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§ 2 Fehlerhafte Mehrheitsbeschlüsse im Bürgerlichen Recht
Die §§ 241 ff. AktG enthalten leges speciales zu den allgemeinen Vorschriften des
BGB über fehlerhafte Rechtsgeschäfte;121 die §§ 125, 134, 138 BGB finden deswegen auf den Hauptversammlungsbeschluss ungeachtet seiner Einordnung als
Rechtsgeschäft keine Anwendung.122 Ohne diesen Befund in Frage zu stellen, soll
im Folgenden untersucht werden, mit welchen Rechtsfolgen die bürgerlichrechtliche
Rechtsgeschäftslehre auf Beschlussfehler antwortet.123 Dies soll als Grundlage dienen für die Untersuchung des speziellen Regelungsregimes, das der deutsche Gesetzgeber für die Aktiengesellschaft ab 1884 geschaffen hat (Darstellung der Entwicklungsgeschichte in § 3). Mit dieser Vorgehensweise verbindet sich die Hoffnung, einen Anschluss des Aktienrechts an die Dogmatik des Bürgerlichen Rechts
herzustellen, um einerseits die Besonderheiten des aktienrechtlichen Beschlussmängelrechts klarer herausarbeiten zu können und andererseits zu klären, inwieweit es
einen Gleichlauf zwischen den bürgerlichrechtlichen und den aktienrechtlichen
Regelungen gibt.
I. Einführung
Nach einem vielfach anzutreffenden Vorverständnis beschränken die §§ 241 ff.
AktG gegenüber den bürgerlichrechtlichen Regeln die Möglichkeit, Beschlussmängel geltend zu machen.124 Dahinter steht die Vorstellung, § 134 BGB führe zur Nichtigkeit jedes rechtswidrigen Beschlusses.125 Auch das BGB trennt indes zwischen
der Rechtswidrigkeit und der Unwirksamkeit eines Rechtsgeschäfts; wie in den
meisten anderen Rechtsgebieten sind fehlerhafte Rechtsakte nicht schlechthin nich-
121 Vgl. etwa Baumbach/Hueck, 13. Aufl. 1968, Vor § 241 Rn. 3; MünchKommAktG/Hüffer
§ 241 Rn. 8; Hüffer, ZGR 2001, 833, 838; Schilling in Großkomm. AktG, 3. Aufl. 1973,
§ 241 Anm. 10; K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 2002, § 15 I 2 a (S. 436);
K. Schmidt/Lutter/Spindler, AktG, § 133 Rn. 2 a.E.; Spindler/Stilz/Willamowski, AktG, 2007,
§ 133 Rn. 2; Spindler/Stilz/Würthwein, AktG, 2007, § 241 Rn. 15; Zöllner in Kölner Komm.
AktG, § 241 Rn. 28.
122 Zur grundsätzlichen Anwendbarkeit der allgemeinen Rechtsgeschäftslehre auf Beschlüsse
oben § 1 I 2, S. 23.
123 Vgl. mit Blick auf GmbH, Verein und Personengesellschaften vor allem Noack, Fehlerhafte
Beschlüsse, 1989, S. 15 ff.; Casper, ZHR 163 (1999) 54, 66 ff.; Koch, Anfechtungsklageerfordernis, 1997, S. 43 ff.; MünchKommBGB/Reuter § 32 Rn. 57; Prior, Vereinsbeschlüsse,
1972, S. 56; Schmitt, Beschlußmängelrecht, 1997, S. 51 ff.; Schröder, GmbHR 1994, 532,
536 f.; M. Schwab, Das Prozeßrecht gesellschaftsinterner Streitigkeiten, 2005, S. 425 f.; vgl.
auch Lemke, Aufsichtsratsbeschluß, 1994, S. 62 ff.
124 Dies klingt etwa an bei BGHZ 104, 66, 70; Becker, Verwaltungskontrolle, 1997, S. 416;
Habersack, Mitgliedschaft, 1996, S. 227; MünchKommAktG/Hüffer § 241 Rn. 69; Zöllner,
Schranken, 1963, S. 381 f.
125 Vgl. Wiedemann, Gesellschaftsrecht II, 2004, S. 323; Däubler, GmbHR 1968, 4;
MünchKommBGB/Ulmer § 709 Rn. 105.
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tig.126 Vielmehr kennt das BGB verschiedene Grade der Unwirksamkeit und lässt
die Nichtigkeit zum Teil erst in der Sekundärstufe nach besonderer Geltendmachung
eintreten.127 Vor allem kennt das bürgerliche Recht seit jeher auch Rechtsverstöße,
die die Wirksamkeit des betroffenen Rechtsgeschäfts unberührt lassen.128
Für die folgende Untersuchung dieses bürgerlichrechtlichen Fehlerfolgenregimes
lassen sich drei Fallgruppen vorab ausscheiden.
