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dem Modell einhergehen. Darüber hinaus wird keine eigene IT-Infrastruktur mehr
benötigt.
C. Ökonomische Eigenschaften von Computerprogrammen
Computerprogramme weisen ökonomische Besonderheiten auf, die beim immaterialgüterrechtlichen Schutz berücksichtigt werden müssen. Dies gilt vor allem in Bezug auf eine wettbewerbs- und freihandelskonforme Ausgestaltung des Schutzes,
vgl. Drittes Kapitel, A.232
I. Computerprogramme als Informationsgüter
Computerprogramme sind Informationsgüter,233 d. h. die gehören zu den Gütern die
„digitalisiert werden können“.234 Sie zeichnen sich durch die in den folgenden Abschnitten beschriebenen Besonderheiten aus.
II. Netzwerkeffekte und Standardisierungstendenzen
Zu den wesentlichen Besonderheiten auf Märkten für Computerprogramme gehören
die starken Netzwerkeffekte auf der Nachfrageseite („demand-side economies of
scale“, „Netzwerkexternalitäten“). Mit ihnen einher gehen ebenso starke Konzentrationstendenzen auf der Angebotsseite des Marktes. Netzwerkeffekte äußern sich in
einem Anstieg des Nutzens des Gutes, je weiter es verbreitet ist. Mit zunehmender
Nutzeranzahl steigt sein Wert für den Einzelnen („positive feedback“).235 Derartige
Netzwerkeffekte sind ein entscheidendes Merkmal digitaler Informationsgüter.236
Die Käuferentscheidung richtet sich bei solchen Produkten nicht nur nach der Qualität der Ware (sog. Basisnutzen237), sondern auch und häufig sogar in erster Linie
232 Vgl. Ullrich, GRUR Int. 1996, 555, insb. 564ff.
233 Wörtlich übersetzt bedeutet Information „in eine Form oder Gestalt bringen“. Diese Bedeutung gilt allerdings nur in der Biologie.
234 Shapiro/Varian, Information rules, 1999, S. 3.
235 „Products for which the utility that a user derives from consumption of the good increases
with the number of other agents consuming the good.” Katz/Shapiro, American Economic
Review 75 (1985), Nr 3, S. 424. Vgl. a. v. Westernhagen, Zugang zu geistigem Eigentum
nach europäischem Kartellrecht, 2006, S. 62.
236 Fichert, Wettbewerbspolitik im digitalen Zeitalter, 2002, S. 2.
237 Mit der Bezeichnung „Basisnutzen“ wird teilweise auch der so genannte Stand-alone-Nutzen
bezeichnet, also der Nutzen, den das Produkt für den Anwender hat, wenn er es als einziger
nutzt, vgl. v. Engelhardt, Die ökonomischen Eigenschaften von Software, 2006, S. 4. Dieser
Alleinstellungsnutzen kann bei bestimmten Computerprogrammen Null betragen, etwa bei
Messengerprogrammen oder Emailclients.
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nach dem oben beschriebenen Netznutzen. Überwiegt dieser nach Vermutung der
Abnehmer den Basisnutzen, kann die Verbraucherentscheidung allein aufgrund der
Erwartung von Netzwerkeffekten bezüglich des ausgewählten Gutes auch für ein
qualitativ inferiores Produkt fallen.238 Mit der Zahl der tatsächlichen steigt also auch
die Zahl der potentiellen Nutzer.239 Dies hat entscheidenden Einfluss auf die Struktur des Marktes, weil es dazu führt, dass der Anbieter des Netzwerkgutes Kunden
anzieht und so seine Marktstellung kontinuierlich und nahezu ohne eigenes Zutun
verbessert.
1. Voraussetzungen und Erscheinungsformen von Netzwerkeffekten
Voraussetzung für das Entstehen von Netzwerkeffekten ist zunächst das Vorliegen
eines Netzwerks, über das die Möglichkeit der Interaktion der Teilnehmer gegeben
ist. Dieses kann entweder physikalischer Natur sein, wie beispielsweise ein Telefonoder ein Stromnetz, oder virtuell, wie das bei Computerprogrammen der Fall ist.240
Es ist zu differenzieren zwischen direkten und indirekten Netzwerkeffekten.
a) Direkte Netzwerkeffekte
Direkte Netzwerkeffekte äußern sich bei Computerprogrammen vor allem darin,
dass sich die Datenaustauschbarkeit für den Einzelnen erhöht, je mehr andere das
gleiche oder ein kompatibles System zu dem ursprünglich verwendeten nutzen.
