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den. Ein erster Entwurf eines BMF-Schreibens entstand im BMF während des Jahres 2006413 unter dem Projektnamen „Grundsätze für die Prüfung der Einkunftsabgrenzung zwischen nahe stehenden Personen in Fällen grenzüberschreitender
Verlagerungen von Funktionen (Verwaltungsgrundsätze–Funktionsverlagerung)“.414 Der Kurztitel lautete einfach „Verwaltungsgrundsätze Funktionsverlagerung“.415 Er ist bereits damals zumindest dem Bundesverband der Deutschen
Industrie bekannt geworden.416 Zunächst sollte die Besteuerung allein im Rahmen
dieses BMF-Schreibens erfolgen.
Es hat dann offensichtlich jedoch eine Änderung dieser Pläne gegeben und der
Entwurf wurde nicht veröffentlicht. Es wurde dafür beschlossen, zumindest die
Grundlagen der Besteuerung gesetzlich zu regeln und dies im Rahmen des
UntStRG 2008 zu tun. Daran anknüpfend wurde entschieden, die gesetzlichen Bestimmungen zunächst durch eine Rechtsverordnung näher zu bestimmen und in
einem dritten Schritt sodann ein BMF-Schreiben zur umfassenden Erläuterung der
Sicht der Finanzverwaltung zu veröffentlichen. Zum Zeitpunkt der Fertigstellung
dieser Arbeit befindet sich das BMF-Schreiben noch im Entwurfsstadium. Die Finanzverwaltung beabsichtigt jedenfalls, bei der Funktionsverlagerung dieselbe
Trias aus Gesetz, Rechtsverordnung und BMF-Schreiben zu veranlassen bzw. heraus zu geben, die sie bereits beim Thema „Dokumentation von Verrechnungspreisen“ initiiert bzw. vollendet hat, also ein Gesetz mit Verordnungsermächtigung
(dort § 90 III AO, hier § 1 III AStG), eine Rechtsverordnung (dort GAufzV, hier
FVerlV) sowie ein BMF-Schreiben (dort VWG-Verfahren, hier VWG-Funktionsverlagerung).417
III. Fragestellungen
Die neuen Regelungen betreffen dabei sowohl die Tatbestands- als auch die Rechtsfolgenseite. Der § 1 III 9 AStG als entscheidende Norm bringt zwei neue Rechtsbegriffe in das deutsche Steuergesetz, den der „Funktionsverlagerung“ und den des
„Transferpakets“. Der erste Begriff betrifft die Tatbestandsseite, der zweite die
Rechtsfolgenseite. Auf der Tatbestandsseite stellt sich die oben angesprochene
413 Letzter Stand 19.01.2007.
414 Frotscher, FR 2008, 49.
415 Jenzen, NWB 2007, S. 3117 (= Außensteuerrecht Fach 2, S. 9419
416 Welling/Thiemann, FR 2008, 68 als BDI-Vertreter schreiben, er sei „bereits vor dem
Gesetzentwurf in die Öffentlichkeit getragen worden, der in vielen Punkten in der gesetzlichen Regelung sowie dem Rechtsverordnungsentwurf aufgegangen ist“ Er soll laut Kroppen/Rasch/Eigelshoven, IWB 2007, 301 (322) (= F. 3, Gr. 1, 2201 (2222)) auf mehreren Seminaren verteilt worden sein.
417 Über eine Abkürzung ist noch nicht entschieden worden. In dieser Arbeit wird die
Abkürzung VwG-FV mit einem -E als Anhängsel zur Verdeutlichung des Entwurfsstadiums
verwandt.
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Frage, ob eine neue konstitutive Regelung eingeführt wurde, die materiell-rechtlich
eine Neuerung eingeführt hat, oder ob es sich um eine gesetzliche Klarstellung handelt. Falls es sich um konstitutive Regelungen handelt, stellt sich die Frage, was dies
für Sachverhalte vor 2008 bedeutet.
