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Bei der Volksinitiative ist es andersherum. Sie entfaltet keine antizipative Wirkung und auch kaum eine direkte. Von 21 Abstimmungen zwischen 1977 und 2000
wurden drei Initiativen angenommen. Das liegt leicht über der durchschnittlichen
Annahmequote von knapp 10%, ist aber trotzdem niedrig. Die Volksinitiative löst
vielmehr eine reaktive Wirkung aus, indem Themen in die Öffentlichkeit gebracht
werden und der Bundesrat zum Teil Forderungen aus Initiativen aufnimmt.
Die Referenden wirken in der Umweltpolitik also bremsend und somit zugunsten
von Wirtschaft oder anderen Bereichen, die kein Interesse an zu rigiden Umweltvorschriften haben. Die Initiative wirkt zugunsten der Umweltverbände. Sie entspricht
eher dem, was sich viele von der direkten Demokratie versprechen.
Welches Instrument insgesamt die größere Wirkung hat, will Gebhart nicht bewerten (Gebhart 2002, S 161). Somit kann er keine abschließende Beurteilung liefern, ob direkte Demokratie aus Sicht der Umweltverbände hält, was sie verspricht.
In seinem Fazit zeigt er sich jedoch skeptisch: „Insbesondere jedoch die Auswirkungen der Volksinitiative, die hierzulande (in Deutschland, Anm. AC) zu erwarten wären, dürften kaum dem entsprechen, was sich ihre Befürworter davon versprechen.
Vermutlich gerade nicht eine Steigerung, sondern eine Reduktion der Anpassungsund Innovationsfähigkeit, eine Politik der kleinen Schritte wären die Folgen. Insofern fällt die Prognose skeptisch aus: Die große Veränderung in der ‚eintönigen’
Welt der Politik, von der zu Beginn die Rede war, könnte am Ende auch die enttäuschen, die sie betrieben haben“ (Gebhart 2002, S. 182).
5.1.6 Zwischenfazit
Welche Schlüsse lassen diese bereits existierenden Studien für unsere Thesen zu?
Die Studien zur Sozial- und Steuerpolitik liefern starke Belege für die Nebenthesen
N1 und N2. In beiden Policy-Bereichen nutzt die linke Seite des Parteienspektrums
die Initiative stärker, die Rechts-konservativen nutzten das Referendum zur Verhinderung linker Reformvorhaben. Das stützt Nebenthese N1.
Für die Nebenthese N2 liefern vor allem Freitag et al. starke Belege (Freitag et al
2003). Sie stellen fest, dass das Referendum lange Zeit den Ausbau eines starken
Sozialstaats durch höhere Steuern verhindert hat. Der Initiative kann hingegen der
vermutete „Robin-Hood-Effekt“ nicht nachgewiesen werden. Sie hat keine signifikanten Auswirkungen auf die Steuerpolitik. Somit hat das Referendum eine stärkere
Wirkung als die Initiative.
Auch die Nebenthese N3 wird durch die vorgestellten Untersuchungen gestützt.
Helbling und Kriesi weisen nach, dass das Volk bei Einbürgerungen konservativer
entscheidet als Parlamente (Helbling/Kriesi 2004). Auch Gambles Erkenntnisse weisen in diese Richtung (Gamble 1997). Sehr deutlich wird der Unterschied zwischen
Elite und Bevölkerung auch in der Außenpolitik. Widmer bringt es mit dem „Gefälle
in der geistigen Offenheit“ (s.o.) auf den Punkt.
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In den vorgestellten Policy-Bereichen haben die Nebenthesen also Bestand und
weisen damit darauf hin, dass die Hauptthese H gültig ist. Im Folgenden gilt es, die
Thesen losgelöst von bestimmten Politikfeldern zu belegen.
5.2 Richtungswirkung direkter Demokratie allgemein
Verlässt man die einzelnen Policy-Bereiche und versucht die Thesen zu verallgemeinern, ist es nicht mehr so einfach, die konkreten politischen Auswirkungen zu
überprüfen, da es sich um eine Vielzahl von Abstimmungen handelt.
