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Wissenschaft wird auftreten können« (1783)84, die von Kant selbst als »Vor-
übungen«85 für die Kritik der reinen Vernunft angesehen wurden.
Zum Zwecke der Darstellung sollen drei zentrale Thesen der Kantischen Erkenntnistheorie unterschieden werden: 1. die „Kopernikus-These“, 2. die „Methoden-These, 3. die „Apriorismus-These“, 4. die „Quaestio iuris-These“.
a) Kants Kopernikanische Wende des Denkens („Kopernikus-These“)
Eine erste Hauptthese der Kantischen Erkenntnistheorie ist Kants sog. Kopernikanische Wende des Denkens (im Folgenden als „Kopernikus-These“ bezeichnet).
Ausgangspunkt der Kopernikus-These ist die Veränderung des Blickwinkels
bei der Bestimmung des Verhältnisses zwischen erkennendem Subjekt und zu
erkennendem Objekt bzw. zwischen Erkenntnis und Gegenstand: Nach Kant
richtet sich die Erkenntnis nicht nach den Gegenständen unserer Erfahrung,
sondern umgekehrt, die »Gegenstände müssen sich nach unserer Erkenntnis
richten« (Kant KdrV 1787)86. Wir können daher – so Kant weiter – »von den
Dingen nur das […] erkennen, was wir selbst in sie legen« (Kant KdrV 1787)87.
Hieraus folgt nun, dass es keinen Gegenstand an sich gibt, sondern nur dessen
sinnliche Erscheinung88, die ihrerseits aus dem Erkenntnisvorgang entsteht.
Erkenntnis wird daher eine Leistung des erkennenden Subjekts89. Sehr anschaulich hat Kant diesen produktiven Erkenntnisprozess in der Einleitung zur
zweiten Auflage seiner ersten Kritik beschrieben: Das Buch setzt mit den Worten
ein: »Daß alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfange, daran ist gar kein
Zweifel; denn wodurch sollte das Erkenntnisvermögen sonst zur Ausübung erweckt werden, geschähe es nicht durch Gegenstände, die unsere Sinne rühren
und teils von selbst Vorstellungen bewirken, teils unsere Verstandestätigkeit in
Bewegung bringen, diese zu vergleichen, sie zu verknüpfen oder zu trennen, und
84 Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird
auftreten können (Riga 1783), in: Weischedel (Hrsg.), Bd. 5, S. 109–264; künftig
„Prolegomena“.
85 Dazu Kant, Prolegomena (1783), in: Weischedel (Hrsg.), Bd. 5, S. 120.
86 Kant, KdrV (1781), 2. Aufl. 1787, Vorrede zur 2. Aufl., in: Weischedel (Hrsg.),
Bd. 3, S. 25.
87 Kant, KdrV (1781), aaO., S. 26.
88 Auf die nähere Bedeutung der Lehre des sog. »Dinges-an-sich« (d. h. Gegenstände,
die unabhängig von der Erkenntnis durch ein Subjekt bestehen) kann an dieser
Stelle nicht näher eingegangen werden. Einzelheiten hierzu und zum Dualismus
von »Ding-an-sich« und »Erscheinung« bei Kant s. nur Prauss, Kant und das Problem der Dinge an sich, 3. Aufl. 1989.
89 Für Einzelheiten zum Vorgang der Gegenstandskonstitution und insb. zur Bedeutung der sog. »Kategorien« des Denkens innerhalb dieses Vorgangs s. unten Apriorismus-These (§ 3 I 1.c. >S. 36 ff.<).
Die Philosophie des Südwestdeutschen Neukantianismus
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so den rohen Stoff sinnlicher Eindrücke zu einer Erkenntnis der Gegenstände zu
verarbeiten, die Erfahrung heißt?« (Kant KdrV 1787) 90.
„Kopernikus-These“ heißt sie deshalb, weil Kant seine »veränderte Methode
der Denkungsart«91 mit der revolutionären Tat des Kopernikus gleichsetzt, die
Erde aus dem Zentrum des Weltbildes zu nehmen und an deren Stelle die Sonne
zu setzen92.
Als Zwischenergebnis zur Kopernikus-These können wir festhalten: 1. Die
Erkenntnis richtet sich nicht nach den Gegenständen unserer Erfahrung, sondern die Gegenstände müssen sich nach unserer Erkenntnis richten; 2. Es gibt
keinen Gegenstand an sich, sondern erst der Erkenntnisvorgang bringt den Gegenstand hervor.
b) Kants Transzendentale Methode des Philosophierens („Methoden-These“)
Eine zweite Hauptthese der Kantischen Erkenntnistheorie ist Kants Transzendentale bzw. Kritische Methode des Philosophierens93 (hier „Methoden-These“
genannt).
»Transzendental« ist für Kant »alle Erkenntnis […], die sich nicht so wohl
mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen […]
überhaupt beschäftigt.« (Kant KdrV 1787)94. Im Anschluss an die bereits vorge-
90 Kant, KdrV (1781), 2. Aufl. 1787, in: Weischedel (Hrsg.), Bd. 3, S. 45; im Orig.
komplett kursiv.
91 Kant, KdrV (1781), 2. Aufl. 1787, Vorrede zur 2. Aufl., aaO., Bd. 3, S. 26.
92 Für Einzelheiten zur Metapher der Kopernikanischen Wende bei Kant s. nur Gerhardt, Kants kopernikanische Wende, in: Kant-Studien 78 (1987), S. 133–152.
93 Kant verwendet für seine „neue“ Methode keine einheitliche Terminologie; am
häufigsten ist wohl die Bezeichnung »kritische Methode« (zum Begriff der »Kritik«,
insb. als »Idee einer besonderen Wissenschaft« s. Kant, KdrV [1781], 2. Aufl. 1787,
in: Weischedel [Hrsg.], Bd. 3, S. 62 ff.). Die Bezeichnung »transzendental« wird von
Kant ebenfalls zur Kennzeichnung seiner neuen Methode verwendet (siehe z. B.
das Kompositum »Transzendental-Philosophie«, Kant, KdrV [1781], 2. Aufl. 1787,
aaO., Bd. 3, S. 63), gelegentlich sogar in Kombination mit Kritik (z. B. »transzendentale Kritik«, vgl. Kant, KdrV [1781], 2. Aufl. 1787, aaO., Bd. 3, S. 63). Zum Zusammenhang von Kritizismus und Transzendentalismus bei Kant s. nur Flach,
Transzendentalphilosophie und Kritik, in: Arnold/Zeltner (Hrsg.), Festschrift für
Rudolf Zocher, 1967, S. 69–83.
94 Kant, KdrV (1781), 2. Aufl. 1787, in: Weischedel (Hrsg.), Bd. 3, S. 63; Hervorh. im
Orig. gesperrt bzw. kursiv. Näheres zum Begriff »transzendental« bei Kant s. Eisler,
Kant-Lexikon, 2. Aufl. 1930, S. 538 f. sowie Hinske, transzendental, Transzendentalphilosophie [bei Kant], in: Ritter u. a. (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, 1998, Sp. 1379–1388. In ähnlicher Weise heißt es für die »Methode des kritischen Philosophierens«, dass diese die Aufgabe habe, »das Verfahren
der Vernunft selbst zu untersuchen« (s. Kant, Logik, 1800, in: Weischedel [Hrsg.],
Bd. 6, S. 456).
Erster Teil
36
stellte »Revolution der Denkart«95 beschäftigt sich die Transzendentale Methode
dabei nicht mit den Gegenständen unserer Erfahrung selbst, sondern mit unserer
Erkenntnis dieser Gegenstände. Allerdings gibt es eine Verbindung zwischen
unserer Erfahrung und ihren Gegenständen, insofern »die Bedingungen der
Möglichkeit der Erfahrung überhaupt zugleich Bedingungen der Möglichkeit der
Gegenstände der Erfahrung« sind (Kant KdrV 1787)96. Ausschlaggebend für die
Erkenntnis eines Gegenstandes wird damit die Methode97. Kant nennt demgemäß seine Kritik der reinen Vernunft in der Vorrede zur zweiten Auflage einen
»Traktat von der Methode«98.
Die Transzendentale bzw. Kritische Methode ist dabei auf die Art von Erkenntnis ausgerichtet, »so fern diese a priori möglich sein soll« (Kant KdrV
1787)99. Die Erkenntnismöglichkeit »a priori« meint eine Erkenntnis vor der und
unabhängig von der (empirischen) Erfahrung100, weswegen Kant sie auch »reine«
Erkenntnis nennt101. Durch diese reine Erkenntnis ist es der Philosophie möglich, dem bisherigen »bloßen Herumtappen« zu entkommen und den »sicheren
Gang einer Wissenschaft« zu beschreiten.102 Sichere Kennzeichen reiner und
damit wissenschaftlicher Erkenntnis sind nach Kant »Notwendigkeit und strenge Allgemeinheit«103.
Als Zwischenergebnis zur Methoden-These können wir festhalten: 1. Die Erkenntnis beschäftigt sich nicht mit den Gegenständen der Erfahrung selbst, sondern mit der Erkenntnis der Gegenstände; 2. Die Transzendentale bzw. Kritische
Methode fragt nach den apriorischen Möglichkeitsbedingungen von Erkenntnis.
c) Kants apriorische Formen der Erkenntnis („Apriorismus-These“)
Eine dritte Hauptthese der Kantischen Erkenntnistheorie ist Kants These von
den apriorischen Formen der Erkenntnis (hier „Apriorismus-These“ genannt).
95 Kant, KdrV (1781), 2. Aufl. 1787, in: Weischedel (Hrsg.), Bd. 3, S. 22.
96 Kant, KdrV (1781), 2. Aufl. 1787, Vorrede zur 2. Aufl., aaO., Bd. 3, S. 201, Hervorh.
im Orig. gesperrt.
97 Zum Methodenbegriff bei Kant s. die Nachw. bei Eisler, Kant-Lexikon, 2. Aufl.
1930, S. 365.
98 Kant, KdrV (1781), 2. Aufl. 1787, Vorrede zur 2. Aufl., in: Weischedel (Hrsg.),
Bd. 3, S. 28.
99 Kant, KdrV (1781), 2. Aufl. 1787, aaO., Bd. 3, S. 63. Einzelheiten zur Verwendung
des Begriffs des »a priori« bei Kant s. Eisler, Kant-Lexikon, 2. Aufl. 1930, S. 38 ff.