Zu analysieren ist weiterhin die Abgrenzung zu bereits bestehenden Rechtsinstituten. Zu unterscheiden ist dabei die Übertragung von Einzelwirtschaftsgütern, von
Funktionen und von (Teil-)Betrieben. Sodann ist die bisher von der Rechtssprechung verwandte und in der Literatur diskutierte Geschäftschancenlehre im Verhältnis zur Funktionsverlagerung einzuordnen. Zu den betroffenen und abzugrenzenden
Rechtsinstituten gehören auch die Betriebsveräußerung und die Betriebsaufgabe
gem. § 16 EStG sowie die Betriebsverlegung. Des Weiteren ist die Frage der Behandlung von Verlagerungen auf Betriebsstätten zu klären. Dann ist die Abgrenzung
zum Umwandlungssteuerecht vorzunehmen. Schließlich gibt es eine Anzahl von
Einzelfällen, bei denen eine differenzierte Betrachtung in Bezug auf ihre Besteuerung als Funktionsverlagerung vorzunehmen ist.
Auf der Rechtsfolgenseite sind die Neuerungen erheblich weitergehender. Bisher
gilt im deutschen Steuerrecht gem. § 2 BewG und § 6 I EStG der Grundsatz der Einzelbewertung. Allerdings sind die Formulierungen nicht deckungsgleich, denn während § 6 I EStG von der Bewertung einzelner Wirtschaftsgüter spricht, verwendet
§ 2 BewG den Ausdruck „wirtschaftliche Einheit“. Jedenfalls ordnet § 2 III BewG
den Grundsatz der Einzelbewertung in den Fällen an, in denen ein Gesetz wie § 6 I
EStG dies vorschreibt. Dagegen ordnet § 1 III 9 AStG den Grundsatz der Gesamtbewertung an. Dieser soll anhand der Beurteilung des sog. Transferpakets erfolgen.
Was ein Transferpaket ist, ist ebenfalls zu analysieren.
Neben dem Grundsatz der Gesamtbewertung ist zu diskutieren, ob es eine weitere
Neuerung im deutschen Steuerrecht durch die Einführung eines weiteren neuen Begriffs und seiner Folgen gibt, dem des Gewinnpotentials. Es wird in der Literatur behauptet, dass dadurch erstmals die Gewinnerwartungen des verbundenen Unternehmens im Ausland einschließlich der Synergieeffekte und der ausländischen Standortvorteile erfasst und in die inländische Bemessungsgrundlage einbezogen und besteuert werden.418 Außerdem ist das Verhältnis des sog. Geschäfts- oder Firmenwerts und der des Gewinnpotentials gem. § 1 III AStG zu untersuchen. Zu klären ist,
ob dies identische oder unterschiedliche Werte sind. Es stellt sich auch die Frage, ob
es sinnvoll ist, dass der Gesetzgeber diesen neuen Ansatz eingeführt hat, oder ob er
besser den Begriff des Geschäfts- oder Unternehmenswerts hätte definieren sollen,
z.B. in § 6 EStG.
418 Hey, BB 2007, 1303 (1308); Frotscher, FR 2007, 49 (52, 53); Jahndorf, FR 2008, 101 (104).
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Auf jeden Fall ist zu diskutieren, inwieweit die bisherigen Grundsätze des Steuerrechts verändert werden. Dazu gehört auch die Frage, ob der Gesetzgeber diese Änderungen nicht besser einheitlich im Bewertungsgesetz vorgenommen hätte. Das
Verhältnis zwischen Bewertungsgesetz und Außensteuergesetz ist jedenfalls zu klären.
Sodann sind die neuen Reglungen zur Rechtsfolge im Einzelnen zu untersuchen.
Dazu gehören auch die sog. Escape-Klausel des § 1 III 10 AStG, die in zwei Ausnahmefällen doch den Grundsatz der Einzelbewertung erlaubt, sowie die Preisanpassungsregeln in § 1 III 11 u. 12 AStG.