Wenn solche Effekte durch interoperable Produkte von mehreren Anbietern hervorgerufen werden, sind sie grundsätzlich positiv zu bewerten, nicht jedoch, wenn ein
Anbieter durch Ausschluss seiner Konkurrenten eine überragende Marktstellung
gewinnt. Das Vorhandensein direkter Netzwerkeffekte kann je nach Verwendungszweck des Computerprogramms variieren. Beispielsweise unterliegen Textverarbeitungsprogramme starken direkten Netzwerkeffekten, da der Verwender darauf angewiesen ist, seine Dateien mit anderen Nutzern austauschen zu können, während
zum Beispiel bei Multimediasoftware zum Abspielen von DVDs und Musikdateien
nur geringe direkte Netzwerkeffekte auftreten, da die meisten Speicherformate für
derartige Inhalte mit allen gängigen Programmen abspielbar sind.
238 Vgl. Ehrhardt, Netzwerkeffekte, Standardisierung und Wettbewerbsstrategie, 2001, S. 24, 29.
239 Vgl. United States v. Microsoft Corp., Findings of Fact, District Court of Columbia, 84
F.Supp 2d 9, S. 14 (D.D.C. 1999).
240 Dazu v. Westernhagen, Zugang zu geistigem Eigentum nach europäischem Kartellrecht,
2006, S. 63.
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b) Indirekte Netzwerkeffekte
Indirekte Netzwerkeffekte betreffen demgegenüber das mit zunehmender Netzwerkgröße wachsende Angebot komplementärer Güter und die so genannten „Wissensspillovers“, d. h. Lerneffekte, die sich wegen des erleicherten Erfahrungsaustauschs
bei größerer Nutzermenge ergeben.241
Daneben entstehen indirekte Netzwerkeffekte im Hinblick auf potentielle Konkurrenzprodukte. Die starke Verbreitung eines bestimmten Systems führt zu einem
Anreiz zur Herstellung kompatibler bzw. interoperabler Produkte. Handelt es sich
bei dem bereits verbreiteten Programm beispielsweise um ein Betriebssystem, so
sind andere Hersteller bemüht, Anwendungsprogramme zu schaffen, die mit dem
Betriebssystem interoperabel sind. Dadurch steigt einerseits zwar die Auswahl für
den Anwender, andererseits aber auch der Anreiz, das bereits stark verbreitete Betriebssystem zu kaufen und so die Marktstellung des Anbieters dieses Systems zu
verbessern. Dadurch kann eine konzentrative Spirale entstehen, die sich aus Wettbewerbsaspekten negativ auf die Marktstruktur auswirken kann,242 zumal wenn der
Anbieter des Betriebssystems die Möglichkeit hat, auch die Herstellung interoperabler Anwendungsprogramme zu verhindern.
2. Wirkungen: Konzentrationstendenzen und De-facto-Standards
Netzwerkeffekte führen im Zusammenhang mit den unter 3. beschriebenen Größenvorteilen dazu, dass starke Konzentrationstendenzen entstehen, sobald eine „kritische Masse“ erreicht ist. Aufgrund der bei Computerprogrammen unbegrenzten
Produktionsmöglichkeiten kann das sehr schnell der Fall sein. Hat sich eine bestimmte Anzahl Verbraucher beispielsweise für ein bestimmtes Betriebssystem entschieden, werden die nachfolgenden Käufer aufgrund der erwarteten Netzwerkeffekte das gleiche Produkt kaufen und die meisten Anbieter versuchen, komplementäre
Produkte für dieses System zu entwickeln.243 Der Anbieter eines solchen Systems
wird es daher darauf anlegen, bereits zu Beginn der Markteinführungsphase einen
möglichst hohen Marktanteil zu erlangen, sog. „Tipping“. Dies kann erreicht werden
durch niedrige Einkaufspreise bis hin zu einer unentgeltlichen Abgabe, und durch
Ausschließlichkeitsbindungen.244 In dieser ersten Phase besteht ein starker Wettbe-
241 Ehrhardt, Netzwerkeffekte, Standardisierung und Wettbewerbsstrategie, 2001, S. 27ff.
242 Kommission, Entscheidung vom 24. März 2004 (Case COMP/C-3/37.792 Microsoft), TZ.
516ff. abrufbar unter http://ec.europa.eu/comm/competition/antitrust/cases/ decisions/37792/
en.pdf. Dazu auch v. Westernhagen, Zugang zu geistigem Eigentum nach europäischem Kartellrecht, 2006, S. 64.