100 Kant, KdrV (1781), 2. Aufl. 1787, in: Weischedel (Hrsg.), Bd. 3, S. 45 f. Der Gegenbegriff zur Erkenntnismöglichkeit »a priori« ist die Erkenntnis »a posteriori« oder
»empirische« Erkenntnis, d. h. eine Erkenntnis nach der und abhängig von der Erfahrung (s. Kant, KdrV [1781], 2. Aufl. 1787, in: Weischedel [Hrsg.], Bd. 3, S. 45 f.).
101 Kant, KdrV (1781), 2. Aufl. 1787, in: Weischedel (Hrsg.), Bd. 3, S. 46.
102 Beide Zitate siehe Kant, KdrV (1781), 2. Aufl. 1787, aaO., Bd. 3, S. 20.
103 Kant, KdrV (1781), 2. Aufl. 1787, aaO., Bd. 3, S. 47.
Die Philosophie des Südwestdeutschen Neukantianismus
37
Bei der Beantwortung der Frage nach den apriorischen Möglichkeitsbedingungen von Erkenntnis unterscheidet Kant zwischen zwei Erkenntnisstämmen
bzw. Erkenntnisvermögen des Menschen: »Sinnlichkeit« und »Verstand«104.
»Sinnlichkeit« meint die Fähigkeit des Menschen, Vorstellungen von Gegenständen zu empfangen105. Die durch die Sinnlichkeit gegebenen Vorstellungen
von Gegenständen nennt Kant »Anschauungen«106. »Verstand« dagegen ist die
Fähigkeit des Menschen, »Vorstellungen selbst hervorzubringen«107 bzw. das
»Vermögen zu urteilen«108. Die durch den Verstand gedachten Vorstellungen
von Gegenständen heißen bei Kant »Begriffe«109.
Die Frage nach den apriorischen Bedingungen von Erkenntnis wird von Kant
für beide Erkenntnisvermögen gestellt110. Die apriorischen Erkenntnisbedingungen der Sinnlichkeit111 werden von Kant als »reine Form der Sinnlichkeit« bzw.
als »reine Anschauung« bezeichnet112. Zu diesen Anschauungsformen zählen
Raum und Zeit113. Die apriorischen Erkenntnisbedingungen des Verstands114
sind die sog. »reinen Verstandesbegriffe« oder »Kategorien«115. Zu den Katego-
104 Kant, KdrV (1781), 2. Aufl. 1787, in: Weischedel (Hrsg.), Bd. 3, S. 66. Weitere
Hinw. bei Eisler, Kant-Lexikon, 2. Aufl. 1930, S. 497 ff.
105 Kant, KdrV (1781), 2. Aufl. 1787, aaO., Bd. 3, S. 69; für weitere Hinw. zum Kantischen Sprachgebrauch s. Eisler, Kant-Lexikon, 2. Aufl. 1930, S. 494 ff.
106 Kant, KdrV (1781), 2. Aufl. 1787, aaO., Bd. 3, S. 69.
107 Kant, KdrV (1781), 2. Aufl. 1787, aaO., Bd. 3, S. 97; für weitere Nachw. zum Erkenntnisvermögen »Verstand« s. Eisler, Kant-Lexikon, 2. Aufl. 1930, S. 579 ff.
108 Kant, KdrV (1781), 2. Aufl. 1787, in: Weischedel (Hrsg.), Bd. 3, S. 110. Das »Vermögen zu urteilen« ist dabei nicht zu verwechseln mit der »Urteilskraft«, mit der
sich Kant insbesondere in der Kritik der Urteilskraft (1790) beschäftigt. Während
der Verstand – so Kant – »das Vermögen der Regeln« darstellt, ist Urteilskraft »das
Vermögen unter Regeln zu subsumieren« (s. Kant, KdrV [1781], 2. Aufl. 1787, in:
Weischedel [Hrsg.], Bd. 3, S. 184; Hervorh. im Orig. gesperrt).
109 Kant, KdrV (1781), 2. Aufl. 1787, in: Weischedel (Hrsg.), Bd. 3, S. 69.
110 Kant unterscheidet entsprechend in der »Transzendentalen Elementarlehre« der
Kritik der reinen Vernunft zwischen einer »transzendentalen Ästhetik« (von griech.
„aisthesis“ für Wahrnehmung; s. 1. Teil der KdrV, in: Weischedel [Hrsg.], Bd. 3,
S. 69 ff.) und einer »transzendentalen Logik« (aaO., S. 97 ff.).
111 Kant, KdrV (1781), 2. Aufl. 1787, in: Weischedel (Hrsg.), Bd. 3, S. 69 ff.; für Einzelheiten zur »transzendentalen Ästhetik« siehe die Beiträge von Brandt und Mohr
in Mohr/Willaschek (Hrsg.), Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, 1998,
S. 81–106 u. 107–130.
112 Kant, KdrV (1781), 2. Aufl. 1787, in: Weischedel (Hrsg.), Bd. 3, S. 70; weit. Hinw.
bei Eisler, Kant-Lexikon, 2. Aufl. 1930, S. 20 ff.
113 Kant, KdrV (1781), 2. Aufl. 1787, in: Weischedel (Hrsg.), Bd. 3, S. 71.
114 Kant, KdrV (1781), 2. Aufl. 1787, aaO., Bd. 3, S. 107 ff.
115 Kant, KdrV (1781), 2. Aufl. 1787, aaO., Bd. 3, S. 116; weit. Hinw. bei Eisler, Kant-
Lexikon, 2. Aufl. 1930, S. 282 ff.
Erster Teil
38
rien gehören z. B.: »Einheit« und »Vielheit«, »Möglichkeit« und »Unmöglichkeit«, »Dasein« und »Nichtsein«116.
Erkenntnis entsteht dabei erst im Zusammenspiel der beiden Erkenntnisvermögen und ihren apriorischen Formen. Bei Kant heißt es dazu: »Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner gedacht
werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind
blind.« (Kant KdrV 1787)117.
Als Zwischenergebnis zur Apriorismus-These können wir festhalten: 1. Die
apriorischen Möglichkeitsbedingungen von Erkenntnis bestehen aus Formen der
Anschauung und des Verstands.
d) Kants Frage nach der Rechtfertigung apriorischer Formen der
Erkenntnis („Quaestio iuris-These“)
Eine vierte Hauptthese der Kantischen Erkenntnistheorie ist Kants Frage nach
der generellen Rechtfertigung apriorischer Formen der Erkenntnis (hier „Quaestio iuris-These“ genannt).
Kant bedient sich dabei eines besonderen Begründungsverfahrens, das er die
»transzendentale Deduktion«118 nennt. Die transzendentale Deduktion soll die
Art erklären, wie »sich Begriffe [d. h. deren Kategorien, S. Z.] a priori auf Gegenstände beziehen können« (Kant KdrV 1787)119. »Deduktion« ist dabei nicht im
logischen Sinne als Schluss vom Allgemeinen zum Besonderen gemeint, sondern
bezeichnet ein aus der Jurisprudenz entlehntes Begründungsverfahren, das nach
der »Befugnis«120 oder »Rechtmäßigkeit eines […] Gebrauchs«121 fragt. Kant
116 Siehe die sog. Kategorientafel bei Kant, KdrV (1781), 2. Aufl. 1787; in: Weischedel
(Hrsg.), Bd. 3, S. 118 f.
117 Kant, KdrV (1781), 2. Aufl. 1787, in: Weischedel (Hrsg.), Bd. 3, S. 98.
118 Siehe Kant, KdrV (1781), 2. Aufl. 1787, in: Weischedel (Hrsg.), Bd. 3, S. 125 ff.,
134 ff. (bezogen auf die reinen Verstandesbegriffe bzw. Kategorien). Ein Hinweis:
die Arbeit beschäftigt sich im Folgenden ausschließlich mit der maßgeblichen Fassung der transzendentalen Deduktion aus der zweiten Auflage der Kritik der reinen
Vernunft von 1787 (sog. B-Deduktion). Für Einzelheiten zur Fassung der transzendentalen Deduktion in der ersten Auflage s. Hoppe, Die transzendentale Deduktion
in der ersten Auflage, in: Mohr/Willaschek (Hrsg.), Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, 1998, S. 159–188. – Die Literatur zur transzendentalen Deduktion ist
unüberschaubar. Siehe nur Henrich, Die Beweisstruktur von Kants transzendentaler Deduktion, in: Prauss (Hrsg.), Kant. Zur Deutung seiner Theorie von Erkennen
und Handeln, 1973, S. 90–104; Hoffmann, Kants transzendentale Deduktion der
Verstandesbegriffe, in: Schmidt/Steigleder/Mojsisch (Hrsg.), Die Aktualität der
Philosophie Kants, 2005, S. 58–79.
119 Kant, KdrV (1781), 2. Aufl. 1787, in: Weischedel (Hrsg.), Bd. 3, S. 126.
120 Kant, KdrV (1781), 2. Aufl. 1787, aaO., S. 125.
121 Kant, KdrV (1781), 2. Aufl. 1787, aaO., S. 126.
Die Philosophie des Südwestdeutschen Neukantianismus
39
nennt diese Rechtfertigungsfrage »Quaestio iuris« und unterscheidet sie von der
Tatsachenfrage, die danach fragt, was die »Tatsache angeht« (sog. »Quaestio
facti«, Kant KdrV 1787)122. Entscheidungsinstanz der Quaestio iuris ist die »Vernunft« (von Kant auch metaphorisch als »Gerichtshof«123 bezeichnet). Kants
»Kritik der reinen Vernunft« ist damit eine Kritik an der Vernunft und durch die
Vernunft124.
Mit Hilfe der transzendentalen Deduktion führt Kant den Nachweis, dass nur
durch Kategorien »überhaupt ein Gegenstand gedacht wird«125. Kategorien sind
die »Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung« und gelten daher – so Kant –
»a priori auch von allen Gegenständen der Erfahrung« (Kant KdrV 1787)126.
Die »objektive Gültigkeit«127 der Kategorien, d. h. deren Notwendigkeit und
Allgemeingültigkeit, führt Kant auf die »transzendentale Einheit des Selbstbewusstseins«128 zurück. Damit ist eine »Urbedingung«129 der menschlichen Erkenntnis gemeint, die – so Kant – alle »Vorstellungen begleiten können
[muß]«130, um sie als »meine Vorstellungen«131 ausweisen zu können. Kant nennt
dies das »Ich denke«132. Ohne diese Urbedingung würde – so Kant weiter – »etwas in mir vorgestellt werden, was gar nicht gedacht werden könnte, welches
ebenso viel heißt, als die Vorstellung würde entweder unmöglich, oder wenigstens für mich nichts sein.« (Kant KdrV 1787)133.