• Die §§ 119 ff. BGB, die über § 142 Abs. 1 BGB zur Nichtigkeit eines Rechtsgeschäfts führen, knüpfen an die einzelne Willenserklärung an. Objekt des Anfechtungsrechts im BGB ist folglich nicht der gesamte Beschluss, sondern die
jeweilige Einzelstimme.129 Die Anfechtung wegen Willensmängeln lässt deswegen lediglich die betroffenen Stimmen entfallen und führt zunächst nur zu einer
Veränderung des Abstimmungsergebnisses.130
• Ist schon der rechtsgeschäftliche Tatbestand unvollständig, fehlt also dem Beschluss Antrag, Abstimmung oder zumindest eine tatbestandliche Willenserklärung, entfällt die intendierte rechtsgeschäftliche Wirkung, ohne dass es auf einen Nichtigkeitstatbestand ankäme.131
• Macht das Gesetz den angestrebten Rechtserfolg von der Erfüllung eines mehraktigen Gesamttabestandes abhängig, ist der Beschluss bis zum Eintritt des zusätzlichen Erfordernisses schwebend unwirksam.132 Der Beschluss ist, so der
übliche Sprachgebrauch, in diesen Fällen nicht fehlerhaft; der Gesetzgeber hat
aber den Sachverhalt der alleinigen Entscheidung der Gesellschaftermehrheit
entzogen.
II. § 125 BGB
Nach § 125 Satz 1 BGB führt der Mangel der gesetzlich vorgeschriebenen Form zur
Nichtigkeit des Rechtsgeschäfts. Im Kapitalgesellschaftsrecht ließe sich darunter die
Beurkundungspflicht subsumieren, die § 130 Abs. 1 Satz 1 AktG für sämtliche und
126 Prägnant Gernhuber, Bürgerliches Recht, 3. Aufl. 1991, S. 48; allgemein Bumke, Relative
Rechtswidrigkeit, 2005, S. 202 f.
127 Überblick bei Gernhuber, Bürgerliches Recht, 3. Aufl. 1991, S. 48 f.; vgl. die Einleitung sub
I 1 sowie Beckmann, Nichtigkeit und Personenschutz, 1998, S. 13 ff.; Casper, Heilung, 1998,
S. 33 ff.; C. Schäfer, Die Lehre vom fehlerhaften Verband, 2002, S. 10 ff.
128 Zu den Wurzeln dieser Dogmatik im Römischen Recht Dorn in Historisch-kritischer
Kommentar, §§ 134-137 Rn 4 ff.; Seiler, GS W. Martens, 1987. S. 719, 720 ff.
129 Zur Rechtsnatur von Beschluss und Einzelstimme oben § 1, S. 22 ff., sowie K. Schmidt,
Gesellschaftsrecht, 2002, § 15 I 2 b (S. 437).
130 Vgl. K. Schmidt, ebenda.
131 Zum Beschlusstatbestand bereits oben § 1 II, S. 25; näher zur Rechtsfolge von Mängeln des
Tatbestandes im Aktienrecht unten § 7 I, S. 133 ff.
132 Larenz/Wolf, Allgemeiner Teil, 2004, § 44 Rn. 49; Berg, Schwebend unwirksame Beschlüsse,
1994, S 59 f.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Im deutschen Aktienrecht führt nicht jeder Rechtsverstoß zur Nichtigkeit eines Hauptversammlungsbeschlusses. Regelmäßig soll bei der Verletzung eines Gesetzes oder der Satzung nur die bloße Anfechtbarkeit eintreten. In diesem Fall fehlen dem Beschluss nicht ipso iure die intendierten Rechtswirkungen, vielmehr bedarf es der Geltendmachung durch eine spezielle Klage, die personell und zeitlich eng begrenzt ist.
Trotz der zentralen Stellung dieser Unterscheidung ist die Abgrenzung von Nichtigkeitsmängeln und Anfechtungsmängeln bis heute nicht vollständig geklärt. Im Mittelpunkt des Interesses steht § 241 Nr. 3 AktG, der mit seinem weiten Wortlaut seit seinem Inkrafttreten im AktG 1937 für erhebliche Auslegungsschwierigkeiten sorgt. Ausgehend von der Entstehungsgeschichte und Systematik des aktienrechtlichen Beschlussmängelrechts entwickelt der Band ein besseres Verständnis dieser Vorschrift und ermöglicht dadurch eine klare Abgrenzung von Nichtigkeit und Anfechtbarkeit.
Die Arbeit wurde mit dem Harry Westermann-Preis 2008 ausgezeichnet.