243 Fichert, Wettbewerbspolitik im digitalen Zeitalter, 2002, S. 5.
244 Zu möglichen Preisstrategien bei Informationsgütern vgl. Sabel, in: Linde, Markttheoretische
und wettbewerbsstrategische Aspekte beim Management von Informationsgütern, 2007,
S. 200ff.
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werb um den Markt.245 Wettbewerb im Markt kann demgegenüber kaum entstehen,
da sich auch dann, wenn mehrere Anbieter gleichzeitig das gleiche Produkt auf den
Markt bringen, nur einer von ihnen durchsetzt. Netzwerkeffekte stellen insofern eine
Barriere dar, die es Konkurrenten erschwert, in den Markt einzutreten, da es höchst
diffizil und mit hohen Kosten verbunden ist, eine Technologie parallel zu einem bereits bestehenden Netzwerk zu etablieren. Auf diese Weise entstehen schnell defacto-Standards246 und hohe Anreize für den etablierten Anbieter, Marktmacht zu
missbrauchen oder auf andere Weise den Wettbewerb zu beschränken.
Diese Anreize dürfen nicht durch zu kurzsichtig ausgestalteten Immaterialgüterrechtsschutz unterstützt werden.247 Wichtigster Ausgleichsfaktor ist die Möglichkeit
der Herstellung interoperabler Produkte durch Wettbewerber. Davon hängt der Zugang zum Netzwerk und den ihm vor- und nachgelagerten Märkten ab.248
III. Lock-in-Effekte und Wechselschwierigkeiten
Eng mit den Netzwerkeffekten zusammen hängen die sog. Lock-in-Effekte („Einschließungseffekte“) im Softwaresektor. Sie beruhen auf Wechselschwierigkeiten
der Nutzer.249 Lock-in ist eine Situation, in der die entstehenden Kosten eine Änderung der Ist-Situation unwirtschaftlich machen. Sog. Vendor-Lock-in, d. h. die Bindung von Verbrauchern durch hohe Wechselkosten oder andere „künstliche“ Maßnahmen wie etwa Rabattsysteme, ist insbesondere in den Computer- und Elektronikindustrien sehr verbreitet. Mit Hilfe geistiger Eigentumsrechte wird hier versucht,
die Interoperabilität der verschiedenen Komponenten eines Systems, also beispielsweise das Zusammenspiel zwischen Betriebssystem und Anwendungssoftware, zu
behindern.250 Will der Nutzer eines solcherart gebundenen Systems (Netzwerks)
wechseln, so muss er stets seine gesamte Ausrüstung austauschen, was naturgemäß
die Hemmschwelle für einen solchen Wechsel erhöht.
Hinzu kommt, dass es sich bei Computerprogrammen um so genannte „Erfahrungsgüter“ handelt. Der Anwender lernt mit fortschreitender Nutzungsdauer dazu.
245 Kalwey u.a., MICE Economic Research Studies, Bd. 4, 2003, S. 27.
246 Kalwey u.a., MICE Economic Research Studies, Bd. 4, 2003, S. 28.
247 Vgl. zur Wettbewerbskompatibilität von Immaterialgüterrechten insbesondere Drittes Kapitel,
A.
248 Auch aus diesem Grunde darf die Herstellung von Kompatibilität nicht durch übertriebenen
Immaterialgüterrechtsschutz verhindert werden. Das betrifft insbesondere das Problem der
Dekompilierung im Rahmen des Computerurheberrechts, vgl. v. Westernhagen, Zugang zu
geistigem Eigentum nach europäischem Kartellrecht, 2006, S. 67ff.
249 Vgl. dazu Blankart/Knieps, in: Böttcher et al., Ökonomische Systeme und ihre Dynamik,
1992, S. 73.
250 Der aktuelle Urheberrechtsschutz ermöglicht das. Vgl. zuletzt der so genannte „Microsoft-
Fall“, EuG, T-201/04 (Tenor abgedruckt im Abl. Nr. C 269, S. 45f); vorgehend Kommission,
Entscheidung vom 24. März 2004 (Case COMP/C-3/37.792 Microsoft), Tz. 516ff. abrufbar
unter http://ec.europa.eu/comm/competition/antitrust/cases/decisions/37792/en.pdf.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die vorliegende Arbeit will langjährige Missverständnisse und Schwierigkeiten des immaterialgüterrechtlichen Schutzes von Computerprogrammen endgültig ausräumen. Die Betrachtung aus wettbewerbsorientiertem Blickwinkel auf der Grundlage der technischen und ökonomischen Besonderheiten ist – soweit ersichtlich – die erste Untersuchung, die sowohl das Urheber- als auch das Patentrecht einbezieht und dabei eine umfassende Neuregelung vorschlägt.
Dr. Lina Barbara Böcker befasst sich im Rahmen ihrer Tätigkeit am Institut für Wirtschafts-, Wettbewerbs- und Regulierungsrecht an der Freien Universität Berlin in erster Linie mit wettbewerbsrechtlichen Problemen des Immaterialgüterrechtsschutzes und allgemeinem Zivilrecht.