Als Zwischenergebnis zur Quaestio iuris-These können wir festhalten: 1. Die
Quaestio iuris ist die Frage nach der Rechtfertigung der Möglichkeit apriorischer
Erkenntnis; 2. Zur Beantwortung der Quaestio iuris-Frage verwendet Kant die
transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe oder Kategorien;
122 Kant, KdrV (1781), 2. Aufl. 1787, aaO., S. 125.
123 Z. B. Kant, KdrV (1781), 2. Aufl. 1787, in: Weischedel (Hrsg.), Bd. 4, S. 582.
124 Mohr/Willaschek, Einleitung. Kants Kritik der reinen Vernunft, in: Mohr/Willaschek (Hrsg.), Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, 1998, S. 5–36, S. 14.
125 Kant, KdrV (1781), 2. Aufl. 1787, in: Weischedel (Hrsg.), Bd. 3, S. 145.
126 Kant, KdrV (1781), 2. Aufl. 1787, aaO., Bd. 3, S. 155; Text im Orig. kursiv. Für
Einzelheiten zu Kants Kategorienlehre s. nur Baumgartner/Gerhardt/Konhardt/
Schönrich, Kategorie, Kategorienlehre, in: Ritter u. a. (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. IV, 1976, Sp. 727 ff.
127 Kant, KdrV (1781), 2. Aufl. 1787, in: Weischedel (Hrsg.), Bd. 3, S. 141.
128 Kant, KdrV (1781), 2. Aufl. 1787, aaO., Bd. 3, S. 136. Kant nennt sie auch »reine«
oder »ursprüngliche Apperzeption« (vgl. Kant, aaO., S. 136). Näheres zum Begriff
der »Apperzeption« s. Eisler, Kant-Lexikon, 2. Aufl. 1930, S. 34 ff.
129 Eisler, Kant-Lexikon, 2. Aufl. 1930, S. 34.
130 Kant, KdrV (1781), 2. Aufl. 1787, in: Weischedel (Hrsg.), Bd. 3, S. 136.
131 Kant, KdrV (1781), 2. Aufl. 1787, aaO., Bd. 3, S. 136; Text im Orig. kursiv; Hervorh. im Orig. gesperrt.
132 Kant, KdrV (1781), 2. Aufl. 1787, aaO., Bd. 3, S. 136. Für Einzelheiten s. Eisler,
Kant-Lexikon, 2. Aufl. 1930, S. 245 ff.
133 Kant, KdrV (1781), 2. Aufl. 1787, aaO., Bd. 3, S. 136; Text im Orig. kursiv.
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40
3. Mit Hilfe der transzendentalen Deduktion wird der Nachweis geführt, dass
nur durch Kategorien allein Erfahrung möglich ist; 4. Die objektive Gültigkeit
der Kategorien beruht nach Kant auf der transzendentalen Einheit des Selbstbewusstseins.
2. Die Fortschreibung der Kantischen Erkenntnistheorie im
Südwestdeutschen Neukantianismus
Nachdem im vorigen Abschnitt die Erkenntnistheorie Kants in groben Strichen
dargestellt worden ist, geht es im Folgenden um deren Fortschreibung innerhalb
des Südwestdeutschen Neukantianismus. Da die Erkenntnistheorie des Südwestdeutschen Neukantianismus in einigen Punkten über die Lehren Kants hinausgeht, soll bei der weiteren Darstellung zwischen kantischen Motiven einerseits
und spezifisch neukantianischen Motiven andererseits unterschieden werden
(angezeigt durch die Begriffe „Tradition“ und „Transformation“). Die weiteren
Ausführungen beschränken sich zudem auf solche Punkte, die für die weitere
Bearbeitung von Bedeutung sind. Es ist an dieser Stelle nicht möglich und auch
nicht beabsichtigt, die Erkenntnistheorie des Südwestdeutschen Neukantianismus in ihren Einzelheiten darzustellen.134
Zunächst also zu Traditionslinien der Kantischen Erkenntnistheorie im Südwestdeutschen Neukantianismus.
a) Traditionslinien der Kantischen Erkenntnistheorie
Ein wichtiges kantianisches Motiv in der Erkenntnistheorie des Südwestdeutschen Neukantianismus ist die These der Wirklichkeits- bzw. Gegenstandskonstitution (s. oben § 3 I 1.a. >S. 34 f.<, Kopernikus-These).
aa) Der These der Wirklichkeitskonstitution im
Südwestdeutschen Neukantianismus
Die These der Wirklichkeits- bzw. Gegenstandskonstitution hat zum Inhalt, dass
die zu erkennende Wirklichkeit nicht als ein vom Subjekt unabhängiger Gegenstand angesehen wird, sondern als Leistung des erkennenden Subjekts. So heißt
es bei Rickert, dass Erkenntnis »nicht in einer Reproduktion oder in einem Abbilde« besteht, »sondern in einer umbildenden Auffassung der Objekte« (Rickert
Geschichtsphilosophie 1907)135. Und ebenso lesen wir bei Windelband: »Die
134 Siehe hierzu die einführenden Hinw. bei Ollig, Neukantianismus, 1979, S. 113 ff.
135 Rickert, Geschichtsphilosophie (1905), in: Festschrift für Kuno Fischer, 2. Aufl.
1907, S. 332, Hervorh. im Orig. gesperrt; s. auch Rickert, Kulturwissenschaft und
Naturwissenschaft, 6./7. Aufl. 1926, S. 28 ff. Rickert bezeichnet diese Position als
Die Philosophie des Südwestdeutschen Neukantianismus
41
Gegenstände der Erkenntnis […], die wir in den Begriffen denken, sind nicht als
Abbilder des Wirklichen gegeben, sondern im Denken und vom Denken selbst
erzeugt.« (Windelband Präl 1907)136.
(1) Der Urteilscharakter des Erkennens
Die Erkenntnis der Wirklichkeit vollzieht sich dabei nur in Urteilsform137. Nach
Rickert etwa beginnt Erkenntnis »in Urteilen, schreitet in Urteilen fort und kann
nur in Urteilen enden.« (Rickert GE 1921)138. Urteile sind hierbei nur solche, »die
in einer Bejahung oder Verneinung«, d. h. in einer »Entscheidung über wahr
und falsch«139 bestehen. Als Beispiel führt Rickert den Satz »dies ist wirklich«
bzw. – verdeutlichend – »dies ist (ja) wirklich«140 an. Darin werde »durch einen
Urteilakt ›diesem Inhalt‹ die Form ›Wirklichkeit‹ […] bejahend zuerkannt« (Rickert GE 1921)141.
»erkenntnistheoretischen« oder »transzendentalen Idealismus« (Rickert, Der Gegenstand der Erkenntnis, 4./5. Aufl. 1921, S. 309 ff., insb. 316).
136 Windelband, Über die gegenwärtige Lage und Aufgabe der Philosophie (1907), in:
Windelband, Präludien, Bd. 2, 9. Aufl. 1924, S. 17; s. auch schon Windelband, Immanuel Kant (1881), in: Windelband, Präludien, Bd. 1, 9. Aufl. 1924, S. 125 ff.
137 Für Windelband z. B. Windelband, Die Prinzipien der Logik, in: Ruge (Hrsg.),
Encyclopädie der philosophischen Wissenschaften, Bd. 1, 1912, S. 20; für Rickert
siehe z. B. Rickert, Der Gegenstand der Erkenntnis, 4./5. Aufl. 1921, S. 163. Einzelheiten zu Rickerts Urteilslehre bei Paulson, Erkennen als Anerkennen. Die neukantianische Urteilslehre Heinrich Rickerts, in: Haller u. a. (Hrsg.), Festschrift für
Günther Winkler, 1997, S. 751–772.
138 Rickert, Der Gegenstand der Erkenntnis, 4./5. Aufl. 1921, S. 163.
139 Rickert, Der Gegenstand der Erkenntnis, aaO., S. 158, 159. Ebenso heißt es bei
Windelband: »Sobald ein Urteil verneint oder bejaht wird, hat sich mit der theoretischen Funktion auch diejenige einer Beurteilung unter dem Gesichtspunkte der
Wahrheit vollzogen.« (Windelband, Was ist Philosophie? [1882], in: Windelband,
Präludien, Bd. 1, 9. Aufl. 1924, S. 31/32). Windelband unternimmt an dieser Stelle
eine analytische Unterscheidung zwischen dem »Urteil« über die Welt und der
»Beurteilung« über ein anderes Urteil (aaO., S. 29 ff.), und erst in der Beurteilung
liege eine Entscheidung über die Geltung von »Wahrheit« (auch als »Wahrheitswert« bezeichnet, s. Windelband, aaO., S. 32). Für Einzelheiten zur Entwicklung
und zum Stellenwert dieser analytischen Unterscheidung s. Wapler, Werte und das
Recht, 2008, S. 61 ff.; Kemper, Geltung und Problem, 2006, S. 94 ff.
140 Rickert, Der Gegenstand der Erkenntnis, 4./5. Aufl. 1921, S. 162.
141 Rickert, Der Gegenstand der Erkenntnis, aaO., S. 162.
Erster Teil
42
(2) Die Wertbestimmtheit des Erkennens
Diese im Erkenntnisurteil vorgenommene Verknüpfung orientiert sich am
Maßstab der »Wahrheit«142. Windelband143 und Rickert144 bezeichnen diesen
Maßstab als »Wert«145. Das Urteilen bzw. Erkennen wird dadurch – so Rickert –
zu einem »Stellungnehmen zu Werten«146. Im Urteilsakt liege ein »›praktisches
Verhalten‹«, »das im wahren Bejahen einen Wert billigt oder anerkennt und im
wahren Verneinen einen Unwert billigt oder verwirft.« (Rickert GE 1921)147
(Einzelheiten s. unten § 3 III. >S. 70 ff.<). Die Regeln dieses urteilenden Stellungnehmens zu Werten sind geltende bzw. sollende »Normen«148.
142 Z. B. Windelband, Was ist Philosophie? (1882), in: Windelband, Präludien, Bd. 1,
9. Aufl. 1924, S. 31. Der Begriff der »Wahrheit« wird von Windelband nicht im attributiven Sinne (als Aussage über die »Wirklichkeit«) verwendet, sondern in einem logischen Sinne (als Aussage über die »Allgemeingültigkeit« einer Aussage).