Um uns der These allgemein zu nähern, untersuchen wir in diesem Abschnitt die
Abstimmungen der letzten zehn Jahre nach folgenden Kriterien: Wer nutzt direkte Demokratie? Wer hat welche Abstimmungsparolen herausgegeben? Welche und wessen Abstimmungsparolen wurden befolgt?
Das Wort „wer“ fragt dabei immer nach der politischen Richtung. So können wir
untersuchen, ob „linke“ oder „rechte“ Parteien häufiger von direktdemokratischen
Instrumenten Gebrauch machen, wer welche Parolen ausgibt und ob „linke“ oder
„rechte“ Parolen einen systematischen Vorteil im Abstimmungskampf haben.
In der Thesenbegründung sind wir auf die gegensätzliche Wirkung von Initiativen
und Referenden und auf die unterschiedlichen politischen Grundhaltungen von Elite
und Volk eingegangen, die wir in den Nebenthesen N1 bis N3 zusammengefasst haben. Allen drei Thesen können wir mit den oben gestellten Fragen nachgehen: Nutzt
die „linke“ Seite des Parteienspektrums tatsächlich eher die Initiative und die „rechte“ Seite eher das Referendum? Werden „rechte“ Parolen eher befolgt, da das Volk
allgemein rechts-konservativer ist als die Elite und somit durch „rechte“ Parteien
eher beeinflussbar als durch „linke“? Auch den Status quo Bias können wir überprüfen, indem wir fragen, ob Nein-Parolen gegenüber Ja-Parolen tatsächlich im Vorteil
sind. Der Status quo ist in der Regel eher auf der rechts-konservativen Seite einzuordnen. Wird bestätigt, dass er durch direkte Demokratie systematisch bevorzugt
wird, ist es auch eine Stützung der Hauptthese H.
Den skizzierten Fragen wird anhand von zwei verschiedenen Datensätzen nachgegangen. Der erste ist eine Übersicht über alle Volksentscheide der letzten zwanzig
Jahre, aus der die Initiatoren der jeweiligen Abstimmungen hervorgehen (vgl. Anhang 2 und 3).
Der zweite Datensatz ist aus Individualdatensätzen der Vox-Analysen zusammengestellt (vgl. Anhang 4). Hier wurden alle Parolen von SP und SVP in den letzten zehn Jahren (Dezember 1996-Dezember 2006) zusammengestellt und vermerkt,
wie stark sie von den eigenen Anhängern befolgt wurden. Diese Daten gehen weitgehend aus den Vox-Analysen hervor, die immer die Parteisympathie abfragen. So
ist erkennbar, wie groß der Anteil der Parteianhänger ist, die der Parole ihrer bevorzugten Partei gefolgt ist.
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References
Zusammenfassung
Die seit den 90er Jahren intensiver werdende Diskussion um die Einführung direktdemokratischer Instrumente in der Bundesrepublik schlägt sich auch in einer steigenden Zahl wissenschaftlicher Beiträge zu diesem Thema nieder. Unbeachtet blieb bisher jedoch die Diskrepanz zwischen der deutschen Debatte und der direktdemokratischen Praxis. Die Diskussion in der Bundesrepublik wird vor allem von den linken Parteien geschürt, die Erfahrungen mit direkter Demokratie in der Schweiz und anderen Staaten lassen hingegen eher eine rechts-konservative Wirkung vermuten.
In der vorliegenden Untersuchung werden erstmals Umfragen unter Bundestagsabgeordneten und Schweizer Nationalräten vorgelegt, die aufzeigen, dass es sich um typisch deutsche Konfliktlinien handelt. In der Schweiz stehen die politisch linken Parteien der direkten Demokratie deutlich skeptischer gegenüber als die rechten. In einer empirischen Analyse der Schweizer Volksabstimmungen der letzten 20 Jahre bestätigt sich, dass die bisherigen Erfahrungen mit direkter Demokratie eher auf eine rechts-konservative Wirkung von Volksentscheiden schließen lassen – ein Widerspruch zur Haltung der deutschen Parteien.
Neben diesem innovativen Beitrag zur wissenschaftlichen Debatte bietet das Werk einen aktuellen Überblick über den Forschungsstand zur Wirkung von Volksrechten.