Danach werden die neuen Regelungen mit den Vorschriften zu den Dokumentationspflichten bei Verrechnungspreisvereinbarungen und dem Verfassungsrecht abgeglichen, um dann abschließend die Konformität mit dem Europäischen Steuerrecht
und dem Völkerrecht zu prüfen.
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B. Tatbestand
Bereits auf der Tatbestandsebene sind mehrere der oben aufgeworfenen Fragestellungen zu klären. Sie werden im Folgenden unter den Überschriften Rechtsgrundlagen der Besteuerung (siehe sogleich I.), Tatbestandsvoraussetzungen (II.), Fallgruppen (III.) und Abgrenzungen (IV.) untersucht.
I. Rechtsgrundlagen der Besteuerung
In Bezug auf die Rechtsgrundlagen der Besteuerung von Funktionsverlagerungen
sind zwei Themenkreise zu besprechen. Der erste bezieht sich auf die Frage, welche
Rechtsgrundlage für die steuerliche Behandlung von Funktionsverlagerungen vor
2008 zur Verfügung standen. Der zweite behandelt die Frage, welche Rechtsgrundlagen ab 2008 bestehen.
1. Rechtsgrundlage vor 2008
Vor der Unternehmensteuerreform 2008 kannte das Gesetz den Begriff der Funktionsverlagerung nicht. Es stellt sich daher die Frage, ob bis zum Veranlagungszeitraum 2007 Funktionsverlagerungen nicht besteuert werden durften.
a) Grundsätze
Einigkeit besteht darin, dass es grundsätzlich in der unternehmerischen Befugnis
steht, wie er organisatorisch mit seinem Betrieb umgeht. Dies ist Teil seiner unternehmerischen Freiheit.419 Auch die Rechtssprechung vertritt die Auffassung, dass
das Steuerrecht die Aufgabenzuweisung der Gesellschafter im Grundsatz akzeptieren muss.420 Dies betrifft auch Vorgänge, die bei „Verlagerungen“ betroffen oder als
solche verstanden werden können, wie die Gründung oder die Liquidation von konzernangehörigen Unternehmen oder die Änderung von Risikostrukturen der konzerninternen Liefer- und Leistungsbeziehungen.421 Allerdings besteht ebenfalls
419 Eisele, Funktionenverlagerung, S. 279; Bodenmüller, Funktionsverlagerungen, S. 139;
F/W/B-Baumhoff, AStR, § 1AStG Rz 311 f.; Kuckhoff/Schreiber, IStR 1999, 321 (324);
Blumers, BB 2007, 1757 (1758).
420 BFH-Urteil v. 18.12.1996, I R 26/95, BFH/NV 1997, 232.
421 Borstell, StbJb 2001/02, 201 (222); Kuckhoff/Schreiber, IStR 1999, 321 (324).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Das Thema Funktionsverlagerung ist das Thema des Jahres im Internationalen Steuerrecht. Der deutsche Gesetzgeber hat als erstes Gesetzgebungsorgan weltweit ausdrückliche Regelungen in § 1 Abs. 3 AStG zu diesem umstrittenen Thema erlassen. Die deutsche Finanzverwaltung hat mit Zustimmung des Bundesrats außerdem das Gesetz durch die Funktionsverlagerungsverordnung (FVerlVO) ergänzt. Damit stehen umfassende legislative Regelungen zur Besteuerung dieses umstrittenen Themenbereichs zur Verfügung.
Das Werk analysiert die neuen Regelungen und bezieht zu den einzelnen Themenbereichen ausführlich Stellung. Im ersten Teil werden zunächst die Neuregelungen zur steuerlichen Behandlung von Verrechnungspreisen durch die Unternehmensteuerreform 2008 dargestellt. Dabei wird auch die Vereinbarkeit des § 1 AStG mit dem Europarecht untersucht. Darauf aufbauend werden die Regelungen zur Funktionsverlagerung im zweiten Teil kritisch untersucht und ebenfalls auf ihre Europarechtstauglichkeit analysiert.