Unschädlicher ist der von Windelband parallel verwendete – und seit Frege in der
Aussagenlogik gebräuchliche – Begriff der »Wahrheitswerts« (z. B. Windelband,
Was ist Philosophie? [1882], in: Windelband, Präludien, Bd. 1, 9. Aufl. 1924, S. 32).
143 Siehe z. B. Windelband, Die Prinzipien der Logik, in: Ruge (Hrsg.), Encyclopädie
der philosophischen Wissenschaften, Bd. 1, 1912 (»Wertunterschied des Wahren
und des Falschen«, aaO., S. 5).
144 Z. B. Rickert, System der Philosophie. Erster Teil, 1921, S. 112.
145 Die Terminologie ist allerdings nicht einheitlich. Zum Teil wird der Maßstab der
Beurteilung auch als »Zweck« (z. B. Windelband, Was ist Philosophie? [1882], in:
Windelband, Präludien, Bd. 1, 9. Aufl. 1924, S. 31; Windelband, Kritische oder genetische Methode? [1883], in: Windelband, Präludien, Bd. 2, 9. Aufl. 1924,
S. 122/123) oder als »objektiver Sinn« (z. B. Rickert, Der Gegenstand der Erkenntnis, 4./5. Aufl. 1921, S. 143) bezeichnet. Zudem wird der Begriff auch mit dem Kulturbegriff zu »Kulturwert« verbunden (s. Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, 6./7. Aufl. 1926, S. 95/96: »Allgemeinheit der Kulturwerte«). Weitere
Hinw. siehe unten § 3 III 1.a.bb.(1). >S. 74 f.<.
146 Rickert, Der Gegenstand der Erkenntnis, 4./5. Aufl. 1921, S. 165; ähnl. Windelband,
Kritische oder genetische Methode? (1883), in: Windelband, Präludien, Bd. 2,
9. Aufl. 1924, S. 122.
147 Rickert, Der Gegenstand der Erkenntnis, 4./5. Aufl. 1921, S. 165. – Näheres zu
diesem praktischen Moment s. unten § 3 I 2.b.bb. >S. 55 f.<
148 Siehe z. B. Windelband, Normen und Naturgesetze (1882), in: Windelband, Präludien, Bd. 2, 9. Aufl. 1924, S. 67; ähnl. Windelband, Immanuel Kant (1881), in:
Windelband, Präludien, Bd. 1, 9. Aufl. 1924, S. 136/137 (dort noch mit dem Ausdruck »Regel«) sowie Windelband, Kritische oder genetische Methode? (1883), in:
Windelband, Präludien, Bd. 2, 9. Aufl. 1924, S. 122 (jetzt sind es »Normen«). Für
Einzelheiten zum transzendentalen Beweis der Geltung von Normen s. unten § 3
III 1.b. >S. 76 ff.<
Die Philosophie des Südwestdeutschen Neukantianismus
43
(3) Formen der Wirklichkeitserkenntnis
Entscheidend für den produktiven Umformungsprozess werden – wie schon bei
Kant – die „Formen“ der Erkenntnis bzw. die Kategorien (s. oben Apriorismus-
These, § 3 I 1.c. >S. 36 ff.<). Rickert unterscheidet zwei Arten von Erkenntnisformen, die an diesem Umformungsprozess mitwirken: konstitutive Wirklichkeitsformen und methodologische Formen149.
»Konstitutive Wirklichkeitsformen« (oder »Wirklichkeitskategorien«150) sind
– so Rickert – »Kategorien, die das tatsächlich Gegebene zur objektiven wirklichen Welt gestalten« (Rickert GE 1921)151. Durch sie kommt das »Material für
die Wissenschaften vom Wirklichen zustande«152 (Rickert bezeichnet sie daher
auch »Materialformen«153). Als Beispiele für konstitutive Wirklichkeitsformen
nennt Rickert »Kausalität« oder »Dinghaftigkeit«154.
»Methodologische Formen« haben ebenfalls gestaltende Funktion. Anders
jedoch als die konstitutiven Wirklichkeitsformen bringen sie nicht die objektive
Wirklichkeit hervor, sondern erschaffen die »wissenschaftliche Begriffswelt«155
(Rickert nennt sie daher »Bearbeitungsformen«156 oder »Begriffsformen«157). Als
Beispiel für eine methodologische Form nennt Rickert die »Gesetzlichkeit« bzw.
das »Naturgesetz«158.
(4) Die Irrationalität des Wirklichen als Schranke der Erkenntnis
Dieser produktive Umformungsprozess stößt allerdings auf einige Widerstände
seitens des zu bearbeitenden Materials159. Zu einem zentralen Problem wird
insbesondere die »unübersehbare Mannigfaltigkeit«160 der empirischen Wirk-
149 Rickert, Der Gegenstand der Erkenntnis, 4./5. Aufl. 1921, S. 352 ff.
150 Rickert, Der Gegenstand der Erkenntnis, aaO., S. 356.
151 Rickert, Der Gegenstand der Erkenntnis, aaO., S. 356.
152 Rickert, Der Gegenstand der Erkenntnis, aaO., S. 354; Hervorh. im Orig. gesperrt.
153 Rickert, Der Gegenstand der Erkenntnis, aaO., S. 356.
154 Rickert, Der Gegenstand der Erkenntnis, aaO., S. 356.
155 Rickert, Der Gegenstand der Erkenntnis, aaO., S. 354.
156 Rickert, Der Gegenstand der Erkenntnis, aaO., S. 356.
157 Rickert, Der Gegenstand der Erkenntnis, aaO., S. 354.
158 Rickert, Der Gegenstand der Erkenntnis, aaO., S. 357 ff.
159 Insbesondere Rickert hat sich damit ausführlich auseinandergesetzt. S. vor allem
Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 3./4. Aufl. 1921,
S. 24 ff.; Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, 6./7. Aufl. 1926,
S. 28 ff.
160 Siehe z. B. Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, 6./7. Aufl. 1926,
S. 30; Rickert, Der Gegenstand der Erkenntnis, 4./5. Aufl. 1921, S. 121.
Erster Teil
44
lichkeit, wie es im Sprachgebrauch der Neukantianer heißt161. Rickert unterscheidet hier zwischen einer extensiven und einer intensiven Mannigfaltigkeit162.
Die extensive Mannigfaltigkeit zeigt sich beim Blick »auf das Ganze«163. Hierzu Rickert: »Die körperliche Welt hat keinen für uns erreichbaren Anfang in der
Zeit und keine für uns erreichbare Grenze im Raum.«164 Es finden sich daher
nach Rickert »nirgends scharfe und absolute Grenzen, sondern durchweg allmähliche Uebergänge« (Rickert Grenzen 1921)165. Auf eine intensive Mannigfaltigkeit stößt man dagegen, wenn sich die Erkenntnis auf einen Teil der Wirklichkeit richtet. Nach Rickert kann auch die Beschränkung auf nur einen Ausschnitt der körperlichen Welt »dem Bedürfnis nach genauem Abbild durch die
Erkenntnis wenig helfen«, da jeder »einzelne Körper […] immer noch eine
Mannigfaltigkeit« darbietet, »die um so größer zu werden scheint, je mehr wir
uns in sie vertiefen.« (Rickert Grenzen 1921)166 Die Wirklichkeit zeige hier – so
Rickert – ein »besonderes, eigenartiges, individuelles Gepräge«167.
Als Folge dieser Erkenntnisschranken erweist sich die empirische Wirklichkeit als nicht »erschöpfend abzubilden«168. Rickert bezeichnet sie daher als »irrational«169, das heißt »unerkennbar«170. An anderer Stelle spricht Rickert von Be-
161 Der Begriff ist ein Erbe Kants. »Mannigfaltiges« bezeichnet bei Kant die noch nicht
geformte Wirklichkeit. S. die Hinw. bei Eisler, Kant-Lexikon, 2. Aufl. 1930, S. 336.
162 Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 3./4. Aufl. 1921,
S. 26 ff.
163 Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, aaO., S. 26.
164 Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, aaO., S. 25.
165 Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, aaO., 1921,
S. 31; Hervorh. im Orig. gesperrt; Rickert bezeichnet diese These als »Kontinuität
alles Wirklichen« (aaO., S. 31).
166 Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, aaO., S. 25/26;
ähnlich Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, 6./7. Aufl. 1926, S. 30 f.
167 Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, 6./7. Aufl. 1926, S. 32; Hervorh. im Orig. gesperrt; Rickert nennt dies die »Heterogenität alles Wirklichen«
(aaO., S. 32).
168 Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 3./4. Aufl. 1921,
S. 26.
169 Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, aaO., S. 26;
s. auch Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, 6./7. Aufl. 1926, S. 31.
In Verknüpfung der beiden Thesen von der »Kontinuität« und »Heterogenität« »alles Wirklichen« (s. oben bei § 3 FN 165, 167) von Rickert auch als »heterogenes
Kontinuum« bezeichnet (s. Rickert, Der Gegenstand der Erkenntnis, 4./5. Aufl.
1921, S. 26; Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, 6./7. Aufl. 1926,
S. 32; Rickert, Der Gegenstand der Erkenntnis, 4./5. Aufl. 1921, S. 122).
170 Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, 6./7. Aufl. 1926, S. 31. – Zu
dieser These der Irrationalität des Wirklichen siehe z. B. Bohlken, Grundlagen einer
interkulturellen Ethik, 2002, S. 24 ff.
Die Philosophie des Südwestdeutschen Neukantianismus
45
stehen einer »Kluft« zwischen »dem Inhalt der Begriffe und dem der Wirklichkeit« (Rickert KuN 1926)171.
(5) Die Überwindung der Irrationalität des Wirklichen durch
wissenschaftliche Begriffsbildung
Die Überwindung der Irrationalität des Wirklichen sowie der Kluft zwischen
Wirklichkeit und Begriff wird Aufgabe der Wissenschaft. Entscheidende Bedeutung gewinnt an dieser Stelle die wissenschaftliche Begriffsbildung, die Rickert
als Kern wissenschaftlichen Arbeitens ansieht.172 Die wissenschaftliche Begriffsbildung soll der »Vereinfachung«173 der unübersehbaren Mannigfaltigkeit der
Wirklichkeit dienen. Die wissenschaftliche Begriffsbildung sucht hierzu nach
einem »Prinzip der Auswahl«, nach dem »im gegebenen Stoffe […] das Wesentliche vom Unwesentlichen« geschieden werden kann174. Ein solches Prinzip hat –
so Rickert – »einen formalen Charakter«, wodurch auch »der Begriff der wissenschaftlichen ›Form‹ klar« werde (Rickert KuN 1926)175.
Rickert arbeitet in diesem Zusammenhang zwei mögliche Auswahlprinzipien
heraus: das generalisierende Verfahren und das individualisierende Verfahren176.
So wird die empirische Wirklichkeit »Natur, wenn wir sie betrachten mit Rücksicht auf das Allgemeine«, und »sie wird Geschichte, wenn wir sie betrachten mit
Rücksicht auf das Besondere und Individuelle« (Rickert KuN 1926)177.
171 Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, aaO., S. 43.
172 Rickert, Der Gegenstand der Erkenntnis, 4./5. Aufl. 1921, S. 376. Rickert kennt
zudem »eine Art von unwillkürlicher Begriffsbildung«, die schon einsetzt, bevor
»die Wissenschaft an ihre Arbeit geht«, und die der Wissenschaft als Material dient
(von Rickert als »vorwissenschaftlich[e] Begriffsbildung« bezeichnet). Hierzu Rickert, Geschichtsphilosophie (1905), in: Festschrift für Kuno Fischer, 2. Aufl. 1907,
S. 333; ebenso Lask, Rechtsphilosophie (1905), in: Festschrift für Kuno Fischer,
2. Aufl. 1907, S. 269–320, S. 299). Näheres zur vorwissenschaftlichen Begriffsbildung bei Rickert s. Bohlken, Grundlagen einer interkulturellen Ethik, 2002, S. 28 ff.
173 Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 3./4. Aufl. 1921,
S. 30 f.
174 Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, 6./7. Aufl. 1926, S. 35; Hervorh. im Orig. gesperrt.
175 Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, aaO., S. 35; Hervorh. im Orig.
gesperrt.
176 Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, aaO., S. 55 ff. Rickert, Die
Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 3./4. Aufl. 1921, S. 173. Zu
den Folgerungen für eine Unterscheidung von Wissenschaften in generalisierende
Naturwissenschaften und individualisierende (historische) Kulturwissenschaften
siehe unten § 3 I 2.a.bb.(2). >S. 48 ff.<
177 Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, 6./7. Aufl. 1926, S. 55; Text im
Orig. gesperrt; ähnl. Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbil-
Erster Teil
46
Das individualisierende Verfahren wird von Rickert auch als theoretische
Wertbeziehung bezeichnet. Das Konzept der „Wertbeziehung“ ist ein zentraler
Bestandteil des wertphilosophischen Begründungsprogramms und wird an anderer Stelle ausführlicher behandelt (s. unten § 3 III. >S. 70 ff.<).
(6) Die Objektivität der Wirklichkeitserkenntnis
Die Objektivität der Wirklichkeitserkenntnis kann nach Meinung der südwestdeutschen Neukantianer nur durch einen Maßstab garantiert werden, der von
seinem Gegenstand, d. h. der Wirklichkeit, »in theoretischer Hinsicht unabhängig ist.« (Rickert GE 1921)178.
Als ein solcher Maßstab fungiert das geltende Sollen179. Mit jedem Erkennen
bzw. Urteilen wird ein vom Subjekt unabhängiges, d. h. »transzendentes Sollen«
anerkannt.180 Die Anerkennung der transzendenten Geltung des Sollens ist – so
Rickert – »Voraussetzung jedes Urteils« (Rickert GE 1921)181 und Ausdruck einer
»Urteilsnotwendigkeit«182 oder auch »Sollens-Notwendigkeit«183. Das Bewusstsein, das dieses geltende Sollen notwendigerweise anerkennt, ist das »Bewusstsein
überhaupt« (Rickert GE 1921184) bzw. das »Normalbewusstein« (Windelband Präl
1881185).
Die weitere Begründung der transzendenten Geltung des Sollens bildet das
argumentative Kernstück des transzendentalphilosophischen Begründungsprogramms des Südwestdeutschen Neukantianismus (ihm ist in § 3 III. >S. 70 ff.<
ein eigener Abschnitt gewidmet).
dung, 3./4. Aufl. 1921, S. 173. Letzteres bezeichnet das Konzept der theoretischen
Wertbeziehung (Einzelheiten später, s. § 3 II 2.a. >S. 62< und § 3 III 1.a.bb.(3).
>S. 76<).
178 Rickert, Der Gegenstand der Erkenntnis, 4./5. Aufl. 1921, S. 205.
179 Zum Verhältnis von »Geltung« und »Sollen« s. unten § 3 III 1.b.aa. >S. 77 f.<
180 S. Rickert, Der Gegenstand der Erkenntnis, 4./5. Aufl. 1921, S. 171 ff., S. 205 ff.
181 Rickert, Der Gegenstand der Erkenntnis, aaO., S. 315.
182 Rickert, Der Gegenstand der Erkenntnis, aaO., S. 171 ff., Zitat S. 177.
183 Rickert, Der Gegenstand der Erkenntnis, aaO., S. 315, ähnl. S. 179.
184 Rickert, Der Gegenstand der Erkenntnis, aaO., S. 41 ff., insb. S. 42 (auch »erkenntnistheoretisches Subjekt« genannt); s. auch Windelband, Was ist Philosophie?
(1882), in: Windelband, Präludien, Bd. 1, 9. Aufl. 1924, S. 46. Das »Bewusstsein
überhaupt« ist bei Kant entlehnt (zur Verwendung bei Kant s. die Nachw. bei Eisler, Kant-Lexikon, 2. Aufl. 1930, S. 68). Näheres zum Rickertschen Begriff des »Bewusstseins überhaupt« s. unten § 3 III 1.b.aa.(1). >S. 77< sowie Wapler, Werte und
das Recht, 2008, S. 80 f.
185 Siehe z. B. Windelband, Immanuel Kant (1881), in: Windelband, Präludien, Bd. 1,
9. Aufl. 1924, S. 139; Windelband, Einleitung in die Philosophie, 3. Aufl. 1923,
S. 255. Einzelheiten zu Windelbands »Normalbewusstein« s. unten § 3 III 1.b.aa.(1).
>S. 77 f.< sowie Wapler, Werte und das Recht, 2008, S. 65 f.
Die Philosophie des Südwestdeutschen Neukantianismus
47
bb) Der Vorrang des Methodengedankens im
Südwestdeutschen Neukantianismus
Ein weiteres wichtiges kantianisches Motiv in der Erkenntnistheorie des Südwestdeutschen Neukantianismus ist der Vorrang des Methodengedankens (siehe
oben Methoden-These, § 3 I 1.a. >S. 34 ff.<).
(1) Die Transzendentale Methode in der Erkenntnistheorie des
Südwestdeutschen Neukantianismus
Klaren Ausdruck findet der kantische Methodengedanke zunächst durch die
Anwendung der Transzendentalen bzw. Kritischen Methode.
Die südwestdeutschen Neukantianer versehen ihre philosophischen Lehren
häufig mit dem Zusatz »kritisch«186. Beispiele sind: »kritische Methode«187 oder
»kritische Wissenschaft«188 (Windelband Präl 1883, 1882). Damit stellen sie sich
nicht nur begrifflich in die Tradition der Kantischen Erkenntniskritik. Die südwestdeutschen Neukantianer nehmen damit auch inhaltlich Bezug auf die Kritische oder Transzendentale Methode Kants (s. § 3 I 1.a. >S. 34 ff.<, Methoden-
These).
Dies zeigt sich natürlich vor allem in dem grundsätzlichen Verlangen nach
einer wissenschaftlichen, d. h. erkenntnistheoretischen bzw. erkenntniskritischen Grundlegung der Philosophie (häufig als »Primat der Erkenntnistheorie«
bezeichnet189). Bei Rickert heißt es: »wer das Weltganze wissenschaftlich erfassen
will, muß sich zuerst darüber klar sein, worin das wissenschaftliche Erkennen
überhaupt besteht. Nur so kann die Philosophie den ›sicheren Gang einer Wissenschaft‹ gehen.« (Rickert Tradition 1934)190.
186 Das erkenntniskritische Motiv des Neukantianismus wird mitunter für so entscheidend gehalten, dass es angemessen erscheint, den Neukantianismus als »Neokritizismus« zu bezeichnen. Hierzu z. B. Oesterreich, Friedrich Ueberwegs Grundriß der Geschichte der Philosophie, Teil 4, 13. Aufl. 1951, § 36 (S. 416).
187 Windelband, Kritische oder genetische Methode? (1883), in: Windelband, Präludien, Bd. 2, 9. Aufl. 1924, S. 109.
188 Windelband, Was ist Philosophie? (1882), in: Windelband, Präludien, Bd. 1,
9. Aufl. 1924, S. 29.
189 Z. B. Ollig, Neukantianismus, 1979, S. 4.
190 Rickert, Die Heidelberger Tradition und Kants Kritizismus (1934), in: Bast (Hrsg.),
Rickert. Philosophische Aufsätze, S. 355; Hervorh. im Orig. Dieser Anspruch zeigt
sich auch deutlich darin, dass Rickert sein erkenntnistheoretisches Hauptwerk »Der
Gegenstand der Erkenntnis« ab der zweiten Auflage (1903) mit dem Titelzusatz
»Einführung in die Transzendental-Philosophie« versieht (s. zudem den Hinw. im
Vorwort zur 2. Aufl. [zit. nach der 4./5. Aufl. 1921], S. VI f.).
Erster Teil
48
(2) Die formale Klassifikation der empirischen Wissenschaften in der
Wissenschaftstheorie des Südwestdeutschen Neukantianismus
Ein weiterer Beleg für den Vorrang des kantischen Methodengedankens im
Südwestdeutschen Neukantianismus zeigt sich – modern gesprochen – in der
Wissenschaftstheorie des Südwestdeutschen Neukantianismus.
Die umgangreichsten wissenschaftstheoretischen Ausführungen finden sich
in Rickerts Werk »Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung« (Rickert GE 1. Auflage 1896/1902, 6. und letzte Auflage 1928)191. Wichtige Vorarbeiten, an die Rickert zum Teil anknüpft, stammen zudem von Windelband192.
(a) Zwei Grundformen wissenschaftlicher Darstellung
Ziel der wissenschaftstheoretischen Ausführungen ist – so Rickert – die Herausarbeitung von zwei »entgegengesetzten Grundformen« der einzelwissenschaftlichen Darstellung193.
Rickert unterscheidet zwischen einer generalisierenden und individualisierenden Betrachtungsweise194. Bei Rickert heißt es: »Die Wirklichkeit wird Natur,
wenn wir sie betrachten mit Rücksicht auf das Allgemeine, sie wird Geschichte,
wenn wir sie betrachten mit Rücksicht auf das Besondere und Individuelle, und
ich will dementsprechend dem generalisierenden Verfahren der Naturwissenschaft das individualisierende Verfahren der Geschichte [d. h. Geschichtswissenschaft, Erg. d. Verf.] gegenüberstellen.« (Rickert KuN 1926)195.
191 Heinrich Rickert, Der Gegenstand der Erkenntniss. Ein Beitrag zum Problem der
philosophischen Transcendenz, 1. Aufl. Tübingen 1892; 6. (letzte) Aufl. 1928 unter
dem Titel »Der Gegenstand der Erkenntnis. Einführung in die Transzendentalphilosophie«. Weitere, »wegen der unvermeidlichen Kürze […] unvollständig[e]«
Ausführungen finden sich zudem in Rickerts Vortragsdruck »Kulturwissenschaft
und Naturwissenschaft«. S. Heinrich Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, 6./7. Aufl. 1926 (1. Aufl. Freiburg i. Br. 1899).
192 Siehe z. B. Windelband, Geschichte und Naturwissenschaft (1894), in: Windelband,
Präludien, Bd. 2, 9. Aufl. 1924, S. 136–160.
193 Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, 6./7. Aufl. 1926, S. 17.
194 Windelband unterscheidet zwischen einer nomothetischen und idiographischen
Methode und gliedert die empirischen Wissenschaften entsprechend in nomothetische Gesetzeswissenschaften und idiographische Ereigniswissenschaften. Bei
Windelband heißt es hierzu: »[D]ie Erfahrungswissenschaften suchen in der Erkenntnis des Wirklichen entweder das Allgemeine in der Form des Naturgesetzes
oder das Einzelne in der geschichtlich bestimmten Gestalt […]«. (s. Windelband,
Geschichte und Naturwissenschaft [1894], in: Windelband, Präludien, Bd. 2,
9. Aufl. 1924, S. 145).
195 Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, 6./7. Aufl. 1926, S. 55/56; im
Orig. teilw. gesperrt; ähnl. Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 3./4. Aufl. 1921, S. 173.
Die Philosophie des Südwestdeutschen Neukantianismus
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Die Unterscheidung von generalisierenden Naturwissenschaften und individualisierender Geschichtswissenschaft bzw. Kulturwissenschaft (wie sie Rickert
auch nennt196) ist allerdings nur ein »allgemeines Schema«197, eine Darstellung
von »Extremen« (Rickert KuN 1926)198, mit der Rickert »keine erschöpfende
Klassifikation aller Wissenschaften« (Rickert Grenzen 1921) erstrebt.199 Besonderes Augenmerk richtete Rickert dabei auf die Naturwissenschaften und die naturwissenschaftliche Begriffsbildung, deren Führungsanspruch die Neukantianer
von Anfang an zum Widerstand reizte200. In den »Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung« stellt sich Rickert der Aufgabe, zu untersuchen,
»auf welchen Gebieten die Bildung von Begriffen nach naturwissenschaftlicher
Methode einen Sinn hat, und auf welchen […] sie diesem Sinn notwenig verlieren muß« (Rickert Grenzen 1921)201.
(b) Die generalisierende Begriffsbildung der Naturwissenschaften
Ausgangspunkt jeder empirischen Wissenschaft und damit auch der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung ist »die unmittelbar erfahren[e] Wirklichkeit
in ihrer Anschauung und Individualität« (Rickert Grenzen 1921)202. Diese kön-
196 Vgl. Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, aaO., S. 1; s. auch Rickert,
Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 3./4. Aufl. 1921, S. 22.
Rickert übernimmt den Begriff »Kulturwissenschaft« nach eigener Aussage von
dem Germanisten Hermann Paul (s. Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, 6./7. Aufl. 1926, S. 23 mit Fußn. 1, dort mit Hinw. auf Paul, Prinzipien der
Sprachgeschichte, 1. Aufl. Halle 1880). Der Begriff »Kulturwissenschaft« dient als
Sammelbegriff für »nichtnaturwissenschaftlich[e] empirisch[e] Disziplinen« (Rickert, aaO., S. 1) und soll den alten Begriff »Geisteswissenschaft« ablösen, der sich,
wie sich am Beispiel neuer Disziplinen wie der Psychologie zeigte, als nicht mehr
trennscharf erwies. Nach der alten Klassifikation in Natur- und Geisteswissenschaften hätte die Psychologie nämlich eine Doppelstellung inne gehabt, indem sie
einerseits ihrem Gegenstand nach eine Geisteswissenschaft, andererseits aber ihrer
Methode nach eine Naturwissenschaft darstellt (s. Rickert, aaO., S. 10 ff.; so schon
Windelband, Geschichte und Naturwissenschaft [1894], in: Windelband, Präludien,
Bd. 2, 9. Aufl. 1924, S. 142 ff.).
197 Rickert, Geschichtsphilosophie (1905), in: Festschrift für Kuno Fischer, 2. Aufl.
1907, S. 369.
198 Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, 6./7. Aufl. 1926, S. 3, 102.
199 Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 3./4. Aufl. 1921,
S. 22; Hervorh. im Orig. gesperrt. Auf diesen typologischen Charakter der Rickert’schen Unterscheidung weist z. B. Bohlken hin (»Grundlagen einer interkulturellen Ethik«, 2002, S. 45).
200 Siehe schon oben § 1 >S. 24 ff.<.
201 Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 3./4. Aufl. 1921,
S. 15.
202 Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, aaO., S. 173.
Erster Teil
50
nen wir zwar »ihrem Inhalt nach unmittelbar ›erleben‹ oder ›erfahren‹, aber
sobald wir den Versuch machen, sie durch die Naturwissenschaft zu begreifen,
entweicht uns immer gerade das von ihr, woraus sie als Wirklichkeit besteht.«
(Rickert Grenzen 1921)203.
Zur Überwindung dieses Problems braucht – so Rickert – jede Wissenschaft
ein »Prinzip der Auswahl, »um das Wesentliche vom Unwesentlichen scheiden«
(Rickert KuN 1926)204 sowie um das »anschaulich[e] Material umzuformen und
unter Begriffe zu bringen.« (Rickert Grenzen 1921)205.
Als typisches Auswahlprinzip der Naturwissenschaften nennt Rickert das generalisierende Verfahren. Rickert schreibt: »Die Wirklichkeit wird Natur, wenn
wir sie betrachten mit Rücksicht auf das Allgemeine […].« (Rickert KuN
1926)206. Eine »naturwissenschaftliche Theorie [steht] um so höher, je mehr sie
diese Unübersehbarkeit [der Mannigfaltigkeit, S. Z.] überwunden und damit das
Irrationale rational gemacht hat […].« (Rickert Grenzen 1921)207.
Allerdings lassen sich nicht alle Probleme der Wirklichkeit über das generalisierendes Verfahren der Naturwissenschaften lösen. Gerade die »Wirklichkeit in
ihrer Besonderheit und Individualität« bildet für Rickert die »Grenze für jede
naturwissenschaftliche Begriffsbildung« (Rickert KuN 1926)208. Es entsteht daher
das Erfordernis einer neuen Methode, die dieser »Besonderheit und Individualität« gerecht werden kann. Diese Methode ist die individualisierende Begriffsbildung.
(c) Die individualisierende Begriffsbildung der Kulturwissenschaften
Ausgangspunkt der individualisierenden Begriffsbildung ist, wie bei jeder empirischen Wissenschaft, die unmittelbar erfahrene Wirklichkeit. Abermals sieht
sich die Wissenschaft dem Problem der »unübersehbaren Mannigfaltigkeit«209
203 Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 3./4. Aufl. 1921,
S. 151.
204 Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, 6./7. Aufl. 1926, S. 35.
205 Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 3./4. Aufl. 1921,
S. 173; Hervorh. im Orig. gesperrt.
206 Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, 6./7. Aufl. 1926, S. 55; ähnl.
Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 3./4. Aufl. 1921,
S. 173. Nach Windelbands Terminologie »nomothetisches« Verfahren (s. Windelband, Geschichte und Naturwissenschaft [1894], in: Windelband, Präludien, Bd. 2,
9. Aufl. 1924, S. 145).
207 Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 3./4. Aufl. 1921,
S. 163.
208 Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, 6./7. Aufl. 1926, S. 45; ähnl.
Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 3./4. Aufl. 1921,
S. 152.
209 Rickert, Der Gegenstand der Erkenntnis, 4./5. Aufl. 1921, S. 121.
Die Philosophie des Südwestdeutschen Neukantianismus
51
gegenüber und wird herausgefordert, diese unübersehbare Mannigfaltigkeit
durch ein »Prinzip der Auswahl« des Wesentlichen und Unwesentlichen zu
überwinden.
Die besondere Herausforderung der historischen Begriffsbildung liegt dabei
nach Ansicht von Rickert darin, zu untersuchen, »ob eine wissenschaftliche Bearbeitung und Vereinfachung der anschaulichen Wirklichkeit möglich ist, ohne
daß in ihr […] zugleich auch die Individualität verloren geht.« (Rickert Grenzen
1921)210. Die historische Begriffsbildung nämlich bringt nach Rickert die »Individualität des empirischen Seins zum Ausdruck«211. Und weiter: »Die Wirklichkeit wird […] Geschichte, wenn wir sie betrachten mit Rücksicht auf das Besondere und Individuelle« (Rickert KuN 1926)212.
Die Lösung für diese Anforderungen ist die sog. „Wertbeziehung“ (Einzelheiten s. § 3 III 1.a.bb.(3). >S. 76 f.<). Rickert schreibt dazu: »Durch die Werte, die
an der Kultur haften, und durch die Beziehung auf sie wird der Begriff einer
darstellenden historischen Individualität als eines realen Trägers von Sinngebilden erst konstituiert.« (Rickert KuN 1926)213. Die Wertbeziehung bietet der historischen Begriffsbildung »das Prinzip zur Auswahl des Wesentlichen aus der
Wirklichkeit« (Rickert KuN 1926)214. Durch Wertbeziehungen entstehen – so
Rickert – »individualisierende historische Begriffe, die trotzdem einen allgemeinen Inhalt haben, d. h. das zusammenfassen, was allen Individuen einer Gruppe
gemeinsam ist.«215 Rickert spricht daher auch von „wertbeziehender“ Begriffsbildung216. Wertbeziehend bedeutet damit: unter »Rücksicht auf den leitenden
210 Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 3./4. Aufl. 1921,
S. 231; im Orig. komplett gesperrt.
211 Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, aaO., S. 257.
212 Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, 6./7. Aufl. 1926, S. 55, im Orig.
teilw. gesperrt; ähnl. Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 3./4. Aufl. 1921, S. 173.
213 Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, 6./7. Aufl. 1926, S. 81; Hervorh. im Orig. gesperrt.
214 Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, aaO., S. 81; Hervorh. im Orig.
gesperrt.
215 Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 3./4. Aufl. 1921,
S. 334; Hervorh. im Orig. gesperrt.
216 Hierzu Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung,
3./4. Aufl. 1921, S. 256 ff. Rickert spricht auch von »teleologische[n] Begriffsbildungen«, insofern man sich daran gewöhnt habe, »jede Betrachtung, in der Werte eine entscheidende Rolle spielen, ›teleologisch‹ zu nennen.« (s. Rickert, aaO.,
S. 259, im Orig. teilw. gesperrt). Zur Bedeutung des teleologischen bzw. wertbeziehenden Verfahrens für die juristische Begriffsbildung s. § 3 II 2.b. >S. 62 ff.<.
Erster Teil
52
Wert wesentlich« (Rickert Grenzen 1921)217. Die Wertbeziehung ist das Charakteristikum der Geschichtswissenschaft und anderer Kulturwissenschaften.218
(d) Der Wissenschaftscharakter der Einzelwissenschaften
Das individualisierende Verfahren der Kulturwissenschaften hat vielfältige Anwendung auf die nicht-naturwissenschaftlichen Einzelwissenschaften gefunden:
allen voran die Geschichtswissenschaft219, die Sozialwissenschaften220, aber auch
– für uns am interessantesten – auf die Rechtswissenschaft (hierzu unten § 3 II 2.
>S. 61 ff.<).
b) Transformationen der Kantischen Erkenntnistheorie
Als nächstes zu Transformationen der Kantischen Erkenntnistheorie im Südwestdeutschen Neukantianismus. Wie bereits angedeutet, sollen unter „Transformationen“ die spezifisch neukantianischen Neu- und Weiterentwicklungen
der Kantischen Erkenntnistheorie dargestellt werden.
aa) Die Anwendung der Kantischen Erkenntnistheorie auf
Gebiete jenseits von theoretischer Naturerkenntnis
Eine wichtige neukantianische Erweiterung der Kantischen Erkenntnistheorie
betrifft deren Anwendung auf Gebiete jenseits von theoretischer Naturerkenntnis.
Erkenntnistheoretisch abgesicherte »theoretische Erkenntnis« war nach Kant
auf Gegenstände beschränkt, »die in einer möglichen Erfahrung gegeben werden
können«, d. h. »Naturerkenntnis« (Kant KdrV 1787)221. In allen anderen Fällen,
»wenn sie auf einen Gegenstand […] geht, wozu man in keiner Erfahrung gelangen kann«, war sie bloß »spekulativ«, d. h. Ausdruck ungesicherter Erkenntnis.
217 Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 3./4. Aufl. 1921,
S. 262.
218 Die Besonderheiten der individualisierenden Begriffsbildung wurden gleichwohl
zunächst anhand der Geschichtswissenschaft problematisiert (s. vor allem Windelband, Geschichte und Naturwissenschaft [1894], in: Windelband, Präludien, Bd. 2,
9. Aufl. 1924, 136–160).
219 Hierzu jüngst Kemper, Geltung und Problem, 2006.
220 Hier ist vor allem Max Weber zu nennen. S. hierzu Wagner/Zipprian, Max Weber
und die neukantianische Epistemologie (1985), in: Ollig (Hrsg.), Materialien zur
Neukantianismus-Diskussion, 1987, S. 184–216; Oakes, Die Grenzen kulturwissenschaftlicher Begriffsbildung, 1990.
221 Kant, KdrV (1781), 2. Aufl. 1787, in: Weischedel (Hrsg.), Bd. 4, S. 538.
Die Philosophie des Südwestdeutschen Neukantianismus
53
Entsprechend beschäftigte sich die Kantische Wissenschaftstheorie im Schwerpunkt mit der empirischen Naturwissenschaft und der Mathematik.
Die südwestdeutschen Neukantianer hielten diese Beschränkung Kants für zu
eng, da in dieser Konzeption – so Rickert – »das atheoretische Leben […] nirgends zu seinem vollen Recht« komme (Rickert Kant 1924)222. Die Rede vom
„Atheoretischen“ beruht auf einem nicht immer einheitlichen Sprachgebrauch
von Rickert223 und soll daher an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden soll224.
Für unseren Zusammenhang ist allein wichtig, dass der Sammelbegriff des
Atheoretischen aufs Engste mit dem Begriff der Kultur (und damit des Wertes)
verbunden ist225, der von den Neukantianern als Gegenbegriff zur Natur entwickelt wurde (Einzelheiten später, s. § 3 II 1. >S. 57 ff.<). Durch die Einbeziehung
»atheoretische[r] Werte der Kultur« soll es möglich sein, »[a]lles Kulturleben
[…] in der Theorie der Kultur zur Geltung« zu bringen (Rickert Kant 1924)226.
222 Rickert, Kant als Philosoph der modernen Kultur, 1924, S. 130. Die Einbeziehung
des Atheoretischen ist zugleich ein Kampf gegen die Vorherrschaft des Irrationalen
z. B. in der aufkommenden Lebensphilosophie. Nach Rickert erscheint »auch die
Anerkennung des Irrationalen wissenschaftlich nicht anders möglich als dadurch,
daß man Begriffe davon bildet«. Daher gehe das Bestreben »überall dahin, den irrationalen wie den rationalen Bestandteilen der Welt in gleicher Weise gerecht zu
werden« (Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung,
3./4. Aufl. 1921, S. XVIII, Vorwort zur 3./4. Aufl. 1921). Programmatisch ist insoweit Rickerts Schrift »Die Philosophie des Lebens« (1. Aufl. Tübingen 1920, 2. Aufl.
1922), die nach eigener Aussage eine »Kampfschrift gegen die Modeströmungen
des Irrationalismus« darstellt (Rickert, aaO.).
223 Ein Parallelbegriff ist der Begriff des »Irrationalen« im Kulturleben. Als Beispiele
nennt Rickert das Religiöse und das Künstlerische. S. Rickert, Kant als Philosoph
der modernen Kultur, 1924, S. 147 f.
224 Die Forderung nach Einbeziehung des Atheoretischen bezeichnet Rickert als
»atheoretisches Pathos« (Rickert, Kant als Philosoph der modernen Kultur, 1924,
S. 142 f.). Dieses vermittele zwischen zwei Extrempositionen, die jeweils ihre Vorstellungen zum alleinigen Maßstab erheben: einerseits die Verabsolutierung des
rein Theoretischen durch den »Intellektualismus«, der »alle anderen Werte als die
intellektuellen« ablehnt (Rickert, aaO., S. 142), andererseits die Verabsolutierung
des Nicht-Theoretischen durch »Anti-Intellektualismus« und »Anti-Rationalismus«, für die »Gefühl, Wille, alles ›Emotionale‹ überhaupt […] im Vordergrund
[steht]« (Rickert, aaO., S. 142/143). Die Mittelstellung des atheoretischen Pathos
ergebe sich daraus, dass es sowohl die rein »theoretische Wertung« in der »Wissenschaft« als auch die »atheoretische Wertung« innerhalb des »außerwissenschaftlichen Leben[s]« berücksichtige (Rickert, aaO., S. 143).
225 Z. B. Rickert, Kant als Philosoph der modernen Kultur, 1924, S. 120 ff. u. ö.
226 Rickert, Kant als Philosoph der modernen Kultur, 1924, S. 145; ähnl. Windelband,
Die Erneuerung des Hegelianismus (1910), in: Windelband, Präludien, Bd. 1,
9. Aufl. 1924, z. B. S. 274 (Kants Transzendentalphilosophie als »die Wissenschaft
von den Prinzipien alles dessen, was wir jetzt mit dem Namen Kultur zusammenfassen«). Für Einzelheiten s. § 3 II 1.d.bb. >S. 59 ff.< (Kultur als Aufgabe).
Erster Teil
54
Umfasst sind damit sämtliche kulturellen Phänomene227 wie beispielsweise Phänomene des Moralischen, des Ästhetischen, des Rechtlichen, des Religiösen
etc.228.
Ziel ist die Entwicklung eines »Kulturbewußtseins«, das sowohl die »Selbständigkeit und Eigenbedeutung der verschiedenen Kulturgebiete« als auch die
»Geschlossenheit der Gesamtkultur« zum Ausdruck bringt (Rickert Kant
1924).229 Die Synthese von Vielheit und Einheit der Kultur wird für die Neukantianer zum Grundproblem der modernen Kultur.
Zur Lösung dieses Problems berufen sich die südwestdeutschen Neukantianer auf Kant, der – so Rickert – »als erster Denker in Europa die allgemeinsten
theoretischen Grundlagen geschaffen [hat], die wissenschaftliche Antworten auf
spezifisch moderne Kulturprobleme überhaupt möglich machen […].« (Rickert
Kant 1924)230. Zwar sei eine direkte Anwendung der Kantischen Philosophie
nicht möglich, da – wie Rickert einräumt – »[v]iele Teile der kritischen Philosophie […] wissenschaftlich überholt« seien (Rickert Kant 1924)231. Gleichwohl
gebe es bei Kant Gedanken, »die in die Zukunft weisen« und »ganz neue Perspektiven für eine Philosophie der modernen Kultur überhaupt [eröffnen].«
(Rickert Kant 1924)232. Einer dieser Gedanken ist die Anwendung der Transzendentalen Methode Kants auf Phänomene der modernen Kultur233. Diese Vorge-
227 Rickert spricht von der »Mannigfaltigkeit des modernen Kulturlebens« (Rickert,
Kant als Philosoph der modernen Kultur, 1924, S. 150). Windelband spricht vom
»Verständnis aller Kulturfunktionen« (s. Windelband, Kulturphilosophie und
transzendentaler Idealismus [1910], Windelband, Präludien, Bd. 2, 9. Aufl. 1924,
S. 281).
228 Zu den Kulturbereichen im Einzelnen s. § 3 II. >S. 56 ff.<
229 Rickert, Kant als Philosoph der modernen Kultur, 1924, S. 150.
230 Rickert, Kant als Philosoph der modernen Kultur, aaO., S. 141; Hervorh. im Orig.
gesperrt.
231 Rickert, Kant als Philosoph der modernen Kultur, aaO., Vorwort, S. VIII.
232 Rickert, Kant als Philosoph der modernen Kultur, aaO., S. 140.
233 Für Rickert: ders., Kant als Philosoph der modernen Kultur, aaO., Kap. 11 (»Die
Kritische Überwindung des Intellektualismus«, aaO., S. 151 ff.) und Kap. 12 (»Die
Kritische Theorie des Atheoretischen«, aaO., S. 166 ff.). Für Windelband: ders., Die
Erneuerung des Hegelianismus (1910), in: Windelband, Präludien, Bd. 1, 9. Aufl.
1924, z. B. S. 274 (Kants Transzendentalphilosophie als »die Wissenschaft von den
Prinzipien alles dessen, was wir jetzt mit dem Namen Kultur zusammenfassen«,
Kants Vernunftkritik als »die wissenschaftliche Bloßlegung der logischen Struktur
aller Kulturfunktionen«).
Ein weiterer Gedanke ist Kants Religionsphilosophie, die für Rickert zentraler
Beleg für die Modernität Kants darstellt (s. hierzu das Kap. 13: »Glauben und Wissen«, aaO., S. 187 ff.). In seiner 1934 erschienenen »Selbstdarstellung« heißt es gar,
dass »der Abschluß einer kritischen Philosophie, die im Sinne Kants weiterarbeiten
will, nur in einer Religionsphilosophie liegen« könne (Rickert, Die Heidelberger
Tradition und Kants Kritizismus [1934], in: Bast [Hrsg.], Rickert. Philosophische
Die Philosophie des Südwestdeutschen Neukantianismus
55
hensweise ist der Kern der „kritischen Kulturphilosophie“ des Südwestdeutschen
Neukantianismus (Einzelheiten s. unten § 3 III. >S. 70 ff.<).234
bb) Die Untrennbarkeit von theoretischem und
praktischem Verhalten im Erkennen
Eine zweite wichtige neukantianische Erweiterung der Kantischen Erkenntnistheorie betrifft die Untrennbarkeit von theoretischem und praktischem Verhalten im Erkennen.
Wie bereits an anderer Stelle ausgeführt, interpretieren die südwestdeutschen
Neukantianer den Erkenntnisvorgang als ein praktisches Stellungnehmen zu
Werten235. Dieses Stellungnehmen zu Werten wird von den südwestdeutschen
Neukantianern als Ausdruck von Autonomie verstanden236. Rickert schreibt
dazu: »[W]ir [müssen] auch den Menschen autonom nennen, der nichts anderes
als Wahrheit sucht und dabei das Wahre um des Wahren willen, also wegen
seines theoretischen Wertes, frei bejaht, das Falsche dagegen wegen seiner
Falschheit frei verneint.« (Rickert Tradition 1934)237.
Mit der These, dass bereits das theoretische Erkennen von einem praktischen
Moment durchzogen ist – Rickert spricht insoweit von einem »logischen Imperativ« oder einem »als Imperativ anerkannten Sollen«238 – wird die bei Kant durchgeführte Trennung zwischen theoretischem und praktischem Verhalten hinfällig239. Wir erinnern uns: Kant unterschied zwischen theoretischer und prakti-
Aufsätze, S. 400; weit. Hinw. s. Bohlken, Grundlagen einer interkulturellen Ethik,
2002, S. 181 ff.; Ollig, Die Religionsphilosophie der Südwestdeutschen Schule
(1985), in: Ollig [Hrsg.], Materialien zur Neukantianismus-Diskussion, S. 438 ff.).
Auch für Windelband ist die Religion ein zentrales Motiv der Wert- und Kulturphilosophie. Ihre Norm des »Heiligen« sei »Inbegriff der Normen, die das logische,
ethische und ästhetische Leben beherrschen« (Windelband, Das Heilige [1902], in:
Windelband, Präludien, Bd. 2, 9. Aufl. 1924, S. 305; Einzelheiten bei Ollig, aaO.,
S. 438 ff.).
234 Siehe Flach/Holzhey, Einführung, in: Flach/Holzhey (Hrsg.), Erkenntnistheorie und
Logik im Neukantianismus, 1979, S. 11; Krijnen, Philosophieren im Schatten des
Nihilismus, in: Krijnen/Orth (Hrsg.), Sinn, Geltung, Wert, 1998, S. 19 f., 22 f., 34 f.
– Für Einzelheiten zur neukantianischen Kopplung von Geltungsgedanke und Kulturphilosophie siehe die Hinw. in § 3 II. >S. 56 ff.<.
235 Rickert, Der Gegenstand der Erkenntnis, 4./5. Aufl. 1921, S. 165; s. schon oben § 3 I
2.a.aa.(1). >S. 41<.
236 Einzelheiten s. Bohlken, Grundlagen einer interkulturellen Ethik, 2002, S. 132 ff.
237 Rickert, Die Heidelberger Tradition und Kants Kritizismus (1934), in: Bast (Hrsg.),
Rickert. Philosophische Aufsätze, S. 390; Hervorh. im Orig.
238 Rickert, Die Heidelberger Tradition und Kants Kritizismus (1934), aaO., S. 390.
239 So ausdrücklich: Rickert, Zwei Wege der Erkenntnistheorie, Kant-Studien 14
(1909), S. 215; Rickert, Der Gegenstand der Erkenntnis, 4./5. Aufl. 1921, S. 166.
Erster Teil
56
scher Vernunft. Die theoretische Vernunft bildet bei Kant die Grundlage für die
Frage nach dem menschlichen Wissen – theoretische Erkenntnis klärt folglich,
»was da ist« (Kant KdrV 1787)240. Die praktische Vernunft dagegen bildet die
Grundlage des menschlichen Handelns, dessen »letzte[r] Zweck (Endzweck) […]
die Sittlichkeit [ist].«241 Praktische Erkenntnis ist daher jene, »dadurch ich mir
vorstelle, was da sein soll«242, und äußert sich durch »Imperativen«243. – Es wird
zu einem späteren Zeitpunkt näher zu untersuchen sein, welchen Status die Begriffe »Imperativ« und »Sollen« im Begründungsprogramm des Südwestdeutschen Neukantianismus einnehmen (hierzu unten § 3 III. >S. 70 ff.<).
II. Kulturaspekt:
Kultur als Vorgabe und Aufgabe des Philosophierens
Ein zweiter Hauptaspekt des Südwestdeutschen Neukantianismus ist der Materialcharakter der Kultur. Darunter ist die These zu verstehen, dass der Südwestdeutsche Neukantianismus – und mit ihm der Neukantianismus überhaupt244 –
auf bestimmte Weise in eine Kulturphilosophie eingebettet ist (hier als „Kulturaspekt“ bezeichnet; Einzelheiten sogleich)245.
240 Kant, KdrV (1781), 2. Aufl. 1787, in: Weischedel (Hrsg.), Bd. 4, S. 557; Hervorh. im
Orig. gesperrt.
241 Kant, Logik (1800), in: Weischedel (Hrsg.), Bd. 6, S. 518. – Zur praktischen Vernunft bei Kant s. Eisler, Kant-Lexikon, 2. Aufl. 1930, S. 577 ff.
242 Kant, KdrV (1781), 2. Aufl. 1787, in: Weischedel (Hrsg.), Bd. 4, S. 557; Hervorh. im
Orig. gesperrt,
243 Kant, Logik (1800), in: Weischedel (Hrsg.), Bd. 6, S. 517 f. – Zum Begriff des Imperativs bei Kant s. Eisler, Kant-Lexikon, 2. Aufl. 1930, S. 267 ff.
244 Der Kulturbegriff wird häufig – zu Unrecht – auf die Südwestdeutsche Schule
reserviert. Auch bei den Marburger Neukantianern zeigen sich Belege der Kulturdimension. Natorp beispielsweise bemerkt pathetisch, dass »gerade unsere Zeit
nach nichts so sehr [verlangt] wie nach einer philosophischen Durchdringung des
Lebens, und darum nach einer Durchdringung der Philosophie selbst mit dem
warmen Lebensblute der nach den höchsten Siegeskränzen ringenden Kulturentfaltung.« (s. Paul Natorp, Kant und die Marburger Schule, in: Kant-Studien 17 [1912],
S. 219). Weit. Hinw. zur Kulturphilosophie der Marburger Schule bei Renz, Die Rationalität der Kultur, 2002.
245 Der Kulturaspekt des Südwestdeutschen Neukantianismus tritt immer stärker in
den Vordergrund. S. hierzu u. a.: Flach, Kants Begriff der Kultur, in: Heinz/Krijnen
(Hrsg.), Kant im Neukantianismus, 2007, S. 9–24; Bohlken, Grundlagen einer
interkulturellen Ethik, 2002; Bohlken, Personale und transpersonale Sittlichkeit, in:
Alexy u. a. (Hrsg.), Neukantianismus und Rechtsphilosophie, 2002, S. 283–299,
insb. S. 289; Sprenger, Die Wertlehre des Badener Neukantianismus, in: Alexy u. a.
(Hrsg.), Neukantianismus und Rechtsphilosophie, 2002, S. 161; Krijnen, Philosophieren im Schatten des Nihilismus, in: Krijnen/Orth (Hrsg.), Sinn, Geltung, Wert,
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References
Zusammenfassung
Die Zeit zwischen 1900 und 1933 gilt vielen als eine Glanzperiode strafrechtlicher Begriffs- und Systembildung, die trotz ihres gewaltsamen Endes bis heute den exzellenten Ruf der deutschen Strafrechtsdogmatik in aller Welt nährt. Ein Garant hierfür war die erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Fundierung, die nach einem Weg zwischen den Klippen des naiven Naturalismus oder Formalismus suchte und sich vor allem mit der Philosophie des Südwestdeutschen Neukantianismus verbindet. Die Zusammenhänge eines „neukantianischen Strafrechtsdenkens“ liegen jedoch noch immer weitgehend im Dunkeln.
Die Arbeit stößt in diese Forschungslücke. Sie beginnt mit der Rekonstruktion des wertphilosophischen Begründungsprogramms des Neukantianismus. Im Mittelpunkt steht die These, dass Wertungen, obwohl sie auf den ersten Blick subjektiv und relativ erscheinen, doch implizit mit einem Anspruch auf objektive und absolute Geltung auftreten.
Die weiteren Ausführungen widmen sich der strafrechtlichen Umsetzung dieser These, wobei nachgewiesen wird, dass sie mit einer tiefgreifenden Transformation verbunden war, welche die gemeinhin behauptete neukantianische Prägung in einem differenzierteren Licht erscheinen lässt.